Punkt zwölf stand Frau Kleide in der Tür: „Kommst du?“
––Er brütete über den Unterlagen.
Sie sah auf die Uhr: „Ist es schon wieder so weit?“
––Die Seite müsste er fotokopieren.
Ein wenig erschrak sie über das Fortschreiten der Zeit.
––Oder konnte er sie rausreißen?
Sie zog ihre Lippen nach, fuhr sich durchs Haar und stand auf.
––Er sah sich verstohlen um.
Eigentlich hätte sie aufs Klo gemusst, aber sie ließ es und ging mit Frau Kleide in die Kantine.
––Ganz vorsichtig riss er an der Seite.
Sie gingen durch die Drehtür.
––Das Geräusch ließ ihn den Atem anhalten.
Schwerer Kohlgeruch hing in der Luft.
––Offenbar hatte niemand etwas gemerkt.
Sie schielte nach den Tellern.
––Er riss weiter.
„Ein mieser Fraß ist das heute wieder“, sagte sie.
––Jemand sah auf.
Sie stellte sich mit Frau Kleide an.
––Er deckte den Arm über das Buch, wie zufällig.
Die graue Schlange der Wartenden, die graue Masse der über den Teller gebeugten, Futter absorbierende Riesenkrake von ausgeleierten Kiefern.
––Der andere sah wieder weg.
Frau Kleide redete unablässig.
––Noch ein kleines Stück …
Sie wurden weitergeschoben und sie sagte „Ja genau!“ zu Frau Kleide.
––Er hatte die Seite in der Hand.
Sie nahm einen Teller, eine Gabel, ein Messer.
––Schnell und geschickt kniffte er das Papier.
Die Arme der Kochfrau verschwanden in den Untöpfen.
––Er schob seine Beute ins Ringbuch.
Klatsch, klatsch, klatsch: Bedient ging sie weiter.
––Er klappte das Buch zu, stolz und zufrieden.
Frau Kleide hatte an einem Tisch zwei unbesetzte Stühle entdeckt.
––„Pause“, dachte er und nahm sich die Zeitung vor.
Sie stürzten sich hastig auf die freien Plätze und schrien: „Mahlzeit!“
––Er las die Witze.
Die anderen am Tisch sahen gelangweilt auf und kauten „Mahlzeit“ zwischen den Bissen.
––Keiner war komisch.
„Blöder Tisch“, dachte sie.
––Er las die Wettervorhersage.
Die Leute am Nebentisch sind viel netter, aber egal.
––Es sollte noch kälter werden.
Frau Kleide erzählte vom neuen Freund ihrer Tochter.
––Er knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in den Papierkorb.
„Ich fand, er sah eigentlich recht nett aus“, sagte sie geistesabwesend.
––Er schlug das nächste Buch auf.
„Nehmen Sie Nachtisch?“, fragte Frau Kleide.
––Kindisch, wie er sich das so ausmalte.
Sie schüttelte den Kopf: „Ich muss noch in die Stadt.“
––Entweder würde gar nichts passieren oder es würde zumindest ganz anders werden als er es sich vorstellte.
Sie standen auf und brachten das Geschirr zum Fließband.
––Er sah aus dem Fenster.
Sie gingen zurück in ihren Flur.
––„Am Meer müsste man sein“, dachte er.
„Ich komm’ nachher noch mal bei Ihnen vorbei wegen der Sache mit Gutzenka“, sagte sie zu Frau Kleide.
––„Warum bin ich heute Morgen überhaupt aufgestanden?“, fragte er sich.
Sie sah bei ihrem Chef herein.
––Musste er eigentlich irgendwas Besonderes zu trinken haben?
Herr Schmidt und Herr Leopold saßen bei ihrem Chef.
––Er wollte nachher eine Flasche Sekt kaufen.
„Ich würde gern ein paar Besorgungen machen …“
––Sekt, das war so poplig-anspruchsvoll.
Ihr Chef nickte.
––Vielleicht besser Whisky.
Sie nahm ihre Handtasche und dachte: „Wenn ich mir etwas Schönes zu essen kaufe, komme ich gar nicht erst in Versuchung, wegzugehen.“
––Er grinste: Whisky treibt.
Wäre ich sonst denn in Versuchung gekommen?
––Er blätterte das Kapitel durch.
Sie ging aus dem Zimmer.
––Die wichtigste Seite fehlte.
Ich werde zu Hause bleiben und fernsehen.
––Sekundärliteratur! – Das ist ein Leben!

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: ESB Professional (Frau li.), lanych (Frau re.), New Africa (Buch), Kamenetskiy Konstantin (Mann), LIAL (Papier), Paul Horia Malaianu (Teller mit Kohlrouladen) | chrisdorney (zerknüllte Zeitung)

Hanno Rinke Rundbrief

35 Kommentare zu “1.3 | Überhaupt nichts Besonderes

  1. Vielleicht das grundsätzliche Rinke-Motto?
    „Entweder würde gar nichts passieren oder es würde zumindest ganz anders werden als er [man] es sich vorstellte.“

    1. Ich habe auch einfach das Gefühl, dass Hanno Rinkes Vorstellungskraft die der meisten Leser deutlich übersteigt. Alleine deshalb kommt es meistens anders.

      1. Das ist ja wunderbar. Ich freue mich erst einmal, dass Sie schreiben. Das Kapitel wird sich finden. Ich bin sicher.

      1. Vor allem darf man es nicht dabei belassen nur übers Leben zu lesen. Man muss sich schon auch selbst reinstürzen.

      2. Ja, das stimmt zweifelsfrei. Von den Folgen kann man regelmäßig hier im Blog lesen…

      3. man muss sich ja tatsächlich wundern, dass man so etwas nicht in den griff bekommt. nach mittlerweile fast zwei jahren pandemie frage ich mich warum die politik sich immer noch überraschen lässt.

      4. Ich stimme zwar zu, möchte aber auch nicht in der Haut der Politiker stecken.

      5. In wessen Haut möchte man schon gern stecken? Viel mehr Spaß macht es, sich auszumalen, wie man selbst alles das gemacht hätte, was man Gott sei Dank nicht musste.

      6. Stimmt auch wieder. Das ist ja quasi auch das Prinzip der sozialen Medien. Nur dass man sich dort weniger den Kopf zerbricht, sondern gleich seine Meinung sagt.

      7. Ich wollte schon sagen … im Netz malt man sich ja meistens wenig aus. Da wird hauptsächlich gemeckert und gestänkert. Schön anonym.

    1. Das Gute beim Whisky ist ja auch, dass man meistens in Maßen trinkt, die einen eben nicht die ganze Zeit zur Toilette drängen. Bis da was treibt, das dauert. Oder erfordert standfestes Trinken.

  2. Koketter bzw. augenzwinkender geht es aber nun wirklich nicht mehr. Wird der vierte Teil denn etwas Besonderes werden?

      1. Wir sind ja trotzdem erst bei Omikron angekommen. Bevor wir Omega erreichen wird das alles nicht aufhören.

      2. So fatalistisch bin ich nicht. Allerdings jetzt die neue Südafrika-Variante… Mein Hausarzt sagt: wenn sich Corona mit dem Vogelgrippe-Virus verbindet, ist es aus.

  3. Wer Sekt poplig findet greift zum Prosecco oder Crémant. Man trinkt dasselbe, aber fühlt sich gleich etwas besonderer.

    1. Ja gut. Da es in der Erzählung aber um „überhaupt nichts Besonderes“ geht bleiben wir eben doch beim Sekt.

      1. Tut er ja nicht! Außerdem: wer Feist Sekt und Dom Pérignon dasselbe findet, sollte unbedingt zu Seehasenrogen greifen statt zu Beluga Kaviar.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

sechzehn + sechzehn =