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Fast am Ziel

Aufgaben aufgeben | #7

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Mittwoch, 1. Juni bis Samstag, 11. Juni
So, nun also die ersehnte Zeit der Aufgabenlosigkeit. Die macht ja fast jeden verrückt. Rafał war davon am wenigsten betroffen, weil er den Haushalt führen und kochen musste. Ich, der ich immer schon sehr liederlich, aber recht rezeptfreudig war, redete ihm kaum in die Kochwäsche rein, machte aber allmorgendlich für das Mittagessen Vorschläge, die zu meiner Freude als Weisungen ausgelegt wurden. Außerdem musste Rafał den Wagen in Meran zu Mercedes bringen, weil unterwegs an der hinteren Stoßstange ein Stöpsel für einen nie geplanten Anhänger in irgendeiner Garage abhandengekommen sein soll. Diebstahl mit Fahrerflucht? Jedenfalls stellte sich bei dieser Gelegenheit heraus, dass das Navi auf ‚Fahrten ohne Tunnel‘ programmiert war. So musste ich der Frau im Cockpit Abbitte dafür leisten, dass sie uns über Ungarn statt über den Brenner hatte schicken wollen.

Silke konnte sich von der Aufgabenlosigkeit fast genauso gut befreien wie Rafał, weil sie Mails beantworten, braun werden und schlank bleiben musste. Aber ich! Außer mein Selbstmitleid zu pflegen, gab es, wie die Dinge nun mal liegen, wenig zu tun, zumal ich alle hier in Meran sonst üblichen Therapien wegen meiner seelischen Unausgewogenheit auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Zunächst mal las ich tagelang: über die Phönizier, die Pompadour, die USA. Ich stellte mir die Welt mit Trump, Putin, Marine Le Pen und Beatrix von Storch vor und freute mich schon aufs Totsein.

Doch dann begannen auch meine Pflichten. Als ich noch arbeitete, kannte ich etwa fünfhundert Leute: teils beruflich, teils sexuell. Heute kenne ich immer noch fünfzig Menschen, Tote nicht mitgerechnet, und ein paar von ihnen wollten mich zu meinem Geburtstag besuchen. Das war schmeichelhaft, aber vor allem eine Aufgabe; denn wenn ich etwas besonders schlecht kann, dann ist es, Dinge einfach auf mich zukommen zu lassen. Diese (Un-)Fähigkeit begründete meine Paranoia wie meine Erfolge: Ich sehe die Welle, bevor der Ozean von ihr weiß, und ich habe mich bereits entschieden, ob ich ihr trotzen oder ihr entrinnen will, bevor das Wasser überhaupt darüber nachdenkt, ob es sich kräuseln soll. Natürlich waren die meisten Vorbereitungen schon von Hamburg aus angekräuselt worden, aber damit es nachher auch wirklich ganz spontan wirkt, muss man bis zum letzten Augenblick an jeder Einzelheit feilen. Da mich alle Gäste gut kennen, glaubt mir sowieso keiner, dass nicht jede Sekunde durchgeplant ist, aber alle geben sich erwartungsfroh in ihr Schicksal, also meine Hände.

2 Kommentare zu “Aufgaben aufgeben | #7

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