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0610
06 – Ein Eremit

Panik | 02

Einige hatten die Schlafsäcke schon zusammengerollt. Die Stelle im Park, die wir uns als Quartier beschlagnahmt hatten, sah ziemlich wüst aus. Umweltbewusstsein findet mehr im Kopf statt. Das darf man nicht so eng sehen wie die Spießer, für die man Papierkörbe in die Landschaft gerammt hat. Ein Mädchen im langen Rock, die Einzige ohne Jeans, sammelte Papier und Blechdosen zusammen. Also doch.
––„Ich komm’ nicht mit“, sagte ich.
––„Warum nicht? Was willst du denn machen?“
––„Ich weiß nicht. Ich muss mal allein sein.“
––„Stinken wir dir?“
––„Hast du was Besseres?“
––„Du hast doch nicht Heimweh?“
––„Willst du etwa nicht mit auf die Loveparade?“
––„Doch, klar. Dann sehen wir uns ja da.“
––„Einer unter hunderttausend, zu erkennen an seinem Heiligenschein.“
––„Na ja, sonst eben am Abend. Hier.“
––„Grandhotel Friedrichshain.“
Legal, illegal, scheißegal. Lachen und die erste Zigarette.
Aufbruch unter den Eichen. Weg, bevor die Polizei kommt. Oder die Jogger, die sind ja noch schlimmer.
Ich ging in die Knie und halste mir meinen Rucksack auf. Wir trotteten noch ein Stück zusammen, dann trennte ich mich von den anderen, ich lief zum Alexanderplatz (Alex) und fuhr mit der S-Bahn zum Zoologischen Garten (Zoo). Ich verstaute meinen Rucksack in einem Schließfach und war frei. Keine Bürde, keine Genossen, kein Geld. Ohne Plan fuhr ich zurück zum Alexanderplatz. – Am Ausgangspunkt. Ich stand mitten in der Bahnhofshalle.

Es war acht Uhr morgens. Wenige Menschen kamen aus unterschiedlichen Richtungen und gingen in unterschiedliche Richtungen. Eine geschäftige, zielsichere Bewegung, an der ich keinen Anteil hatte. Der Zeitungsstand, der Lebensmittelstand. Gruppen von Menschen, die wussten, wohin sie fahren wollten, wann ihr Zug ging, ihr Anschluss.
Und plötzlich stand ich da und wusste nicht weiter. Vor mir dehnte sich endlos der Tag, uferlos, beängstigend. Keine Einteilung in Essen, Arbeiten, Essen, Arbeiten, Essen, Feierabend. Kein Durcharbeiten, kein Durchfaulenzen. Keine Verantwortung, der man sich durch Verantwortungslosigkeit entziehen konnte. Keine Aufgabe, keine noch so geringe, der zu stellen sich lohnte.
Eine nagende Unruhe befiel mich. Es war nur ein vages Gefühl von Hoffnungslosigkeit in diesem Mischmasch aus Menschen, doch es wuchs an und wurde furchterregend, eine Bedrohung. Ich muss mich um etwas kümmern. Geld zum Beispiel. Ich wühlte in meinen Taschen. Eine sinnlose Beschäftigung. Ich wusste, dass ich noch vierundsiebzig Mark fünfundsechzig hatte. Das Zählen änderte nichts, auch nicht an meinem Zustand.
Platzangst unter so vielen Menschen, unter dem Eisendach dieser mächtigen Halle. Einsturzgefahr: meiner Beherrschung, meiner Welt.
Ich lief hinaus auf die Straße: Draußen schoss der Verkehr vorbei. Lastwagen, Busse, Taxen. Zum Vergnügen, zur Tätigkeit. Ein knatterndes Sausen in beide Richtungen, von den Ampeln in regelmäßige Stücke zerhackt. Stocken, Stauen, ein neuer Anlauf, aufheulend, vorpreschend. Fußgänger: Stoßtrupps zwischen Autos, die durch Feindesland zum nächsten Gehweg überwechseln. Ein blickloses Gerenne und Gerempel. Kurz vor zehn.

In Gesichter sehen, Menschen nicht als Masse empfinden, das ist sonst so halsabschnürend. Die Bewegung anhalten oder ihr entfliehen. Ich spürte mein Herz, meine Beine, meinen Kopf. Ein bedrohliches Gefühl, da zu sein und nicht zu wissen, wofür. Nicht rumstehen können, auch nicht rumsitzen oder rumgehen oder rumliegen können. Nichts können. Diese bohrende Unruhe.

Ich ging durch die Unterführung, sah die Werbeplakate, Citizen-Uhren, Jesus-Jeans, die Schaufenster, die Frauen, die Männer. Nichts konnte meinen Herzschlag dämpfen. Die Schritte trugen mich einfach weiter. Die Rolltreppe schob mich auf die Straße und lieferte mich an der Fußgängerzone ab.
Die Geschäfte waren schon geöffnet, aber die Schaufenster noch leblos. Eine aufgelockerte Öde aus genormten Pflastersteinen, genormten Blumenkästen mit einheitlich Buntem, genormte Kugellampen aus Rauchglas auf dekorativen Eisenelementen. Genormte Sitzbänke, leer, Vitrinen eingestreut, voll. In regelmäßigen Abständen ein frisch gepflanzter Baum, trostlos klein und dürr. Zu beiden Seiten die Glasfront der Schaufenster, beides abweisend: Schmutz und Blicke.

Gegen elf würde das anders werden. Da würde hier eine Art von Lebendigkeit entstehen. Die Waren in den Schaufenstern und Vitrinen würden aufblühen, weil sie angestrahlt und angesehen werden. Menschen würden kommen und kaufen. Kramen und kauen. An den Würstchenstand gelehnt, redend. In Körben mit Billigangeboten vor den Ladentüren wühlen. Normalität. Deren Normalität.
Dann würden auch sie wieder da sein, ihre Tücher auf den Boden breiten und sich auf Klappstühle setzen oder auf die Einfassung des Brunnens, und sie würden die Waren auslegen – geflochtene Schmuckstücke, Holzfiguren, Zeichnungen: armselige Karikaturen und unähnliche Scherenschnitte. Ein paar würden mit bunter Kreide die Gehwegplatten zumalen. Passanten machen ehrfürchtige Bögen, aber nicht unbedingt eine Mark locker, und einige würden Instrumente spielen: Mundharmonika, Banjo, Geige. Singen und den Hut rumreichen. Auf dem Bahnsteig die Obdachlosenzeitung verkaufen, auf dem Strich sich selbst. Eine Aufgabe, ein Ziel.

Warum bin ich nicht wie sie und werde nie so sein, obwohl ich alles versucht habe? Alles! Alles? – Egal. Wichtig ist nur, diese fiebrige Unruhe loszuwerden, dieses grauenhafte, zuckende Stoßen im Leib, diesen zappelnden Fisch im Netz – was für einen Fisch, was für ein Netz? –, mein Herz hinter dem Gitter der Rippen, nein, nein, das nicht denken, nichts denken, gar nichts denken, oGott, nein! Doch etwas denken, etwas Schönes, etwas ganz Einfaches! Der Himmel ist ziemlich blau. Die Sonne steigt und wärmt. Es gibt Grünanlagen und Großstadt. Es ist später Frühsommer. Nur im Gras liegen oder ein gut gelauntes Gesicht machen und ein Bild verkaufen, jemandem, der das Bild mag, jemandem, der mich mag. Eine Frau, die an ihren Sohn denkt, ein Mädchen, das Fernweh hat, ein Rentner, der Vorwand für ein Gespräch sucht. Eine Aufgabe, ein Ziel.

Warum dieses nervöse Zittern, die Ruhelosigkeit, die Angst, die mich treibt, die mich nicht stillsitzen lässt? Keine ruhige Minute, gejagt, gehetzt – grundlos, ein würgender, unterdrückter Schrei, ein Aufscheuern der Seele.

Ich möchte mich auf eine Bank setzen, tue es auch, aber kann nicht bleiben, rasende Lähmung, dab-dab-dadada-dab, dab-dab-dadada-dab – hilft das oder macht es mich total wahnsinnig? Dab-dab-dadada-dab –, ich halte mich fest an diesem Rhythmus wie an einem Seil, aber es nutzt nichts, etwas treibt mich, zwingt mich in Bewegung, weil Stillstand unerträglich ist, alles ist unerträglich, und dass ich nicht weiß, weshalb, macht es noch unerträglicher. Ich versuche zu denken, aber die Gedanken flackern irre umher. Ich versuche, mich zu entspannen, aber die Verkrampfung würgt mir die Luft ab. Ich atme gepresst, ich hechle, stolpere.
Ein aussichtsloser Zustand, flatternde, peinigende Rastlosigkeit. Wie schön wäre es, ohnmächtig zu werden vor Angst oder Schwäche! Schmerzen, das wäre etwas, um sich darauf zu konzentrieren. Ein Jucken, um sich zu kratzen. Trauer, um zu weinen, doch nur diese flimmernde, kreisende Bewegung, ein erbarmungsloses Weiterhetzen vom Endanfang zum Anfangsende und zurück, nein, nein, nein, das ist ja bloß in meinem Kopf.

Etwas essen, etwas trinken: Tee, keinen Kaffee wie sonst. Ich fühle, dass meine Hand zittert, aber ich sehe, dass sie ganz ruhig die Münzen hinlegt und das Brötchen nimmt. Meine Augen taugen nichts, meine Beine auch nicht, aber sie tragen mich wie abgerichtete Kamele durch die Wüste eines Kaufhauses, an Ständen vorbei, Oasen des Teints und der Spannkraft im Haar, Lippenstifte, Puderdosen, Wimperntusche im Vorüberzittern, hier halt’ ich es nicht aus!
Auf einem Zementblock sitzen, solange es geht, dann zwanghaft weg davon, weil es nicht mehr geht. Drei Worte zu einer Frau am Schaufenster, Ansprache, Du-Sprache, Erwiderung, doch nicht genug. Der Versuch, sich wieder anzuschleichen, zum Scheitern verurteilt.
Busse stinken vorbei, Motorräder preschen hornissenhaft durch Lücken. Kinder werden gezerrt. Vor ein Auto springen. Die Bewegung stoppen, quietschende Bremsen, Blaulicht. Vielleicht wäre das eine Lösung. – Ruhig, ruhig! Ich werde jetzt zählen, ganz langsam: eins, zwei, drei.
Die Sonne steigt und stellt sich an den höchsten Punkt des Himmels. Die Strahlen knallen senkrecht auf Asphalt. Das heiße Leuchten, Schweiß und rot gedunsene Gesichter, Öl- und Frittengestank, nur weiterzählen, weiter: vier, fünf, sechs.

Im Schnapsgeschäft der billigste Fusel, nur irgendwas zum Runterspülen, ganz egal. Die Hitze beginnt zu schwanken, die Menschen tanzen auf der Straße Karussell. Betäubung setzt ein, quälend allmählich nur. Die gehetzte Uferlosigkeit verliert nur schleichend ihre Schrecken. Das Rasen ruht nicht, aber es ermüdet. Gras suchen, vielleicht schlafen, lieber sterben. Weg sein vor sich selbst.
Ein Stück Grünfläche zwischen Kinderwagen. Ein Strauch, ein Baum. Der Boden ist kühl, der Lärm tobt etwas ferner. Das Toben innen schwingt in pendelnde Bewegung ein. Erstes Anzeichen mildtätiger Gleichgültigkeit, ein friedliches Nichtwissenwollen sinkt aus den Kastanienblättern. Sonnenlicht blinkt durch die Zwischenräume. Lichter tänzeln wogend in den Zweigen. Das Hetzen lässt ein kleines bisschen Freiraum, in den Ruhe dringen kann. Lichter tänzeln wogend in den Zweigen. Die Augen schließen – öffnen. Lichter tänzeln wogend in den Zweigen. Die Augen schließen – öffnen, schließen – öffnen … Lichter tänzeln … Lichter tänzeln … Lichter … Llliiichchchttteeerrrrr …

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: 
lassedesignen (Mann), Pixel-Shot (Becher), Aroonsak (Papiertüte), Christian Mueller (Hintergrund) | Frank Middendorf (Mann im Vordergrund), Bikeworldtravel (Menschenmasse), New Africa (Regenbogenfahne)

34 Kommentare zu “Panik | 02

      1. Das ist sie auf alle Fälle. Ich finde das sogar eines der schönsten Gefühle, wenn man nach langem Stress endlich abschalten und zur Ruhe kommen kann.

  1. Heute findet das Umweltbewusstsein vor allem auf Instagram statt. Im echten Leben kann man die Papierkörbe dann auch wieder ignorieren.

    1. Das stimmt so auch nicht. Instagram dient natürlich hauptsächlich dazu das eigene Ego zu befriedigen und sich so perfekt wie möglich zu verkaufen. Aber das Bewusstsein für Klimaschutz im Alltag hat ja trotzdem deutlich zugenommen.

      1. Dass die Grünen so ohne Probleme mit der FDP regieren können/wollen – nun ja, man muss sehen wie viel Energie da wirklich in den Klimaschutz investiert wird.

      2. Die Frage bleibt für die nächsten Monate wohl auch noch wie viel ihrer Ideale sie aufgeben werden um endlich regieren zu dürfen.

      3. Das scheint mir auch so. Die grüne Revolution wird es sicherlich nicht geben.

  2. Da stellt er sich die Frage „Warum bin ich nicht wie sie?“. Bestimmt haben sich viele schon mal die gleiche Frage gestellt. Und dann denke ich, gibt es dieses „sie“ eigentlich? Oder sind wir am Ende nicht alle anders?! Finden wir uns nur manchmal in Grüppchen mit denselben Ideen und Interessen zusammen aber sind letztlich doch auf uns allein gestellt…

    1. Im Anschluss an diese Frage kommt wohl auch gleich die Antwort darauf, warum die Figur es bisher nicht zum Glücklichsein geschafft hat. Er hat alles versucht um zu sein wie die anderen. Was immer das heissen mag. Versucht er selbst zu sein, hat er bisher anscheinend noch nicht.

  3. Hmmm, was diesen Menschen wohl so treibt? Sein Zustand scheint mir ja über ein ’normales‘ Grübeln hinauszugehen.

  4. Immerhin schafft er es ja (noch?) sich selbst aus dieser Unruhe herauszuholen und sich zu beruhigen. Immerhin ein Anfang.

    1. Naja, so richtig überzeugend ist das ja nicht. Ich habe eher das Gefühl, dass er im kommenden Kapitel gleich wieder Hilfe braucht.

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