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Fast am Ziel

Brust oder Flasche | #18

Zunächst mal musste ich ‚alter Hase‘ den beiden Neulingen ja Triest zeigen. Triest ist das Österreichischste, was Italien außerhalb Südtirols zu bieten hat, so viel wusste ich noch, viel mehr auch nicht. Die Häuser sind überwiegend vierstöckig, Ende neunzehntes Jahrhundert, ein bisschen wie Prag, etwas abgeblätterter, aber im Zentrum ist es schön unübersichtlich, ein wirbeliges Durcheinander von Gassen und Menschen. Das ‚Duca D’Aosta‘ war in dem Gewirr nicht auszumachen. War wohl doch nicht so pompös. Parken wie üblich unmöglich. Aber ich fand, Silke und Rafał mussten sich die Stadt erlaufen, anders kenne ich es nicht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

An einem kleinen Platz war Markt. Davor ein freier Behinderten-Parkplatz. Rafał breitete die farbig fotokopierte Vergrößerung meines Behindertenausweises vor der Windschutzscheibe aus, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Polizist in der Venezia Giulia dem Dokument ansah, dass ich damit in Hamburg verbilligt Bus fahren darf. Die Brücke vor dem Markt, also unserem Parkplatz, führte über einen Kanal, der wenig später ins Meer mündete, aber vorher straßauf rechts und straßab links dekorative Häuserzeilen zu bieten hatte. Rechts, direkt am Wasser, lagen einige Cafés, und gleich das erste war das hübscheste. Dahin gingen wir. Silke und Rafał tranken Espresso, ich bat um ein – wenigstens sprudelndes – Mineralwasser, weil ich mich um elf Uhr vor mir selbst nicht traute, schon einen Campari zu bestellen. Dann machten sich Silke und Rafał auf den Weg, ich blieb sitzen. Ein bisschen ärgerte ich mich, dass ich nichts zu lesen dabei hatte. Aber war es nicht sowieso schöner, hier am Samstagvormittag beschaulich zu sitzen und den Menschen bei ihrem Treiben zuzuschauen? Nein. Die Vietnamesin brachte mir ein zweites Mineralwasser, und es störte mich, dass sie Vietnamesin war. Ihr Italienisch war fließender als meins, aber es passte nicht. An meinem ersten Tag auf den Fidschi-Inseln würde ich mir die Kakoda auch nicht gern von einer Thüringerin servieren lassen.

Jenseits des Kanals sah ich Silke und Rafał vorbeigehen. Sie sahen nicht in meine Richtung. Wussten sie gar nicht mehr, dass ich hier saß? Es beruhigte mich, dass ich das Auto im Blick hatte. Ohne mich konnten sie nicht abfahren. Vielleicht hatten sie sich verlaufen und fanden nicht mehr zurück. Eine Stunde würden sie mindestens unterwegs sein. Aber nach einer halben Stunde wurde ich unruhig. Verlassen werden. Ich kann diese Angst nicht loswerden. Mir fallen immer zu viele Gründe ein, warum man mich würde verlassen wollen. Als ich ein Jahr alt war und mein Vater im Gefängnis, gab mich Irene, die noch nicht mit Guntram verheiratet war, zu ihrer erhofften Schwiegermutter nach Schmalkalden, wo sie es sich hübscher für mich vorstellte als im ausgehungerten Berlin. Meine Großmutter konnte Kinder zwar nicht leiden, aber der Bahnwärter hatte vier davon, da kam es auf eins mehr wohl auch nicht an.

Die Mutterbrust hatte ich sowieso verweigert, war also einfach über Flasche zu ernähren (bis heute). So ganz klappte das wohl doch nicht, denn aus dem Bahnwärterhäuschen kamen Hilfeschreie, man möge die Pflegeeltern von diesem Schreihals befreien. Meine Mutter reiste an, um mich zu entsorgen, aber dann hieß es, nun sei ich ruhiger geworden. Ich gehe davon aus, dass Guntram auch aus der Haft heraus über gewisse Gelder verfügte, die es an der Thüringer Schranke leichter machten, mein Gekreische zu ertragen. Meine Großmutter hielt sich heraus aus den Querelen. Sie hatte einen tauben Mann zu Hause rumzusitzen, den sie nicht liebte, und beschränkte sich auf das Wesentliche: Sie ließ mich taufen. Wäre ich beim Bahnwärter unter die Räder gekommen, dann direkt in den Himmel. Inzwischen ist diese Chance wohl vertan.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Im November nutzte alles Geld nichts mehr. Bahnwärters wollten mich los sein. Irene reiste wieder an und nahm mich mit. Die nächsten Wochen in Berlin waren die einzigen, in denen ich zufriedenstellend gegessen habe. Wenn meine Mutter mir den Löffel aus dem Mund nahm, schrie ich. „Die haben dich hungern lassen“, schlussfolgerte sie empört. Aber auch die Nächte schrie ich durch. Mein Vater bekam es zu hören, nachdem er aus der Anstalt entlassen war. Trotzdem heiratete er meine Mutter, nachdem seine erste Frau ihn freigegeben hatte, wobei seine Hinweise an sie, er würde ihre Verstrickungen ins Nazi-Regime aufdecken, ihr die Entscheidung sicher erleichtert hatte. All das erfuhr ich natürlich erst viel später. Weder an die herrlich männliche Faust des Bahnwärters in meinem Gesicht noch an das nasskalte Taufwasser an meiner Stirn kann ich mich erinnern, meine Mutter erzählte mir später den Teil der Geschichte, den sie kannte. Das spricht, finde ich, sehr für ihre Aufrichtigkeit. Auch wie sehr sie sich auf mich gefreut habe, obwohl ihr während der ganzen Schwangerschaft unerträglich schlecht war, hörte ich oft. Dass sie mich während meines Aufenthalts in Schmalkalden vermisst habe, hörte ich nie. Schlimme Zeiten waren das. Es ist wohl so, dass mir damals ein Grundvertrauen verloren ging. Angst ist das erste Gefühl, an das ich mich erinnern kann, und kein anderes Gefühl hat mich so treu begleitet wie die Angst.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Das Wichtigste, was ein intelligenter Mensch zu lernen hat, ist es, seine Angst zu ertragen: Das dauert ein ganzes Leben lang, bis hin zum Sterben, wenn man sich unsinnigerweise vor dem Tod mehr fürchtet als vor einer Narkose. Einfältige haben es da leichter, weil sie gar keine oder so dümmlichen Ängste haben, dass man aufgeschmissen ist mit seiner Verständnisbereitschaft. Dafür ist ihnen ja das Himmelreich sicher, behauptet Jesus in der Bergpredigt; mehr geht nicht, und wer’s glaubt, wird dann selig.

Zu wenig Angst kann zum Tode führen: Da erliegt man im Krieg einem Feind oder auf der Kreuzung einem Mercedes, wobei das christliche Symbol des Kreuzes ja im Verkehr inzwischen weitgehend abgelöst ist vom Kreis, also der Menge aller Punkte einer Ebene, die einen konstanten Abstand zu einem vorgegebenen Punkt dieser Ebene (dem Mittelpunkt) haben; und dabei herrscht im Verkehr das Prinzip: links vor rechts – wer schon drin ist im Kreis, hat Vorrang vor dem, der noch draußen ist, wie in der Politik. Revolutionen sind dazu da, daran etwas zu ändern, um den Regeln zu beweisen, dass sie nicht so ewig gültig sind, wie sie das von sich behaupten.

Ich sah auf den fließenden Verkehr; der Wagen, der neben unserem geparkt stand, fuhr weg, gleich schob sich ein anderer in die Lücke. Wenn jetzt ein Abschleppwagen käme, wäre ich rechtzeitig am Auto, um ihn aufzuhalten? Die Vietnamesin würde mir hinterherschreien, die Carabinieri wären mitleidlos, Silke und Rafał sind überfahren worden oder über alle Berge …

Manchmal, wenn auch nur selten, erreiche ich einen Zustand von Angstlosigkeit, eigentlich ist es wohl eher Wurschtigkeit: „Is doch egal. Was soll schon sein? Dann sterb’ ich eben.“ Herrlich. Diese Unbekümmertheit habe ich nie durch die Religion erfahren (wie auch?), sondern nur durch angesoffene Gleichgültigkeit. Das Erhabene ängstigt nicht weniger als das Niederträchtige – das Unerreichbare und das Abstoßende. Schade, dass Gleichgültigkeit so unwünschbar ist wie ein Leben in Narkose. Zu viel Angst führt zu Stillstand, der diesseits des Todes nicht als Glück definiert ist, sondern wirtschaftlich und kulturell als Vorbote des Untergangs gilt. Also: Angstlos sind bloß fantasielose Tölpel. Der aufgeklärte Demokrat hat Angst zu haben, schon, damit er weiß, ob er gerade gegen Atomkraft, Handelsabkommen oder Überfremdung auf die Straße gehen muss. Zu wenig Angst würde da träge machen. Zu viel Angst ist aber auch nicht gut: Sie verhindert entweder, dass man das Haus verlässt, was die Lebensqualität einschränkt, oder sie führt dazu, dass man Amok läuft und erschossen oder in die Anstalt verbracht wird, was die Lebensqualität ebenfalls einschränkt. Ja, Angst oder nicht Angst, das ist nicht die Frage, sondern die Antwort liegt als Gleichgewichtsproblem zwischen den Polen. Der Schwebezustand, er ist das Maß aller Dinge. Dabei führen eigentlich alle Wege zum Ziel. Man muss nur den Mut haben, sie zu beschreiten. Mit zwanzig an Drogen gestorben, mit neunzig an Ungelebtheit, na ja. Wer die Angst nicht überwindet, erreicht sein Ziel nicht. Gerecht ist: Wer gar keine Angst hat, der hat auch keine lohnenden Ziele. Zweifellose Gläubigkeit ist ein Stumpfsinn, der höchstens Päpsten und anderen Diktatoren gefällt. Mein Ziel ist, keins zu haben. Endlich dieses ständige ‚Hinsteuern auf etwas‘, das mich mein Leben lang verfolgt hat, loszuwerden, wenigstens jetzt.

Teil des Altseins, also meines Altseins, ist es, immer wieder nachzuhaken: Wenn ich im Sommer 1975 gestorben wäre, hätte ich Roland nicht kennengelernt. Wenn ich im Sommer 1989 gestorben wäre, hätte ich den Fall der Mauer nicht mehr erlebt. Meinen Schlaganfall hätte ich nicht bekommen, wenn mich im September 2010 schon ein Panzer überrollt hätte, weil ich, wie das so meine Art ist, wieder mal in einem Krisengebiet nach dem Sinn des Lebens geforscht habe, der in meinem eigenen Garten – viel zu egoistisch und zu botanisch – nicht zu finden wäre. Im Alter wird man, besonders wenn man nicht töricht ist, einsamer; und damit stellt sich die Frage: Will man seine Einsamkeit teilen, mitteilen oder ausleben?

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich habe nach reiflicher Überlegung meinen Entschluss für mein eigenes Dasein gefasst. Ich mache alles drei: teilen, wenn ich nun den Gefährten meines Alterns vorprogrammierte Ortswechsel aufzwinge; mitteilen durch dieses Schreiben; und ausleben nachts, wenn ich nicht darüber hinwegkommen kann, was alles nicht mehr geht. Ja, jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt: Altsein.

Als Kind war ich unsterblich und hatte anschließend das ewige Leben in petto, doch nun, wo das so viel dringlicher wäre, ist mir die Ewigkeit abhanden gekommen: Kein individueller Fortbestand meines unsteten Charakters blüht mir, wenn sich mein Leib dereinst zu den Radieschen verabschiedet haben wird. Das ist meine Ansicht, die ich ja schlecht ‚Glaube‘ nennen kann.

Mühsam zwang ich mich, nicht immer wieder auf die Uhr zu starren. Solch eine Situation kommt auf der ganzen Reise nicht mehr vor, beschwichtigte ich mich. Die beiden werden dann unterwegs sein, und ich sitze in aller Ruhe im Hotel. Das wird ganz entspannt. Nur heute, jetzt, hier ist es etwas unbehaglich. Still sitzen. Ein erbärmlicher Zustand. Ach wo! Es ist so wunderschön, wenn es zu spät ist für alles: Ich kann von einem makellosen Körper, dem Oscar und dem Nobelpreis träumen, ohne die geringste Anstrengung machen zu müssen, je etwas davon zu erreichen. Vor 30, 20, 10 Jahren hätten solche Träume mich noch geärgert, weil sie meinen Ehrgeiz angestachelt hätten. Jetzt sind sie wie Schlieren auf der Windschutzscheibe, und es gibt keinen Anlass, die Scheibenwischer zu betätigen. Ich wollte gewandt, durchtrainiert, einfühlsam und bedeutend werden. Und was bin ich geworden? Begütert – materiell zumindest. Das finde ich, wenn die Träume nicht in Erfüllung gehen, einen angemessenen Schadenersatz.

Silke und Rafal kamen zurück. Baudenkmäler hatten sie nicht gefunden, aber dafür umso mehr Boutiquen. Und in denen war sogar das Passende gewesen. Ihre Übereinstimmung freut mich, schon, weil sie mir das Leben erleichtert. So will ich es haben. Ist man glücklich, wenn man sich vormacht, dass man glücklich ist? Vielleicht sollte es wirklich ein Ziel sein, keins zu haben. Aber das muss sehr planmäßig angesteuert werden, sonst verwahrlost man – oder es klappt nicht.

Nachdem Triest von uns erobert worden war, wollten wir es verlassen. Das führte uns, nachdem auch die Zitadelle begutachtet worden war, durch sehr enge Straßen – erst sehr rauf und dann sehr runter in eine sehr lange Unterführung. Wäre es der Navifrau immer noch verboten gewesen, Tunnel zu benutzen, wäre sie unter der Motorhaube schreiend zusammengebrochen.

So aber kamen wir doch nach Muggia, das uns aber nicht weiter interessierte, weil das ‚Risorta‘ geschlossen hatte. Das war etwas ungerecht von uns, denn ein ganz so erbärmliches Kaff ist Muggia nun auch wieder nicht:

Während der Eroberungskriege Istriens fiel Muggia 181 (aber vor Christus!) an die Römer, die dort ihr Lager Castrum Muglae gründeten. Doch nichts hält ewig: Nach dem Ende des Weströmischen Reichs kam Muggia unter die Herrschaft der Goten, später der Langobarden, der Avaren und der Franken. 931 wurde Muggia von den Königen Italiens dem Patriarchat Aquileia übergeben. 1420 kam die Stadt unter die Herrschaft der Republik Venedig. Nach Napoleons Niederlage ging ja, wie besprochen, alles in der Gegend an Österreich, was gar nicht so schlecht war. In Muggia entwickelte sich eine prosperierende Werftindustrie, die größte Schiffswerft der K.-u.-k.-Monarchie, die bis 1912 als einzige in der Lage war, die größten Schlachtschiffe zu bauen.

Wie es mit Österreich weiterging, wissen wir ja schon, und Muggia bekam seine Lage unmittelbar am Eisernen Vorhang auch nicht gut. Aber jetzt, wo es wieder so mitten in Europa liegt wie der Leipziger Platz in Berlin – wieso macht da das ‚Risorta‘ zu: ‚dauerhaft‘, wie man mit WLAN-Anschluss hätte erfahren können. Familienstreitigkeiten wahrscheinlich: Die Mutter war am Herd tot zusammengebrochen, den kellnernden Sohn drängte es an die Töpfe, aber sein einkaufender Bruder wollte nicht bedienen, oder so, jedenfalls fuhren wir weiter, die Küste entlang, und wenig später erreichten wir Slowenien: Ein blaues Schild mit zwölf gelben Sternen – das war’s.

Foto: Roman Babakin/Shutterstock

All diejenigen, die so jung sind, dass sie die europäischen Grenzkontrollen nicht mehr miterlebt haben, können sich kaum noch vorstellen, wie mühsam es früher war, von einem Land zum anderen zu reisen, und denjenigen, die es erlebt haben und die durch ihr politisches Verhalten diese Errungenschaft aufs Spiel setzen, denen ist es egal: Sie bleiben sowieso da, wo sie hingehören – in ihrem Reihenhäuschen; und wenn sie doch all-inclusive an den bulgarischen Goldstrand fliegen, sind sie Zollkontrollen gewohnt und verstecken den Schnaps in der vollgesudelten Unterwäsche. Sigmar Gabriel nennt sie ‚Pack‘, was nicht besonders sozialdemokratisch klingt. Gern würde ich, der wohl kein Sozialdemokrat ist, glauben, dass die Menschen immer besser werden. Schade bloß, dass gerade dort so viele nachwachsen, wo ich die Moralvorstellungen von der Beschneidung bis zur Steinigung nicht teile.

1 Kommentar zu “Brust oder Flasche | #18

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