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03 – Regen in der Wüste

#08 | Wochenende

Als sie nach Hause kam, war sie völlig erschöpft. Sie wärmte für sich und den Kater einen halben Liter Magermilch, verdünnte für Othello sein Viertel mit Wasser, aß ein Knäckebrot im Stehen und ging gleich ins Bett.

Als das Telefon klingelte, war sie schon im Einschlafen. Sie schreckte zusammen und sah auf den Wecker: genau elf Uhr.
––Gott sei Dank braucht man das Telefon zu Hause nicht zu beantworten.
––Es klingelte vier-, fünf-, sechsmal.
––Etwas mit Martin?
––Das Telefon schrillte. Es gellte ihr in den Ohren.
––Wenn Martin etwas passiert ist!
––Das Telefon rief, schrie, brüllte nach ihr.
––Sie wollte aufspringen, aber zwang sich zur Ruhe. Ganz langsam stand sie auf und ging, ohne Licht zu machen, ins Wohnzimmer. Ganz langsam. Bis ich da bin, hat es aufgehört, und nichts ist geschehen. Ich träume, ich träume schon. Sie überquerte den dunklen Flur und betrat den Raum. Der Kater gnurkste. Jeder Anschlag des Telefons peitschte durch sie hindurch, Sorge … Angst … Erwartung. Sie tastete den Sekretär entlang. Sie griff das Telefon. Jetzt hatte es doch aufgehört. Na bitte! Sie hielt trotzdem den Hörer an ihr Gesicht. Die obere Muschel berührte ihr Haar und ihr linkes Ohr, die untere Muschel spürte sie an der Unterlippe. „Hallo.“
––„Es hat lange gedauert. Bist du schon ausgezogen?“
––„Also, hören Sie …“
––„Ich fasse deinen Hals, ganz behutsam. Meine Hände gleiten abwärts, ich spüre deine Brust, meine Finger umkreisen langsam die Vorhöfe, ich bin ein Suchender, ein Suchender, der findet, denn ich halte jetzt deine Knospen zwischen Zeigefinger und Daumen und massiere sie ganz langsam, ganz leicht, und dann etwas fester. Du stehst jetzt in deinem dunklen Zimmer und ich streichle deinen ganzen Körper. Deinen Rücken, Schauer durchlaufen dich, meine Finger lassen deine Haut vibrieren, hörst du mich? Hörst du mich? Ja, du hörst mich.“
––Sie öffnete die Augen. Was sie geträumt hatte, wusste sie nicht mehr, nur, dass es angenehm gewesen war. Schade, dass sie es vergessen hatte. Am Wochenende beschäftigte sie sich immer mit ihren Träumen. Da nahm sie sich morgens etwas mehr Zeit und sann der möglichen Bedeutung der Bilder und Handlungen nach. Es machte ihr Spaß, auf diese Weise Situationen nachzuempfinden, die sie im Schlaf erlebt hatte und in die sie im wirklichen Leben nie kommen würde. Eine Bereicherung. Vor dem Aufwachen sogar Realität.

Das ganze Wochenende lag vor ihr. – Ein herrliches Gefühl! Sie ließ vor sich abrollen, was an den beiden Tagen auf sie zukommen würde. Es war so beruhigend, Pläne zu haben. Als Erstes werde ich einkaufen gehen. Ins Reformhaus und auf den Markt, um richtig frisches Obst und Gemüse zu bekommen. Danach muss ich Hausarbeit machen. Lästig, aber unumgänglich. Einmal in der Woche Frau Fischer reicht leider nicht. Ein bisschen Waschen, ein bisschen Bügeln. Um vier Uhr der Nachmittagstreff im Gemeindehaus. Abends mit Adelheid ins Konzert. Ein reines Schönberg-Programm. Ziemlich anspruchsvoll. ‚Verklärte Nacht‘ am Anfang. In die anderen Werke muss man sich erst einhören. – Wichtig, solche Begegnungen. Hinterher werden wir sicher noch ein Glas zusammen trinken.
––Morgen Vormittag nach der Kirche werde ich einen Spaziergang machen. Und wenn es regnet und stürmt – ganz egal, dann zieh’ ich mir eben die Stiefel an und das Ölzeug und stapfe am Deich entlang. Am Nachmittag werde ich so richtig faulenzen: Ich werde die Wochenendzeitung studieren, mein Buch weiterlesen und zwei, drei Platten auflegen. Brahms hab’ ich schon lange nicht mehr gehört, und er passt in die Jahreszeit. Am Abend geh’ ich dann zu Adelheid, sie macht eine Kleinigkeit zu essen, und wir sehen uns zusammen ‚La traviata‘ im Fernsehen an. Aus der Scala. – Glänzende Besetzung! Die Handlung ist für heutige Begriffe schwer nachvollziehbar, Violetta hätte doch bloß … Aber, na ja, in der Oper zählen vor allem die Stimmen. Die Stimmen … Sie rekelte sich. – Ein wundervolles Wochenende!

Montag, den ersten April.

Als sie am Mittag vom Einkaufen zurückkam, strahlte Herr Friedemann. Er habe gerade ein fabelhaftes Geschäft abgeschlossen.
––Sie traute ihren Augen nicht, ein schlechter Aprilscherz: Es war der Wandteppich, den sie am Donnerstag abgelehnt hatte.
––Zweifellos sei es eine Worpsweder Arbeit.
––Sie hatte nicht den Mut zu widersprechen, aber sie zeigte auch keine Begeisterung.
––Herrn Friedemann entging das nicht. Worpswede müsse ihr doch liegen, da sie so naturverbunden sei.
––„Das klingt, als stamme ich noch aus der Wandervogel-Bewegung.“
––Nein, so habe er das nicht gemeint. Aber sie lebe doch so, na ja, gesund.
––„Ich lebe genau so, wie ich will.“
––Ob sie wirklich sicher sei, dass sie wisse, was sie wolle – oder dass sie wolle, was sie wisse.
––Im selben Augenblick, in dem sie sich zu ärgern begann, begann sie das Falsche zu sagen: „Also, wenn wir schon jeden Tag essen müssen, dann kann es doch kein Fehler sein, auf die Qualität und auf den Nährwert der Nahrungsmittel zu achten.“
––‚Nahrungsmittel‘, ‚Nährwert‘! Bei diesen Worten vergehe ihm schon der Appetit. Ein Filetsteak mit viel Sauce béarnaise und wenig Skrupel: Dafür nähme er die ewige Verdammnis zur Not in Kauf.
––„Ich weiß, ein dickes, blutiges Steak – das ist für viele Menschen der Himmel. Dabei ist es nur ein Symbol. Wie ein Porsche. Ich habe gar nichts dagegen. Aber mir schmeckt so etwas einfach nicht.“
––Ach, ein kirschroter Porsche schmecke ihr nicht, äffte Herr Friedemann sie unter ihrer beider Niveau nach.
––Wenn er jetzt noch fragt: ‚Vielleicht nuckeln Sie lieber am Fahrer?‘, schreie ich!
––Stattdessen stellte er fest, sie kaue an Symbolen – nicht er.
––„Sie nehmen ja sowieso nichts ernst“, hörte sie sich sagen; es hatte womöglich schelmisch klingen sollen, aber es klang in ihren Ohren glücklicherweise nur hilflos.
––Er nähme alles an ihr ernst, was an ihr ernst zu nehmen sei.
––Nach einem solchen Satz half nichts als Reden: „Meine Essgewohnheiten sind wirklich nichts, was man ernst nehmen sollte. Ihre übrigens auch nicht.“ Halt die Klappe, halt endlich die Klappe, dachte sie und fuhr ohne Pause fort: „Dass Sie ein eingefleischter Fleischfresser sind, das ist Ihre Neigung, nicht Ihre Natur.“
––Er sah sie so belustigt an, dass sie einfach nicht aufhören konnte, ernst zu bleiben, vielleicht, weil sie hoffte, ihn dadurch noch mehr zu belustigen und seine regelmäßigen, elfenbeinfarbenen Zähne zu sehen, wenn er loslachen würde.
––„Das kann man schon an den Zähnen erkennen. Löwen, Hunde, Krokodile – das sind geborene Fleischfresser, diese Tiere haben scharfe, spitze Zähne, genau richtig, um Fleisch zu zerreißen. Wir Menschen haben dieselben Zähne wie Schafe und Kühe, diese Zähne sind dazu da, Pflanzennahrung zu zerreißen. Auch wenn Sie mich für ein seltenes Exemplar halten, das in den Zoo gehört: Ich lebe ganz natürlich.“
––Herr Friedemann fände, dass sie ihn ansähe, als sei er ein Krokodil. Es bedrücke ihn allerdings nicht, im Gegensatz zu Schafen, Kühen und ihr unnatürlich zu leben, wenn es ihm so wenig schade und so gut gefiele, wie das der Fall sei. Er würde auch nie zulassen, dass sie in den Zoo käme, lieber würde er sie ausstopfen und in sein Esszimmer stellen.
––„Ich will Sie ja gar nicht umstimmen, sondern Sie mich“, sagte sie und dachte: Wie werde ich bloß meine Ernsthaftigkeit los, möglichst mit dem nächsten Satz schon? Sie hängt ja an mir wie eine Klette!
––Ob man etwas möge oder nicht, ob man etwas kaufe oder nicht – das würde ja heute alles ideologisch betrachtet; er sei da altmodischer.
––„Bei mir ist das keine Ideologie. Überhaupt nicht.“ Das ‚überhaupt nicht‘ verrät, dass ich lüge. „Ich habe früher genauso gedacht wie Sie. Das hat sich erst geändert, seit ich Yoga mache. Ich habe festgestellt, dass ich Kaffee nicht mehr brauche. Ich habe aufgehört zu rauchen, weil ich einfach keinen Appetit mehr auf Zigaretten habe, und mit Süßigkeiten und Alkohol ist es dasselbe.“
––Herr Friedemann wollte wissen, woran sie überhaupt noch Spaß habe.
––„Ach, an allem. Es gibt doch so viel Schönes und Interessantes, überall, jeden Tag! Es ist der Irrtum unserer Zeit, zu glauben, dass man Aufputschmittel brauche oder immer neue Sensationen, um das Leben genießen zu können.“
––Herr Friedemann lächelte nachsichtig. Es sei wirklich erstaunlich, wie eine so attraktive Frau sich ein derartiges Leben auferlegen könne.
––Sie dachte: Und noch erstaunlicher ist es, dass er nicht merkt, wie lächerlich er sich macht mit diesen Uschis und Babsis auf Sylt – in seinem Alter!
––„Ich bin sehr zufrieden“, sagte sie.
––Das sei ja das Einzige, was zähle. Dann sei er wirklich froh und wolle keinen Ton weiter sagen.
––Es half alles nichts, er war einfach unglaublich sympathisch, gerade wenn er so herausfordernd lächelte. Hatte er es wirklich nötig, an den Wochenenden … Sie dachte plötzlich an Martin und daran, wie er seine Wochenenden wohl verbrachte. Sex? Drogen? Politische Versammlungen? Nein, nein, Martin nicht. – Vorbild sein. Ach, und Vorbilder haben.

Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: Ilona Titova (Frau), STEROIDS (Teppich), Eric Isselee (Katze), Pixel-Shot (Plattenspieler auf Tisch), kibri_ho (Kommode), matike (Lampe), sumire8 (Einkaufstasche), K.E.V (Wecker), Alex Staroseltsev (Steak), sevenke (Grillgabel)

37 Kommentare zu “#08 | Wochenende

  1. Oh, dieses „Wie werde ich bloß meine Ernsthaftigkeit los?“ kenne ich von mir selbst. Manchmal sage ich etwas und wundere mich über den Klang meiner eigenen Worte.

      1. Zur Anspannung kann man sich besser zwingen. Das war, als das Erbgut herausgebildet wurde, sicher vernünftig. Ein Mammut vertreibt man nicht mit Gelassenheit, heutige Probleme nicht mit Pfeil und Bogen.

  2. Gerade wenn es ums Essen geht, sollte man vielleicht weniger ideologisch denken, sondern mehr darauf achten, was einem wirklich gut tut. Nicht jedem Menschen bekommt dieselbe Diät.

    1. Es heißt, selbst der Salat leidet, wenn man ihn köpft. Seltsam eingerichtet, dass zur Nahrungsaufnahme etwas sterben muss: Sand und Steine sind ungenießbar. Man selbst stirbt ja auch. Aber meistens nicht durch Verzehr. Und wenn doch, dann, weil man selber zu viel gefressen hat, nicht, weil man gefressen wurde.

      1. Die Würmer dürfen zumindest noch mal ran. Falls man vorher nicht eingeäschert wurde.

  3. Ich wäre schon froh wenn ich einmal in der Woche Frau Fischer bei mir hätte. Ich selbst schaffe es höchstens jedes zweite Wochenende.

      1. Dieses Gefühl, wenn einem selbst bewusst wird, dass die eigene Wohnung dreckig ist, ist allerdings auch nicht besonders schön.

      1. Es sieht so aus, als ob das Berlienr Wochenende auch wieder sonniger wird. Manchmal braucht es auch den Regen.

      1. Das Telefon klingelte abends beim Einschlafen, der Traum, an den sie sich nicht erinnert, war wohl eher morgens 😉 Aber ich stimme zu. Sie schien nicht allzu verärgert über den Anruf zu sein.

      2. Ich fürchte trotzdem, es wird kein happy end geben. Aber ich gedulde mich erstmal bis Freitag…

  4. Die Unterhaltung der beiden Akteure über das Essen spiegelt ziemlich gut das Problem wieder, dass ich mit dieser Diskussion immer wieder habe. Erst spricht die Dame davon, dass der Nährwert entscheidend sei, dann argumentiert sie aber gleich wieder, dass ihr ein Steak einfach nicht schmecke. Ähnlich unklar kenne ich diese Gespräche auch.

    1. Würden die Kosten der Umweltschäden mit einkalkuliert, müsste ein Kilogramm Rindfleisch etwa fünf- bis sechsmal so viel wie jetzt kosten, sagt der Abschlussbericht der Zukunftskommission Landwirtschaft. Vielleicht hat sich das Thema dann mittelfristig sowieso von selbst erledigt.

      1. Oder pflanzenbasiertes Fleisch, Beyond Meat. Wobei man sich dann immer fragen muss, ob man nicht einfach auf Fleisch verzichtet anstatt so zu tun als ob man welches ist.

      2. Isst 🤦🏼‍♀️ Ich weiss immer noch nicht, wie ich die Autokorrektur an meinem Laptop ausschalte. Noch weiss ich, warum die Korrektur falsch korrigiert.

      3. Haha. Wenn Sie einen Mac benutzen, schauen sie mal in den Systemeinstellungen unter Tastatur 😉

  5. La traviata ist toll, aber Oper (oder generell Theater) im Fernsehen funktioniert ja doch nur mäßig. Da haben mich auch die zahlreichen Covid-Streaming-Angebote nicht bekehren können.

      1. Konzerte funktionieren für mich auch auf dem Bildschirm. Musik hat ja den großen Vorteil, dass man einfach zuhören und die Bilder ignorieren kann. Beim Theater ist das Live-Erlebnis schon schwerer zu ersetzen. Da lese ich dann lieber den Text als mir das Ganze abgefilmt anzuschauen.

    1. Ich freue mich wenn ich in ein paar Wochen endlich wieder ins Theater gehen kann. Aber ich habe mich auch darüber gefreut, dass meine Abende im letzten Jahr nicht nur aus ruhigen Abendessen und Netflix bestanden haben. Die Theater haben ja wirklich versucht was sie konnten.

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