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Fast am Ziel

Margherita heiratet schon wieder | #76

Auch bei unserem knappen Mittagsmahl setzte sich Silke wohltuend von den Bademäntlern ab, obwohl sie sich nicht hatte umziehen können, sondern noch Reisekleidung trug, während ich bereits die Annehmlichkeiten eines eigenen Hotelzimmers hatte auskosten dürfen. Bademäntel am Esstisch findet Silke rücksichtslos gegenüber Gästen in Rock und Bluse und in einem Hotel dieser Kategorie eigentlich nicht hinnehmbar. Seh ich ein. Aus der langgestreckten ‚piscina‘ drangen würzige Schwaden an unseren Tisch, beeinträchtigten aber den Geschmack der Speisen kaum. Nach wenigen Minuten nimmt man den Schwefel wie eine Zutat wahr, ohne die der Luftstrom fade röche, jedenfalls mir geht es so. Für Silke kann ich mich da ausnahmsweise nicht verbürgen. Sie und ich verbrachten den Nachmittag auf dem Hotelgelände; Rafał zog es wie immer in die Ferne, genauer: in den Ort Saturnia, der auf einer Anhöhe oberhalb des Zusammenflusses von Albegna und Stellata liegt: malerisch und unverdorben, das sieht man schon von unten.

Aber schwer getäuscht. Saturnia ist nicht nichts. Sie gilt als die erste etruskische Stadt Italiens. Vor den Etruskern siedelten hier schon die Villanova, von denen man kaum mehr kennt als ihre Friedhöfe. Reicht doch eigentlich bei Ausgestorbenen. 200 vor Christus waren bereits die Römer dort, wie Teile der Stadtmauern belegten. Erstmals schriftlich erwähnt wurde der Ort 1188 in einem Dokument von Papst Clemens III., und ab da ging es rund: Therme und Rocca (Felsen) gelangten – wie auch immer – in den Besitz der Aldobrandeschi, das war 1216, und die Aldobrandeschi waren damals mächtig, zumindest in ihrer Gegend, was aber weder Siena noch Orvieto gefiel. Beide versuchten, den Ort einzunehmen: Siena 1221, Orvieto 1251. Gelang nicht, aber die Leute aus Siena zerstörten Saturnia 1299 ziemlich, weil die Sienesen wie verrückt nach Margherita Aldobrandeschi suchten, sie aber nicht fanden.

Bild: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Margherita heiratete fünfmal, dreimal weniger als Liz Taylor, aber für damalige Verhältnisse ganz flott; der Papst kam kaum noch nach mit dem Annullieren ihrer Ehen. Wie hieß die Langnamige wohl mit den zusätzlichen Namen aller ihrer Ehegemahle? Sabine Leutheusser-Schnarrenberger könnte einpacken. Vier Jahre später hatten die Orvietani das Sagen in Saturnia, 1328 übernahmen die Baschi aus Montemerano und danach die Orsini aus Pitigliano das allseits begehrte Städtchen, das 1410 dann doch von Siena erobert wurde. Dann kam Saturnia – wie auch immer – zu den Medici, die den Ort 1593 an die Markgrafen Ximenes vermachten. Die Familie der Panciatichi regierten von 1738 bis 1751. Bald darauf, 1787, wurde Saturnia Ortsteil von Manciano. Reicht es? Junge, Junge, auf so eine Geschichte könnte Berlin stolz sein.

Wie viel Rafał auf seinem Ausflug davon mitbekam, bleibt im Ungewissen. Viel sensationeller: Er brachte mir einen ‚Spiegel‘ mit, sogar den neuesten. Das kam mir fast so vor, als hätte er auf einem Basar in Teheran ‚Die fröhliche Reblaus‘, Fachzeitschrift der Winzerinnung, entdeckt.

Ich las in der Titelgeschichte, dass das Smartphone die Familie zerstöre. Das geht mich nichts an, ich habe keine mehr, und mein eigenes Smartphone liegt so unbeachtet in der Ecke wie die Gattin Friedrichs des Großen. Ich könnte mein Handy glatt Elisabeth Christine von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern nennen. Außerdem las ich, dass sich nun auch führende Republikaner von Trump abwendeten, weil er einfach zu schrecklich sei.

Hier in der luxuriösen Abgeschiedenheit kann einem die Welt gleichgültig werden. Was soll ich mich über Dinge aufregen, die ich nicht ändern kann, wenn nachher doch alles anders kommt? Soll doch Großbritannien Europa verlassen, Trump in Amerika gewählt werden und Marine Le Pen in Frankreich. Geschichte ist unberechenbar, das macht sie richtig spannend. Die DDR, zum Beispiel, hoffte so sehr, das kleine Westberlin irgendwann endlich zu schlucken. Aber nein, Westberlin hat die große DDR geschluckt und in deren Zentrum nach Jahren des Stillstands – mehr oder weniger erfolgreich – wieder eine Stadtmitte aufgebaut. Lustig, was? Andererseits, wenn ich mich über nichts mehr aufrege, muss ich sehr ernsthaft prüfen, ob ich noch am Leben bin, und da ich mein Aufregungspotenzial nicht über Gay Romeo oder Bademäntel am Mittagstisch aktivieren kann, bleiben mir wohl doch wieder nur Politik, Religion und Gesellschaft.

Das, wohinein man sich gegen neunzehn Uhr an der Poolbar niederließ, war eine eigentümliche Kreuzung aus Liege- und Sitzgelegenheit, in der ich mir etwas vertrottelt vorkam, aber meinen Körper empfinde ich sowieso als grotesk, da macht das Rumgehangel nicht viel Unterschied. Silke bewahrt in jeder Stellung Haltung, und Rafał fühlt sich vom Stillsitzen ohnehin bloß beeinträchtigt. Am Mittag hatte er an der Rezeption fast einen Schwächeanfall erlitten, knapp vor der Ohnmacht, so war es ihm vorgekommen. Als Fachmann für solche Zustände hatte ich ihn zu einem Fernet Branca überredet, der zu Rafałs größter Überraschung seine ausgleichende Wirkung sofort entfaltete. Bei mir hilft ja erst der dritte: Dann geniere ich mich nicht mehr so vor dem Kellner, weil ich nur die Hälfte von meinem Teller weggegessen habe, und ich rede mir ein, dass dem Personal ganz egal sei, wie es mir geschmeckt hat, solange das Trinkgeld stimmt.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Nach dem Abendessen blieb für uns drei nichts als ein geselliges Beisammensein, ein Blick, ein Wort, ein Schluck, bis wir uns entschlossen, dem Schwefel Lebewohl zu sagen und auf unsere Zimmer gingen. Dort empfing er uns schon wieder fürsorglich und erinnerte im geschlossenen Raum mehr noch als im Freien an Ausdünstungen des Magen-Darm-Traktes. Einschläfernde toskanische Blähungen. Der Pups Gottes.

3 Kommentare zu “Margherita heiratet schon wieder | #76

  1. Ich sag‘ mir immer: Wenn ich mich über nichts mehr aufrege, bin ich entweder tot oder mich kümmert alles um mich herum nicht mehr. Die Aufregung ist mir da das kleinste übel. Ignoranz und Gleichgültigkeit sind die wirklichen Aufreger.

  2. Geschichte ist tatsächlich unberechenbar. Ob ich dem ganzen verrückten Geschehen mit Spannung oder mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend zuschaue wechselt sich mit guter Regelmäßigkeit ab. Trump hätte ich niemals für möglich gehalten. Vielleicht bin ich einfach zu naiv. Hoffen wir auf ein besseres Ergebnis in Frankreich. Fingers crossed.

    1. Es kommt ja immer darauf an über was und wann man sich aufregt. Den Brexit hätte man nämlich sehr wohl ändern bzw. verhindern können. Die Wahl Donald Trumps auch. Hätten die ‚Never Hillary‘ Protestwähler und die ‚Ist-doch-eh-alles-dasselbe‘ Wähler ihre Stimme abgegeben wäre Trump nicht Präsident. Man muss sich halt informieren. Und am besten sein Umfeld gleich mit. Und sich einmischen. Und wählen. Dann ändern sich Dinge auch. Und wenn dann tatsächlich alles anders kommt, dann gebe ich Ihnen recht Herr Rinke. Dann muss man sich nicht aufregen, sondern die Dinge akzeptieren und nach vorne schauen.

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