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06 – Ein Eremit

Nachtluft | 18

Friedhöfe bedeuten mir nichts. Trotzdem möchte ich sein Grab sehen, einmal nur. Ich würde gerne mit seinen Eltern sprechen, aber ich kann es nicht tun.
––Sie haben mir einen so furchtbaren Brief geschrieben, in dem sie mir ihr Mitgefühl ausdrücken wollten und sich von ihrem Sohn, den sie nie verstanden hatten, noch im Tod losgesagt haben: ‚Wir haben keinen Sohn mehr. Wir hatten nie einen.‘ Sie haben mir Geld angeboten, und meine Eltern drängen mich, es anzunehmen. – Warum auch nicht? Wenn er es geerbt hätte, hätte er es sowieso mit mir zusammen ausgegeben.

Ich habe begonnen, mich auf das Abitur vorzubereiten. Es läuft sehr gut. Vielleicht werde ich doch Theologie studieren. Zum Priester bin ich natürlich nicht geeignet, das weiß ich. Obwohl es mir manchmal ein kaum noch zu ertragendes Bedürfnis ist, ein Requiem zu lesen – für ihn, der irgendwo verbrannt oder verscharrt ist, ohne Messe, unbeweint. Und meine Tränen? Zählen sie? Die Krokodilstränen des Mörders. Wann wurde ich zum Verräter an ihm? – Irgendwann, lange bevor ich ihm die Kette um den Hals schlang? Oder erst, als ich seinen leblosen Körper nicht in meinen Schoß bettete, seinen Kopf nicht streichelte und küsste und nicht, eng an ihn geschmiegt, den Tod abwartete.

Nachtluft.
––Frösteln zwischen den Bäumen, zwischen den Beinen. Es ist Herbst geworden. Es ist spät geworden.
––Hier sitze ich an den bedeutungslosen Blumenbeeten der kleinstädtischen Anlagen und schreibe mich in die Dämmerung. Schmalkalden. Ich kann nur diese Aufzeichnungen vernichten oder mich. Ich lebe jetzt wieder bei meinen Eltern. Mein Vater ist still und ratlos. Die maßlose Fürsorge meiner Mutter genieße ich wie täglichen Lieblingsnachtisch. Ich bin süchtig nach heiler Welt. Ich grüße die Nachbarn, gehe zum Bäcker und lerne auf dem Balkon neben der Wäsche, wenn die Tage noch warm genug sind. Ich lese sehr viel.
––Manchmal stehe ich morgens ganz früh auf und laufe hinaus aus dem Ort auf die abgeernteten Felder. Abends sehe ich fern. Von Zeit zu Zeit betrinke ich mich. Wodka. Ich gehe oft in die Kirche, auch wochentags. Dann danke ich Gott, dass er den Dämon von mir genommen hat, dass keine Finsternis mehr in mir lauert. Ich weiß es, nach all dem Schrecklichen, das ich durchgemacht habe, finde ich jetzt aus mir selbst heraus Frieden und eine beschwingte Genügsamkeit.
––Vielleicht werde ich heiraten, noch ist viel Zeit: Kinder haben, ihnen das Leben zeigen. Ich werde alles anders machen als meine Eltern. Ich werde nicht vergessen. Eine Frau, die mich achtet, die verständnisvoll und zärtlich ist. Einen Beruf haben, Freunde, Reisen machen, Zeitung lesen. Anteil nehmen. Wählen: das Machbare, das Geregelte, bestimmt nicht PDS, sondern SPD, später vielleicht sogar CDU, wer weiß: christlich und konservativ.
––Arbeiten und wissen, wofür. Leben und wissen, warum. Ich freue mich über den Wechsel in der Politik. – Wirklich? Und wird es wirklich ein Wechsel sein? Auch für mich? Schröder statt Kohl. Nur ein anderer Namen oder auch andere Werte? Fragen, die mehr Stimmungen sind, als dass sie mir Anlass zum Grübeln gäben. Kein Grübeln, bitte kein Grübeln!

Die Farben der Blumen stumpfen ab in der Dämmerung. Die Laternen haben zu leuchten begonnen. Was für ein freundliches Licht aus den gelben Kugeln! Die Vögel werden ruhiger, die Menschen auch. Das welkende Laub am Boden verströmt einen Duft, der weder süß noch bitter ist. Wenn ein Windstoß kommt, tuschelt es geschwätzig auf und wird fortgetrieben, bis der Luftzug erlahmt, dann fallen die Blätter wieder müde auf den Boden zurück.
––Ein Mädchen geht vorbei und lächelt.
––In ihrem Lächeln lese ich, dass ich ihr gefalle. Mir selbst gefalle ich auch, wenn ich in den Spiegel sehe: Das ist kein Kindergesicht mehr, das ist ein Mann. Oh, ich bin kein Unbekannter in Schmalkalden.
––Die Frauen möchten mich trösten, und die Männer bewundern mich, wie ich’s dem Kerl gezeigt habe. Sie geben mir nicht das Gefühl, geschändet worden zu sein, schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter. Aber darüber, dass es solche Auswüchse zu DDR-Zeiten nicht gegeben hat, sind sich alle einig.
––Soll ich dem Mädchen nachgehen? Ich habe sie hier noch nie gesehen. Vielleicht weiß sie gar nichts von mir. Ich gefalle ihr einfach, wie ich da selbstvergessen auf der Bank sitze, schreibe und von Zeit zu Zeit scheinbar verträumt in den erlöschenden Himmel sehe. Ich kann den Spätsommerblumen ihren Tod schon anriechen und ich erkenne im Oktober schon den Winter. Durch die Loveparade huscht schon der Trauermarsch.
––Dab-dab-dadada-dab.
––Der Mond nimmt ab.

Das runde Licht kommt auf mich zu. Ein Bursche auf dem Fahrrad, etwas älter als ich. Er radelt langsam, vornübergebeugt, er sieht mich kaum. Sein Mountainbike, sein Polohemd: Das ist der Westen! – Mehr als Mercedes und McDonalds. Das ist Zuversicht, Gelassenheit, Eleganz: Der Cowboy auf dem Pferd, Tarzan zwischen Lianen – der amerikanische Traum, dass der Einzelne es schaffen kann, wenn er nur kräftig genug in die Pedale tritt. Seine muskulösen Oberarme, seine kräftigen Schenkel, die sich gleichmäßig hin und her bewegen. Die Pedale kreisen. Aus der Ferne schimmert noch ein ferner Stern, das Katzenauge. Wie schön er war! Sein breiter Rücken, sein kleiner, anmutiger Po. Das Hemd gab etwas von der Wirbelsäule frei. Oh, könnt’ ich doch sein Sattel sein! Er müsste diese langsame, gleichmäßige Bewegung in mein Gesicht drücken, seine Backen, sein Becken, tief, tief hineinpressen in mich …

Die Augen sehen nur noch leuchtend bunte Kringel,
die Nase wird gequetscht, oh, ich ersticke fast.
Mein Schädel knackt, und immer noch setzt er sich tiefer,
er stemmt sich fester ein, er stemmt sich immer fester ein.
Mit dem Gewicht, dem ganzen seines Körpers, wuchtet er sich:
in mein Gesicht, in meine Sinne, in mein Leben,
dass ich nichts weiter rieche, schmecke, fühle, bin als er.
Ich glaube: Dann wäre ich wahrhaft glücklich.

Wer’s fassen kann, der fasse es!

E N D E

Titel- und Abschlussbild mit Material von Shutterstock: 

Viorel Sima (Mann), Seqoya (Blumen), Dallas Golden (Hintergrund) | 
Mindscape studio (Mountainbike)
, Christian Mueller (Hintergrund)

Wer die schwule Welt ein bisschen leichtfüßiger erleben will, der/die kann das in meinem Blog ‚Homero‘ ganz bestimmt schaffen.

Hanno Rinke Rundbrief

35 Kommentare zu “Nachtluft | 18

  1. „Nach all dem Schrecklichen, das ich durchgemacht habe“?
    Was genau hat er denn nun durchmachen müssen? Hat er nicht selbst all das Schreckliche verursacht? Mussten nicht andere (Benedikt!) Schreckliches durchmachen?

    1. Das sagt der Titel auch schon. Wenn er wirklich noch einmal genau dieselbe Geschichte durchmachen würde wie mit Benedikt, dann ist er aber dümmer oder naiver als ich bisher dachte.

      1. Er ist eben doch nicht ganz zurechnungsfähig. Er bleibt ein Mörder. Und keiner, der seine Tat zu bereuen scheint.

      2. Man dachte eben schon, dass er etwas gelernt hätte. Oder man hoffte zumindest.

      3. Auf dieser Annahme basiert die Cancel Culture. Ich bin aber nicht sicher, dass das stimmt. Menschen können sicherlich lernen und sich dadurch dann auch verändern.

      4. Hmm, das gilt aber doch eher für kleinere Verhaltensmuster. Der Charakter ändert sich ja nicht in einem wirklich spürbarem Ausmaß.

      5. Auch wenn sich der Charakter nicht ändert, finde ich es ganz schön, wenn mir Menschen, deren Charakter mich nichts angeht, höflich begegnen.

      1. Ich glaube schon, dass sie froh wären zu erfahren, dass ihr Sohn kein Sadist war, der junge Männer in der Wohnung einsperrt und zu Unrecht ermordet wurde.

      2. Ich bin nicht sicher. Schließlich heisst es ja im Text sie hätten ihren Sohn noch nie verstanden. An der Situation würde sich ja „nur“ ändern, dass er den Jungen nicht gegen seinen Willen in die Kammer gesperrt hat. Alles andere bliebe wie es ist.

      1. Im Text war doch von Benedikts Eltern die Rede. Und davon, dass sie keinen Sohn mehr haben.

  2. Und nun endet die Geschichte und es bleibt ein bitterer Nachgeschmack. Schon gruselig, dass solche Sachen sicherlich auch im wahren Leben passieren.

    1. Man kann davon ausgehen oder wenn man nicht ganz überzeugt ist zumindest hoffen, dass solche Ereignisse die Ausnahme bleiben.

      1. Es ist ein personifiziertes Denkmodell. Vieles kann ich bei Johannes nachvollziehen: die Angst, die Religiosität, die Unbedingtheit. Den Masochismus nicht. In Schmalkalden bin ich übrigens getauft worden.

      2. Ich kann das ‚Suchen‘ in dem Alter gut nachvollziehen. Alles andere war mir eher fremd.

    2. Ich bin ehrlich gesagt auch ganz froh, dass der Eremit zu Ende geht. Nicht weil ich die Erzählung nicht mochte, sondern weil mir beide Akteure äußerst unsympathisch waren. Benedikt konnte ich noch besser verstehen, zu Johannes hatte ich kaum Zugang.

      1. Gerade das macht die Geschichte natürlich auch spannend. Immer wenn man einen Punkt findet, der die beiden sympathisch werden lässt, wird es doch nochmal schlimmer als erwartet.

      2. „Sympathisch werden lässt“? Sind nicht beide zu Anfang ganz sympathisch? Wenn man das Ende kennt, liest man den Anfang anders.

      3. Ich mochte Benedikt von Anfang an. Nachher hat sich das etwas verschoben. Johannes war interessant, aber man spürte schon zu Beginn, dass da etwas Schlimmes passieren würde.

      4. Ich fand den Jungen zu Beginn des Eremiten auch sympathisch. Aber nachher wurde er mir zu konfrontativ. Naja, und eben auch zum Mörder.

  3. Zum Eremiten ist er letztendlich doch nicht geworden. Ich dachte ja fast, dass er sich nach diesem Erlebnis völlig zurückziehen würde.

      1. Allerdings weitaus weniger zurückgezogen als seine Eremitenkollegen. Und weitaus weniger enthaltsam.

      2. Das Pronomen ‚ein‘ statt ‚der‘ vor ‚Eremit‘ habe ich gewählt, weil auch ich ihn kein gutes Beispiel für diese Einzelgängergruppe fand.

  4. Oh, ich hab eben mal zum Homero rüber geklickt. EIn zweites Standbein? ‚Geschmacklosigkeiten für Feinschmecker‘ fand ich sehr gelungen 😂

    1. Vor allem sehr elegant eingebunden. So ganz ohne große Ankündigung. War der Link von Beginn an in diesem Blogbeitrag? Ich hatte den Eindruck er tauchte erst im Nachinein auf…

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