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1808
Fast am Ziel

Kröte, Gaul und Sushi | #5

Foto links: clearlens/Shutterstock | Foto rechts: 360b/Shutterstock

Freitag, 27. Mai
Am nächsten Morgen war das Wetter nicht mehr ganz so gut, und während Rafał unser Gepäck aus den Zimmern holte – im Unterschied zu Grandhotels gibt es in ‚Romantik-­Hotels‘ stimmungsvollerweise keine Gepäckträger –, beschwerten sich zwei Autofahrer, dass sie nicht an unserem vor der Eingangstür wartenden Mercedes vorbei kämen. Rafał wurde zum ersten Mal ungehalten und wies die zeternden Franken darauf hin, dass er vor dem Hoteleingang richtig stand, verkehrt stand das Auto daneben, am Dorfbrunnen. Wohl wahr, vorbei kam trotzdem niemand.

Der Regen hörte zwei Stunden später auf, allerdings nur, weil wir aufhörten, in Franken zu sein. In der ‚Tagesschau‘ wurde noch tagelang von Überschwemmungen berichtet. Weil aber das Wetter in Oberbayern so schön war, drängte es mich, an München nicht einfach vorbeizufahren. Bei gleißendem Sonnenlicht den Englischen Garten zu sehen, die Maximilianstraße, die Isar – aus dem Autofenster, meine Welt, meine untergegangene Welt, die Achtzigerjahre. So wie sie heute abfällig geschildert werden, habe ich sie nie erlebt. Ich nahm mit Bernstein in München Mozart-Messen auf, schlief im ‚Vier Jahreszeiten‘ oder bei Kneipen-Bekanntschaften und hatte nicht eine Sekunde lang Angst vor Atomkriegen oder -kraftwerken. Im Gegenteil: Ich verachtete diese ganzen demonstrierenden Weltverschlechterer und bin noch heute davon überzeugt, dass die Berliner Mauer nicht fiel, weil beherzte Leipziger auf die Straße gingen (Panzer wären stärker als Menschen gewesen), sondern weil Reagan die Sowjetunion totgerüstet hat.

Foto: Privatarchiv H. R.

Goethe lässt Mephisto realistischer sein, als ich die Friedensbewegung einschätzte, wenn er ihm in den Mund legt, er sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“. War es nun anrührend, bitter oder belanglos, an diesen Schauplätzen meiner Glanzzeit vorbeizurauschen? Ich wusste es nicht. Um halb zwei, genau nach Plan, waren wir bei ‚Bachmair an der Weissach‘. Das erste Mal war ich dort 1956 gewesen, in den Sommerferien mit meiner Mutter am Tegernsee. Im April war ich aufs Gymnasium gekommen: reine Jungenklasse, Pauker mit Vorkriegsgesinnung. Aus mir war plötzlich ein schlechter Schüler geworden. Ich war sicher, ich würde sitzen bleiben und schämte mich schon im Voraus. Die Nordsee in den Jahren zuvor hatte ich nicht gemocht, aber der wolkenverhangene See mit den flachen Bergen machte mich auch nicht glücklich. Um die Langeweile zu unterbrechen, ging meine Mutter an einem Nachmittag mit mir in einen Zeichentrickfilm. Da sang eine der Figuren: „Humdadi, humdada, Hunger ist der beste Koch.“ Es ist doch wohl bezeichnend, dass ich diese Zeile nie vergessen habe. Wie oft habe ich seither vor erlesenen Köstlichkeiten gesessen und mich nach dem Koch ‚Hunger‘ gesehnt. Die grantige Wirtin unserer Pension behandelte uns schlecht, was meiner Mutter mehr als mir auffiel. Als dann aber mein Vater mit Chauffeur eintraf, war sie wie verwandelt, was meiner Mutter erst recht auffiel. Mein Vater blieb zwei Tage, an einem davon entflohen wir der „Kröte“, wie meine Mutter sie nannte, und aßen bei ‚Bachmair an der Weissach‘.

1962 und 1963 waren meine Mutter und ich wieder am Tegernsee. Dieses Mal sollte ich auf dem Margaretenhof Reiten lernen. So richtig klappte das nicht, und was ich besonders demütigend fand, war, dass mir ‚Alpensohn‘, der lahmste Gaul im Stall, als ich ihn satteln wollte, gegen die Kniescheibe trat. Daraufhin konnte ich tagelang nicht nur nicht reiten, sondern auch nicht laufen. Als mein Vater mit neuem Chauffeur kam, um uns abzuholen, schaffte ich aber die Strecke vom Parkplatz bis zur Wirtshaustür von ‚Bachmair an der Weissach‘ problemlos.

Foto: Privatarchiv H. R.

1979 auf dem Weg von Othmarschen zum Peloponnes war am ersten Tag ein Mittagessen an der Weissach selbstverständlich. Dafür hatten Roland und ich schon um halb fünf unser Bett verlassen, und Harald stieg als Dritter im Bunde um fünf Uhr dazu und bei ‚Bachmair‘ als Erster wieder aus. (Er hatte am Steuer gesessen.) Danach waren meine Eltern und ich bis in die späten Neunzigerjahre immer wieder in dem Lokal, meistens auf dem Rückweg aus Meran. Wir aßen Schweinsbraten in der Bierkruste und hinterher Salzburger Nockerln. Dann war die Welt irgendwie in Ordnung, selbst, wenn sie es nicht war. Mein Hang zur Tradition hat dazu geführt, dass wir inzwischen wieder bei ‚Bachmair an der Weissach‘ einen Zwischenstopp einlegen. Silke ist die Gaststube längst vertraut, und selbst Rafał kennt sie schon. Aus unserem Landgasthof von 1956 ist allerdings inzwischen „Kulinarik vom Feinsten“ geworden, und mein Vater hätte sich über seiner Bierkruste bestimmt gewundert, was einige Jahre später nebenan los sein würde: „Die Vielfalt moderner japanischer Küche wird live im neuen Show-Cooking-Bereich der MIZU Sushi-Bar präsentiert.“

Wir blieben beim Bayerischen und fuhren über Kreuth an den Achensee. Die Navifrau führte uns recht seltsam, irgendwann erreichten wir eine kostenpflichtige Straße, die in ein hochalpines Naturschutzgebiet führte und sonst nirgendwohin. Wir schalteten die Lügnerin ab und kamen ohne sie problemlos auf den Brenner. In Südtirol gaben wir ihr noch eine Chance, die sie nicht nutzte. Sie log, es seien noch 430 km bis Meran und würde sechs Stunden dauern. Wir stopften ihr das freche Maul und erreichten unser zweites Zuhause problemlos in einer Stunde.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Dann also wochenlang wieder das angenehme Haus, wir nennen es ‚Villa‘, für Rafał und mich, für Silke die Wohnung im Nebenhaus, die Gärten sind durch ein immer offenes Tor verbunden, wir durch unsere Seelen und unsere Telefone. Am meisten bedeutet mir der Blick aus dem Fenster, vor dem ich im ersten Stock an einer roh behauenen Holzplatte schreibe. Da, wo bis zum vorletzten Jahr zwischen Zypressen links und Magnolienbäumen rechts, hinter der Palme in meinem Garten die beiden Pinien standen, erhebt sich nun ein weißes, gar nicht so schlimmes und auch gar nicht so hohes, schlohweißes bauhausartiges Gebäude für zwei Personen, die dermaßen gute Beziehungen haben, dass ihnen das Bauen in dieser geschützten Gegend gestattet wurde. Die beiden herrlichen Pinien sollen sie so lange mit Benzin gedüngt haben, bis sie eingingen und es angeblich niemandem leidtat, sie zu fällen. Ich zumindest hätte mich sehr viel wohler gefühlt, wenn man die Grundstückseigner vorher an die Stämme genagelt und zu Tode gefoltert hätte, bevor man die Bäume fällt. Na, zu spät, jedenfalls fand ich es mit den Pinien hübscher.

3 Kommentare zu “Kröte, Gaul und Sushi | #5

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