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0907
03 – Regen in der Wüste

#12 | Dressing

Donnerstag, den vierten April.

„Wie viel wollten Sie denn ungefähr ausgeben?“
––Mehr als fünfhundert Mark dürften es nicht sein.
––„Aber Sie haben keine feste Vorstellung, was oder welches Material oder wie groß?“
––Nein, eigentlich nicht.
––„Wie gefällt Ihnen dieser Schreibkasten? Mahagoni mit Messing. Intarsien mit alten Papieren. Stammt aus Sankt Petersburg.“
––Nein, es solle etwas Dekorativeres sein.
––„Wie wäre es mit diesem Etui? Es enthält Barometer und Thermometer. Eine französische Arbeit. 480 Mark.“
––Zögern. Ob sie auch Leuchter zeigen könne.
––Sie überlegte einen Augenblick. Dann hatte sie einen Einfall. Sie hob den Deckel der Truhenbank und holte einen Kerzenhalter aus Messing hervor. „Wie gefällt Ihnen dieser Ständer? Er ist von besonderer Qualität.“

„So prüde bist du also gar nicht! Du bist eine – wie sagt man? –, eine geile Luder. – Sagt man so?“
––„Nein, so sagt man nicht, Julio! Man sagt: ‚geiles Luder‘.“
––„Du hast gern, wenn man dir schlechte Worte sagt, nicht?“
––„Wie kommst du auf so etwas?“
––„Ich habe gemerkt. Deine Augen leuchten, wenn man sagt.“
––„Das stimmt doch gar nicht!“
––„Ich werde dich lieben auf Felsen und werde dir schlechte spanische Worte ins Ohr sagen dabei. Der Wind trägt schlechte Worte ins Meer, und sie ertrinken. Nur du wirst hören.“
––„Du bist ja verrückt! Außerdem ist der Felsen viel zu hart.“
––„Nicht so hart wie …“
––„Julio!“
––„Und jetzt mach’ noch mal bei mir, was du nie bei dein Mann machst!“

„Sehen Sie, wie sich der balusterförmige Schaft oben zum Nodus erweitert und über die Einziehung in die Tülle ausläuft!“ – Sie fühlte sich angestarrt, als hätte sie im Damenstift ‚Kacke‘ gesagt. – „Die Nachbildung eines Standleuchters, wie er zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts üblich war.“
––Nein, sie dächten eher an eine richtige Lampe als an einen Kerzenhalter. Was denn mit dieser Lampe da sei. Tiffany, nicht wahr?
––„Nein, sie ist von Handel. Ein Zeitgenosse von Tiffany. Die Farbe des Opalinglases entsteht durch Metalloxide. Die Legierungen in den Zwischenräumen sind bei Handel aus Blei. Bei Tiffany ist Kupferlot dabei, was natürlich noch schöner aussieht. Reines Kupferlot wäre zu weich. Wegen der entstehenden Wärme.“
––Schön sei die Lampe.
––„Leider aber sehr viel teurer als Ihre obere Grenze. Etwas ganz anderes: Wie gefällt Ihnen diese Deckeldose? Sie ist aus lackiertem Eisen.“
––Ja, die sei recht schön. Was man damit machen könne.
––„Was Sie wollen.“
––Es solle zwar ein Geschenk sein, aber es müsse trotzdem einen praktischen Sinn haben.
––„Ich habe hier eine reizende Sweetmeat-Cup“, sagte sie. Honig floss in ihrer Stimme. „Das ist eine typisch englische Konfektschale für feste und flüssige Süßigkeiten.“
––Ja, die sei wirklich entzückend. Was sie koste.
––„Vierhundertfünfundachtzig Mark.“
––Ja. Das wäre das Richtige.
––Sie verpackte die Schale. „Damit werden Sie ganz bestimmt viel Freude machen. Vielleicht füllen Sie sie mit Pralinen, bevor Sie sie verschenken.“
––Oh, das sei eine gute Idee.
––„So, bitte sehr!“ Sie öffnete die Tür. „Auf Wiedersehen!“
––Herr Friedemann stand vom Schreibtisch auf. Wenn er sie nicht sowieso für heute Abend zum Essen eingeladen hätte, dann wäre das jetzt nach dieser Glanzleistung fällig.
––Sie lachte. „Und der halbe Gewinn wird wieder verfressen. Aber wirklich nur der halbe. Ich schäme mich richtig. Haben Sie gemerkt, ich habe neunzig Mark draufgeschlagen.“

Die Messingleuchter waren keiner besonderen Stilrichtung zuzuordnen. Aber es gab versilberte Satzteller und Servietten im selben Altrosa wie die Tischdecke.
––Was man ihr denn überhaupt zu essen anbieten könne.
––„Oh, alles. So prüde bin ich gar nicht. Ich sagte doch, es ist keine Ideologie bei mir. Ich werde vorweg einen Salat essen und danach ein Kalbsschnitzel.“
––Was sie trinken wolle. Er tränke einen weißen Touraine.
––„Da trink’ ich ein Glas mit. Zum Schnitzel passt das ja sehr gut.“
––Oh, sie verstände etwas von Wein?
––„Ein bisschen. Von früher her. Mein Mann war Spezialist für französische Weine – … ist Spezialist; war mein Mann.“
––Herr Friedemann gab die Bestellung auf. Einen Augenblick lang herrschte ein Schweigen zwischen ihnen, das die Unterhaltungen an den anderen Tischen zu leisem Lärm steigerte. Worte, Stimmen, Geräusche.
––Wie mochte der Mann hinter der Stimme aussehen?, ging es ihr durch den Kopf.
––Ob es ihr gefalle bei ihm, wollte Herr Friedemann wissen.
––Suchte er nur nach Gesprächsstoff oder sollte das eine Bestandsaufnahme werden? Wie auch immer. Eine banale Frage verdient eine banale Antwort: „Gut.“
––Das klänge aber sehr kurz angebunden. Ob sie nicht mehr dazu zu sagen habe.
––„Ich bin gern bei Ihnen. Aber an ruhigen Tagen, besonders, wenn ich allein bin, dann kann es auch bedrückend sein. Die Gegenstände scheinen zu fordern: Verkauf mich! oder: Gib mich nicht weg! Und dann denke ich, was geht mich das alles eigentlich an? Ich bekomme Geld dafür, dass ich Antiquitäten verkaufe, so wie andere Frauen Geld dafür bekommen, dass sie Fische oder Reißverschlüsse verkaufen. Nur dass man Nahrung und Kleidung braucht; Kommoden und Truhen sind entbehrlich.“
––Er sah sie aufmerksam an. Ob sie deshalb die Aufgabe in der Telefonseelsorge übernommen habe.
––„Ja. Im Laden verkaufen, das könnte jeder andere auch, nach einer gewissen Schulung. Aber bei der Seelsorge fühle ich mich persönlich gefordert. Ich weiß natürlich: Für den Anrufer spielt nur eine Rolle, dass jemand da ist, der ihm zuhört. Und das bin ich. Aber mir gibt dieses Anteilnehmen zusätzliche Kraft.“
––Er nickte geschäftig.
––Der Ober stellte den Salat vor sie hin. Was für ein Dressing sie wünsche.
––Eine Soße aus frisch ausgedrücktem Zitronensaft, etwas Minze und ein wenig Sellerie-Salz ist eine natürliche Köstlichkeit.
––„French bitte, mit viel Roquefort.“

Sie kauerte auf dem Sofa.
––Auf dem Plattenteller drehte sich ein Streichquartett. Schubert.
––Gut, dass es gerade heute war. Ich war richtig dankbar. Wir haben uns wenig zu sagen, und das Essen war – eigentlich habe ich gar nicht hingeschmeckt. Aber ich hätte heute nicht allein sein können. Diese milde Verzweiflung, die im Raum schwebt und zu allem fähig macht.
––In zehn Tagen ist wieder Ostern. Bemalte Eier. Lammrücken.
––Wie kann ein Raum gleichzeitig so unendlich, so wandlos, haltlos sein und so bedrückend eng?
––„Schling nicht so!“
––„Lass ihn doch! Es ist ja nur einmal im Jahr.“
––„Und zum Mittag kann er wieder nichts essen.“
––„Ist das so schlimm? Schokoladeneier sind sicher genauso nahrhaft wie Hammelbraten.“
––„Wozu steh’ ich dann überhaupt in der Küche?“
––„Liebling, das frag’ ich mich auch. Wir hätten es viel gemütlicher, wenn du bei uns bleiben würdest, statt mit deinem Verkohlt-auch-nichts?-Blick durchs Haus zu laufen.“
––„Das Osterlamm ist Tradition! Christliche Tradition! Dir bedeutet das vielleicht nichts …“
––„Was willst du damit sagen?!“
––„Nichts. Ich meine nur, es ist mir wichtig. Es ist mir für uns wichtig.“
––„Das Osterlamm ist jüdische Tradition, wenn du schon so genau wirst.“
––„Bitte, Robert, du verstehst mich falsch …“
––„Nun mach kein so unglückliches Gesicht, als seist du selber das Opferlamm, aber es gibt Pfeile, die sollte man auch in gereizter Stimmung nicht abschießen. So, und nun begieß dein heiliges Tier! Martin und ich feiern inzwischen Auferstehung im Garten, das macht Appetit.“

Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: raresirimie (Kerzenständer auf dem Tisch), StudioSmart (Wandleuchte), Sashkin (Tisch), Robert Wolkaniec (Frau), Tom Tom (Holzsäulen), SERGEI PRIMAKOV (Mann auf Stuhl), Praneat (Holzfußboden), stockcreations (Sauciere)

35 Kommentare zu “#12 | Dressing

      1. Ich wollte sagen – da geht es dann ja auch nicht um eine Konfektdose, sondern um die Existenz.

  1. Ich bin nicht ganz einer Meinung mit unserer Protagonistin. Eine gute Verkäuferin braucht genau die gleiche Mischung aus Schulung und Talent wie eine gute Seelsorgerin. Das sollte man gar nicht so werten.

    1. Sie scheint ja grundsätzlich ein wenig zu fühlen, dass sie nicht richtig gebraucht wird bzw. dass ihre Arbeit und ihr Dasein keinen richtigen Zweck zu haben scheinen. Das liegt aber ja wohl alles in ihren Beziehungsproblemen begründet, nicht so sehr am Beruf der Verkäuferin.

      1. Das kann natürlich auch sein. Manche Menschen sind ja von Natur aus unsicherer.

  2. Hmm, ich war nie großer Touraine-Fan. Aber ich trinke auch grundsätzlich wenig französische Weißweine. Die klassischen Deutschen gefallen mir meistens besser.

      1. Weißwein hatte ich vorgestern. Aber mein letztes Schnitzel ist eine ganze Weile her. Sie machen mir jedenfalls Appetit.

  3. Nicht ganz sicher, ob die Verkäuferin da nicht ein wenig improvisiert hat, aber wenigstens habe ich jetzt Baluster, Nodus und Tülle gegoogelt.

      1. Ich habe mich, wie sich das gehört, auf den Stoff vorbereitet, genau wie meine Hauptfigur.

  4. Geiles Luder sagt man zum Glück auch nur noch selten. Mag natürlich sein, dass das auf spanisch etwas besser klingt.

      1. 1967 gab es den summer of love, 1969 die Ausschreitungen am Stonewall Inn. Trotzdem fragt man sich manchmal warum auch 50 Jahre später das Sexuelle immer noch so hart umkämpft werden muss.

      2. Geiles Luder klingt nicht sehr schmeichelhaft. Das liegt allerdings nicht zuletzt daran, dass man gesellschaftlich als Frau eben kein Luder sein darf. Der sexgeile Macho wird hingegen weiterhin bewundert. Zumindest von seinen männlichen Freunden.

      3. Also, in unserem damaligen Sprachgebrauch war das ein Kompliment, konnte aber für Alain Delon genauso gelten wie für Brigitte Bardot.

  5. Die Frage, ob es ihr beim Antiquitätenhändler gefällt, ist natürlich nicht nur direkt sondern auch ein bisschen gemein. Aber interessant, dass sie so offen darauf antwortet.

      1. Ob sie das wirklich ist, weiss man wahrscheinlich erst, wenn die Erzählung abgeschlossen ist.

    1. Ich mochte das sehr, wie sie auf diese Frage geantwortet hat. Ich wüsste allerdings nicht, ob ich das selbst auch so offen sagen würde.

    2. Ich finde den Chef auch ziemlich verständnisvoll. Da gäbe es sicher einige, die solch eine Antwort als Angriff auf ihr Geschäft sehen würden.

  6. Philip Julius Handel hat mich interessiert. Die Tiffany-Lampen sind ja für den Durchschnittsbürger weitaus bekannter. Aber dann finde ich das: „Many, if not most, lamps and shades are referred to as Handel lamps simply because the style is similar to that of an original Handel lamp. Experts today suggest that about 90% of all lamps called Handel were not actually made by Handel. There are many lamps that are signed but that are not authentic. Identification of Handel leaded lamps is a subjective process that few people are qualified to do.“

      1. Das Kunstwerk im Zeitalter seiner Reproduzierbarkeit treibt ohnehin seltsame Blüten, und 69,3 Millionen US$ für Beeples
        The First 5000 Days ist auch kurios.

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