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06 – Ein Eremit

Ein Mordmotiv | 06

Der Fremde kam mit den Getränken und fläzte sich auf die Couch. ‚Benedikt‘ – kein alltäglicher Name. Der Gesegnete. Eigentlich hätte ich bei ihm mehr auf Wein getippt, französisch oder italienisch.
––„Soso – Johannes. Nun sind wir also hier. Wie alt bist du eigentlich?“
––„Achtzehn.“
––„Na, wenigstens volljährig.“
––„Ja. Die Woche nach meinem Geburtstag bin ich weg von zu Hause. – Wie alt bist du?“
––„Einundvierzig. – Und was machst du hier in Berlin? Bist du wegen der Loveparade hier?“
––„Nein. Ich mach’ hier … eigentlich mach’ ich gar nichts. Ich wollte schon wieder nach Hause, weil ich merkte, dass es so nicht weitergeht. Ich hab’ unterwegs Leute kennengelernt, mit denen bin ich mitgegangen, eigentlich haben wir nur so rumgehangen. Manchmal hab’ ich ein paar Zeichnungen verkauft, aber davon kann man nicht leben.“
––„Du zeichnest?“
––„Ja, ein bisschen.“
––„Was denn?“
––„Ach, alles so. Ich hab’ immer einen Block mit und Stifte – und dann zeichne ich eben.“
––„Auch Porträt?“
––„Ja, aber da bin ich nicht gut. Das kann ich noch nicht.“
––„Willst du ’s lernen?“
––„Ich würd’ gern, aber ich weiß nicht wie.“
––„Was hast du denn bisher gemacht, zu Hause?“
––„Klingt komisch in dem Zusammenhang, war mehr die Idee von meinem Vater: Ich hab ’ne Malerlehre angefangen. Aber nicht zu Ende gemacht. Warum ich aufgehört habe, weiß ich selber nicht so recht. Wäre doch stark gewesen, die neuen Bundesländer bunt pinseln. Bedarf ist ja da. Aber ich hab’s zu Hause nicht mehr ausgehalten. – Da bin ich eben abgehauen, mit allem Geld, was ich von meiner Großmutter geerbt hab’.“
––„Wie lange ist das schon her?“
––„Sieben Wochen jetzt.“
––„Und nun weißt du nicht weiter?“
––„Nee.“
––Er kippte den Wodka in einem Zug und trank einen Schluck Bier hinterher.
––Ich machte es genauso.
––„Was würdest du denn machen wollen, wenn du es dir aussuchen könntest?“, fragte er.
––„Ich weiß nicht“, sagte ich.
––„Würdest du malen wollen?“
––„Ich glaub’, nicht. Ich hab’ nicht genug Zutrauen zu mir. Ich glaub’ auch nicht, dass ich ausreichend Fantasie habe. Obwohl … manchmal … also da fallen mir so Geschichten ein.“
––„Zum Beispiel?“
––„Na ja, also zum Beispiel: ein Mann. Er hat etwas geschrieben, etwas, das ihm ganz, ganz wichtig ist und was auch wirklich gut ist. Seine Frau begreift gar nicht, wie bedeutend er ist und macht ihm das Leben zur Hölle. Er sagt eines Tages zu ihr: ‚Das, was ich da geschrieben habe, das ist mir das Wichtigste auf der Welt.‘ Sie lacht ihn aus, aber eigentlich ist sie wütend, dass sie nicht das Wichtigste auf der Welt für ihn ist. Als er mal unterwegs ist, macht sie den Computer an und löscht den ganzen Text. Er kommt nach Hause. Sie lacht wieder und sie sagt ihm, dass sie alles gelöscht hat, er rastet total aus und erwürgt sie. Vor Gericht bekommt er mildernde Umstände, weil er im Affekt gehandelt hat, er braucht gar nicht ins Gefängnis, sondern bekommt eine Bewährungsstrafe. Das Gericht hat Verständnis für ihn. Wiederholungsgefahr ist nicht gegeben. Was kein Mensch ahnt: Er hat sein ganzes Werk auf externer Festplatte. Er hat die Frau extra dazu gebracht, dass sie die Datei löscht, damit er ein verständliches Motiv für den Mord bekommt.“
––„Hm“, machte Benedikt. Er schien nicht überzeugt.
––War ja auch völlig blödsinnig von mir gewesen, ihm diesen Quatsch zu erzählen. „Weißt du“, ich starrte in mein leeres Schnapsglas, „du wirst lachen über mich …“
––„Ich glaube nicht, dass ich über dich lachen werde.“
––„Also eigentlich wollte ich ja Pfarrer werden, das heißt, meine Mutter wollte, dass ich Pfarrer werde, sie hatte sich das immer so ausgemalt, und ich, also ich fand die Idee gut. Bei uns in Thüringen sind fast alle evangelisch, wenn sie überhaupt noch an Gott glauben. Meine Eltern kommen aus Oberschlesien, darum sind sie katholisch. Und so, wie ich das sehe, haben sie immer versucht, auf Nummer sicher zu leben: ein bisschen was für die Partei, ein bisschen was für die Kirche – dann kann nichts schiefgehen. In gewisser Weise war das ja auch ganz richtig: Honecker hat sie enttäuscht, Kohl hat sie enttäuscht, aber Gott hat sie noch nicht enttäuscht. Ich hab’ dazu ein anderes Verhältnis. Für mich ist Gott immer wichtig gewesen, Honecker kenne ich nur als Schwarzweißfoto aus dem Kindergarten. In der Schule hing er schon nicht mehr, obwohl es ihn am Anfang noch gab. Nach der zehnten Klasse sollte ich auf das katholische Gymnasium überwechseln, in Erfurt. Es war alles schon abgesprochen. Aber dann bin ich sitzengeblieben in der Zehnten. Und dann war alles aus. Mein Vater hat gesagt, das ist sowieso Quatsch, und wenn ich zu dumm sei, was Besseres zu werden, dann müsste ich eben als Handwerker arbeiten. Er sei auch Handwerker und sehr glücklich dabei gewesen. Bis er arbeitslos wurde. Na ja, und dann hab ich mir die Malerlehre einreden lassen, war gar nicht einfach, den Platz zu bekommen. ‚Da hast du mit Farben zu tun und kannst Häuser schönmachen‘, hat mein Vater gesagt. ‚Du bist doch so fürs Schöne.‘ Meine Mutter hat erst gar nichts gesagt. Sie hat das Geld verdient, und später hat sie von Zeit zu Zeit so unbeholfen versucht, mir Mut zu machen, dass alles nur noch schlimmer wurde.“
––„Hast du Geschwister?“
––„Einen Bruder. Der ist zwei Jahre älter als ich, Automechaniker. Er ist, glaub’ ich, ganz zufrieden – seit er von zu Hause weg ist. Meinen Vater hält man nicht gut aus. Nur meine Mutter kann das. Sie ist so entwaffnend.“
––„„Entwaffnend? Hoffentlich löscht sie nicht mal die Datei mit all seinen Anweisungen.“
––„Die Gefahr, dass mein Vater jemals was Fesselndes aufgeschrieben hat, ist sehr gering.“
––„Und entfesselt ist er sowieso nie.“
––„Keiner von uns.“
––„Nein. Ganz im Gegenteil. Du wärst ja gern Pfarrer geworden. Bist du …, ich meine, bist du fromm?“
––„Ich bin dauernd in die Kirche gerannt, dauernd. Es stand für mich fest, dass ich Pfarrer werde, bis ich dann sitzenblieb. Seither bin ich nicht mehr in der Kirche gewesen. Außer zu Weihnachten mit meinen Eltern, die gehen sonst auch kaum.“
––„Und hast du das nicht vermisst, ich meine die Kirche, so plötzlich?“
––„Ich hab’ nicht mehr dran gedacht.“
––„Hast du Gott übelgenommen, dass er dich sitzengelassen hat, gewissermaßen so, als wollte er dich nicht zum Pfarrer?“
––„Ich weiß nicht. Ja, vielleicht ein bisschen. Ich hätte es schaffen können. So blöd bin ich gar nicht. Ich hab’ nur nicht mehr gelernt. Ich hab’s zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Ich war ständig weg. Der Druck von meinem Vater, dieses totale Unverständnis für alles, das mir wichtig war, das hat mich ganz fertig gemacht. Na ja, und dann bin ich eben sitzengeblieben.“
––„Wie ist es denn gekommen, dass du Pfarrer werden wolltest?“
––„Ich hab’ ja schon gesagt, eigentlich wollte es meine Mutter. Es war irgendwie ein Missverständnis, und daraus hat sich das dann entwickelt.“

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Ljupco Smokovski (Mann mit Bier), Viorel Sima (sitzender Mann), Christian Mueller (2, Hintergrund) | fongbeerredhot (Malerrolle)

Hanno Rinke Rundbrief

27 Kommentare zu “Ein Mordmotiv | 06

    1. Wenn mein Kind Pfarrer werden wollte, wäre ich allerdings auch verwirrt und wenig verständnisvoll. Aber ich habe auch keine Kinder … 🤔

      1. Na wenn die Mutter so eine Idee hat und dem Sohn diese Idee einpflanzt…

      2. Die Projektion der Mutter. Der Wunsch des Sohnes, ihr zu gefallen und dem Vater eins auszuwischen. Oder wahre Gläubigkeit. Oder … oder … oder

      1. Mehr als es zu versuchen kann man nicht. Man verliert ja nichts, man kann nur gewinnen.

  1. Hmmm, eine Bewährungsstrafe für einen Todschlag im Affekt – das scheint mir nicht sehr wahrscheinlich. Da sollte man doch eher von einer Freiheitsstrafe von mindestens ein paar Jahren ausgehen. Da scheint die Geschichte des Jungen zu hängen.

  2. Solche Missverständnisse, von denen er am Ende erzählt, bzw. einen Beruf nur erlernen, weil es die Eltern gut finden, oder weil man den Familienbetrieb übernehmen soll, das gibt es ja immer wieder. Auch heute noch. Bei mir war es ähnlich. Ich hätte wahrscheinlich was anderes gemacht, wenn meine Eltern nicht gewesen wären. Trotzdem könnte ich heute nicht glücklicher über meinen Job sein.

      1. Allein in der Geschichte gibt es ja beide Versionen. Pfarrer zu sein gefiel ihm ja überraschend gut, die Malerlehre hingegen überhaupt nicht.

  3. Achtzehn ist ohne Frage schon erwachsen. Trotzdem ein harter Schritt, wenn man einfach seine Sachen packt und von Zuhause abhaut.

    1. Er ist allerdings auch erst 7 Wochen unterwegs. Noch kann man schlecht einschätzen wie es mit seinem Leben weitergehen wird.

      1. Aber meistens bricht man dann nicht gleich komplett den Kontakt zu den Eltern ab. Das scheint bei Johannes aber ja der Fall zu sein.

  4. Ich frage mich ob man eher Pfarrer werden möchte um anderen Menschen zu helfen oder weil man selbst Hilfe braucht.

    1. Dieselbe Frage kann man ja bei allen helfenden/heilenden Berufen stellen. Darauf gibt es bestimmt keine allgemein gültige Antwort.

    1. Es geht in der Erzählung augenscheinlich ja auch um Religiosität. Da ist es nicht verwunderlich, dass diese christliche Namen verwendet wurden.

      1. Das dachte ich auch gleich. Das sind doch genau die kleinen Details, die einen Rinke-Text ausmachen.

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