Teilen:

0711
06 – Ein Eremit

Verzückung | 16

Plötzlich hatten Geräusche aus einer fernen Welt mich aufgestört.
––Ich lauschte. Ein fremdartiges Pulsen, dem ich nachgehen musste. Warum konnte ich nicht hierbleiben, in der entrückten Abgeschiedenheit meiner Höhle?
––Es ging nicht. Gott rief mich noch einmal hinaus.
––Ich taumelte in den Flur. Ein Zimmer. Ich sah zwei Gestalten.
––Sie trugen eigenartige Kutten. Halb heruntergelassen. Leder, schwarz. Irgendwie waren sie verschlungen ineinander.
––„Benedikt, Bruder“, sagte ich.
––Die Mönche starrten mich an. Ihre Gesichter waren erschrocken. Sie hatten mich wohl nicht erwartet. Aber er hatte mich doch immer bedrängt, ich sollte herunterkommen.
––Ich fiel auf die Knie. „Benedikt“, sagte ich und hob die Hände. Es waren Ketten um meine Gelenke.
––Der andere wich zurück.
––Benedikt strich mir über den Kopf. „Das ist unser Heiliger.“ Seine Stimme war heiser. Es klang eher wie eine Entschuldigung als wie eine Erklärung.
––Sie starrten auf mich, als sähen sie eine Erscheinung. War ich schon verklärt?
––Es hing aus dem schwarzen Leder heraus, direkt vor meinem Mund. Ich nahm es zwischen die Lippen. Ich saugte daran.
––Da gaben sie mir auf einem weißen Tuch Weihrauch ins Gesicht. Sie hielten es mir dicht vor die Nase.
––Ich atmete ein.
––Die Welt blieb zurück. Meine Himmelfahrt. Meine Verzückung. Heilig, heilig, heilig, Herrgott der Heerscharen, Himmel und Erde sind erfüllt von deiner Herrlichkeit.

Er lag am Boden. Die hochragende Kirche über den Hügeln seiner Hoden.
––Lass mich versinken in die göttliche Klause am Ende deines Rückens! Heiliger Schwanz, regne in meine unwürdige Fresse, dann wird meine Seele gesund! Regne auf mich nieder! Regne in mich hinein! Ich preise dich. Ich preise dein Glied. Ich unterwerfe mich deinem Willen. Ganz dein, ganz dein. Komm, komm, segne mich mit deinem Samen, ja, ja, mehr, oh – gebenedeit sei die Frucht deines Leibes! HERR, HERR, ich liebe dich. Oh, wie ich dich liebe! Nein HERR, nein. Lass mich! Ich weiß, das ist das Jüngste Gericht, der Höllensturz der Verdammten. Aber doch nicht ich! Nicht ich! Ich habe dir doch immer treu gedient. Verstoß mich nicht ins Leben! Zerr mich nicht! Stoß mich nicht von dir! Was macht ihr mit mir? Wohin schleppt ihr mich? Nein, nicht geißeln! Bin ich Jesus? Ich bin ein Heiliger. Ich brauche deine Nähe, mein Gott. Wer sich erniedrigt, soll erhöht werden.* Kann sich ein Mensch mehr erniedrigen, als ich es getan habe? O HERR, vielleicht möchtest du, dass man dir ganz anders dient, als ich es tue, aber du bist die Gnade, du wirst meine Art, dir zu dienen, anerkennen, selbst dann, wenn deine Kirche mir ihren Segen verweigert. Ich glaube an dich. Ich glaube an den Heiligen Geist, Auferstehung des Fleisches, Umkehrung der Werte, das ewige Leben, das ewige Sterben, Amen.

Ich lag in meiner Dunkelheit. Das Gummi unter mir. Auf meinem Rücken brannten die Striemen. Wie lange ich in ohnmächtigem Schlaf gelegen hatte – ich wusste es nicht. Ich war kein Heiliger, ich war kein Märtyrer. Ich war ein verblendeter Mensch, einer, der aus dem Himmel ausgestoßen, dem die Hölle sicher ist. Ich bin Dreck, Abschaum. ‚Ein Untier, eine Bestie‘, wie Benedikt gesagt hat. Er hat ja recht. Er hat ja völlig recht.

Stell mir das Essen nicht mehr hin, sondern knall es mir in die Fresse! Klatsch mir das Zeug ins Gesicht! Ich lutschte an seinen Fingern.
––Er trat mit dem Fuß nach mir.
––Ich winselte. Ich bin dir ausgeliefert, mein Gott. Wie lange lässt du mich noch warten? Wie tot muss man sein, bevor man stirbt? Vernichte mich! Spuck mich voll, kotz über mich, tritt auf meinen Kopf, bis jeder Tropfen aufgesogen ist! Beiß meine Adern auf, stülp deinen Schwanz in meine Venen und piss in mein Blut! Piss dich ganz leer, dass mein Blut schäumt von deinem Urin! Hau mir die Fresse ein, knall mich ab, mäh mich nieder, hau mich in Stücke! Äscher mich ein! Zertritt meinen Körper mit deinen hohen, harten Stiefeln! Zerquetsch meine Hoden und lass mich den Brei von deinen Sohlen lecken, während du auch mein Gesicht noch zerstampfst. Dann, wenn ich nur noch eine schleimige Masse bin aus Fleischbrei, Blut und Knochensplittern, dann wälz dich in dieser Pfütze, verschmier mich über deinen Körper, in deinen Kniekehlen, Achselhöhlen, reib mich in deine Poren, tief, tief in die Poren, bis ich eingegangen bin in deine Haut, dein Fleisch, dein Gedärm, deine Herrlichkeit, verwandelt, verklärt, geheiligt durch deinen Leib, die Erlösung von allen Übeln. – Und dann zieh los, fick mit anderen und lach über mich, du Judas!

Grelles Licht prallte wie eine Windschutzscheibe gegen mein Gesicht. Notbremsung. Stop!
––Er hatte die Sperrholzplatte vom Fenster gerissen.
––„Nein!“, schrie ich.
––„Schluss!“, sagte er. „Endgültig – Schluss!“ Er torkelte mir entgegen. Das war keine Prozession, das war das furchtbare Erwachen nach einem Saufgelage. Überrumpelung, Röhm-Putsch, Revolution.
––„Was wollt ihr von mir?“, schrie ich und hielt meine Hände ans Gesicht, um meine Augen zu schützen.
––Er packte mich an den Schultern. „Ich hab’ immer gehofft, du kommst wieder zu dir. Ich war feige. Es war unverantwortlich von mir. Ich ruf’ einen Krankenwagen. Du bist schwer krank, seelisch und körperlich am Ende. Aber erst mal will ich dich waschen. Komm mit ins Bad, stütz dich auf mich. Geht es?“ Seine Hände hatten meine Schultern losgelassen, er bot mir seinen Ellenbogen.
––„Nein.“ Ich wimmerte. Statt seinen Arm zu greifen, klappte ich auf die Matratze und drücke mich in die Ecke.
––Das Licht zerbiss mir die Augen.
––Er kam auf mich zu.
––Ich roch Alkohol.
––Er war völlig betrunken. In seinem Gesicht war keine Liebe. Vielleicht Entsetzen, vielleicht Mitleid, aber keine Liebe. Überhaupt keine Liebe.
––Meine Hand griff hilfesuchend nach seiner Hose.
––„Lass das!“ Er zerrte an mir und richtete mich mühsam auf.
––Ich stützte mich auf seine Schultern. Ich sah, dass er die Schlüssel zu meinen Ketten in der Hand hielt. Ich suchte in seinen glasigen Augen. Ich fand nichts als Angst und Abneigung. Da wusste ich mit einem krachenden Schlag, dass alles aus war, dass er mir nie mehr gehören würde, nie mehr und nichts von ihm.
––Dab-dab-dadada-dab.
––Im weißen Licht sah ich etwas blinken: die Schere. Ich ging in die Knie, griff sie und rammte sie ihm von unten in die Gurgel, so fest ich konnte und im Rhythmus.
––Dab-dab-dadada-dab.
––Der Angriff war ganz unerwartet für ihn gekommen. Er heulte auf und fasste sich an den Hals, seine Finger badeten in Blut, er drehte sich weg von mir.
––Ich hangelte mich an ihm hoch, ich hob meine Arme und stülpte sie über seinen Kopf, ich drückte die Kette gegen seinen Hals und schnürte zu, so fest ich konnte. Meine Hände umklammerten einander. Er taumelte gegen die Wand. Im Fallen noch zog ich die Kette fester.
––Dab-dab-dadada-dab.
––Er röchelte, stieß mit den Füßen, strampelte, zappelte nur noch. Seine Hände waren verkrallt in mich, aber kein Schmerz konnte mich erreichen.
––Er war stark, ich war schwach. Aber er war betrunken und verwundet, und ich hatte meine Ketten und meine Verzweiflung.
––Ich tötete ihn. Dab … dab … dadada …

Als ich merkte, dass er leblos war, ergriff mich mein Körper in heilloser Panik, stieß mich vorwärts in den Flur, aus der Wohnungstür in den Gang. Meine Hände rüttelten am Geländer. Meine Schreie hallten so grauenhaft durch das Treppenhaus, dass ich vor Entgeisterung weiterschrie, immer weiter, am Boden gekrümmt, schrie und schrie, bis die Köpfe, die sich über mich gesenkt hatten, wieder verschwammen in der erlösenden Dunkelheit meiner Kammer.

*Angelehnt an Matthaeus 23,12, ‚Die Bibel‘

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: Master1305 (Mann), Sahara Prince (Hintergrund) | ARVD73 (Hände), Christian Mueller (Hintergrund)

34 Kommentare zu “Verzückung | 16

      1. Auch das zerstörte Leben muss einem Leid tun. Nützen tut es nicht viel. Aber das tut das Mitgefühl für die Hinterbliebenen unbekannterweise auch nicht.

      2. Ich denke dann immer an die Zeit und die Möglichkeiten, die einem genommen wurden. Das finde ich schon traurig. Ändern tut das selbstverständlich gar nichts mehr. Aber hier befinden wir uns ja eh „nur“ in einer Geschichte und die Konsequenzen sind nochmal unwichtiger als im echten Leben.

      1. Wohl noch nicht ganz, aber mit einem Mord hätte ich auch nicht gerechnet. Johannes ist allerdings schon seit einigen Kapiteln ziemlich durchgedreht. Vielleicht sollte man gar nicht so überrascht sein.

    1. Ich dachte die ganzen letzten Episoden, dass er phantasiert. Aber er scheint tatsächlich durchgedreht zu sein.

      1. Na, ob er diese Chance nutzen wird? Mit einem Happy End würde ich jedenfalls nicht mehr rechnen.

      2. Immerhin scheint er irgendwann wieder klar genug zu sein um seine Geschichte aufzuschreiben. Siehe erstes Kapitel. Zum Happy Ende wird es aber dann vielleicht doch nicht ganz reichen. Es klang jedenfalls zu Beginn nicht so.

      3. Hmmm, was würde Netflix machen? Er kommt ins Gefängnis, bereut, rehabilitiert sich, findet einen Job als Sozialarbeiter und widmet sein Leben der Unterstützung hilfsbedürftiger Jugendlicher?

      4. Das ist übrigens ein völlig überbeanspruchtes Stilmittel. Mittlerweile wird ja nach jedem Film oder jeder Serie, die auf wahren Ereignissen basiert, am Ende nochmal erklärt wie alles ausgegangen ist und was die Hauptdarsteller heute machen. Ich finde das immer reichlich faul.

      5. Teilweise braucht es diese Erklärungen auch nach 13 Teilen einer Serie noch. Da wundert man sich dann schon ein wenig. Allerdings ist es auch nicht so sonderlich spannend filmisch zu zeigen, dass jemand nun glücklich in New Jersey einen Tabakshop betreibt.

    1. So ungefähr könnte man das sehen. Dann wäre es allerdings umso spannender zu sehen, wohin sein Weg in den letzten Kapiteln noch führt.

      1. Es hieß ja auch schon vorab, dass Motive der Judasgeschichte aufgegriffen werden würden. Ich hatte es fast schon vergessen, aber jetzt macht das alles wieder Sinn.

      1. Und selbst der Fanatiker ist ja oft getrieben und gehetzt. Johannes geht es ja nicht anders. Er muss zwar tun was er tut (zumindest denkt er das), aber wohl fühlt er sich ja auch nicht dabei.

      2. Ist man eigentlich nur fanatisch in dem, was man tut, oder kann man auch etwas fanatisch sein lassen: zum Beispiel unbedingt ungeimpft bleiben zu wollen, um als Letzer zu überleben. (1. kommt genau andersrum 2. Wie geil wär das denn, wenn um mich rum bloss noch Querdenker lebten?)

      3. In den USA leben ja ungefähr 74,2 Millionen Querdenker (Trump-Wähler). Ob das schön ist … ich würde es nicht behaupten.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

17 + 7 =