Die schwer zu beantwortende Frage:
Ist dem Leben mit irgendwelchen Moralvorstellungen beizukommen?

Nehmen wir zum Beispiel einen Mann von 34, Hans Schmidt, oder wenn das zu billig klingt, meinetwegen Gregor Sollendorf. Der Nachname klingt ein bisschen ambitioniert, aber – macht nichts, er kommt nur einmal vor.

Gregor ist unterwegs.
––Wenn man so wie er wohnt, ist es egal, ob man gleich die Autobahn nach Lübeck nimmt, quer durch die Stadt, oder ob man über die Elbbrücken fährt und die Lübecker Autobahn über die Umgehung erreicht.
––Gregor will über Harburg, also den zweiten Weg.

––Der Verkehr läuft flüssig. Grüne Welle, so ziemlich. Man wird ja bescheiden.
––Gregor ist schwul und will jemanden aufsammeln, der ihm die Zeit vertreibt, zumindest während der Fahrt. Schön. An der Autobahneinfahrt stehen genug. Natürlich mit anderem Ziel. Eigentlich. Manchmal ist das ja nur eine Kleinigkeit. Sonst – na wenn schon. In Travemünde hat er Adressen.

––Der Himmel ist blau, es ist warm und noch nicht spät. Wochenende.
––Gregor geht vom Gas. Gleich kommt die Stelle. Er schiebt den Kopf etwas vor, mit starrem Hals. Aussuchen ist anstrengend. Man muss einstufen und abwägen. Ausstrahlung gegen Bereitschaft, blitzschnell. Was nutzt der aufregendste Bursche, wenn nichts zu machen ist?

––Die Vorhut. Der da ist nicht schlecht. Na, mal weitersehn! Nur nichts überstürzen! Wer weiß, was hinter der Biegung kommt.

Oii! Gregor tritt scharf auf die Bremse.
––Der Junge kommt auf den Wagen zugelaufen. „Nehmen Sie mich mit?“
––„Blöde Frage!“, denkt Gregor. Er kurbelt das Fenster runter. „Wohin wollen Sie denn?“
––„Richtung Basel!“
––Gregor öffnet die Tür. „Okay. Steigen Sie ein!“
––Der Junge wirft seinen Koffer auf den Rücksitz, gleitet geschmeidig ins Auto und sitzt plötzlich neben ihm, ein fremder Mensch.
––Erst sieht er gar nicht hin. Er fährt einfach los. Dann ein kurzer Blick. Mensch, ist der gut!
––„Wohin fahren Sie denn?“, fragt er.
––„Ich weiß noch nicht“, sagt Gregor.
––Der Junge sieht ihn von der Seite an. „Kaufmann wahrscheinlich oder sowas.“
––Er guckt wieder nach vorn. Die Abzweigung nach Lübeck rauscht vorbei.
––„Ich war oft genug in Travemünde“, denkt Gregor. Er ist mit sich zufrieden.
––Pläne sind dazu da, um über den Haufen geworfen zu werden. Vorhersehen, berechnen, aber immer auch den Möglichkeiten des Augenblicks nachgeben, Mut zum Neuen, zum Risiko: So sieht er seinen Beruf, so sieht er sein Leben.

„Sie fahren bloß so durch die Gegend?“, fragt der Junge.
––„Eigentlich wollt’ ich ans Meer“, antwortet Gregor.
––Der Junge verzieht keine Miene. „Da haben wir ja dieselbe Richtung.“
––„Wieso?“ Gregor wirft ihm einen kurzen Blick zu.
––„Das Mittelmeer ist doch viel schöner als die Eisjauche hier oben.“
––„Ach, wollen Sie ans Mittelmeer?“
––Der Junge schüttelt den Kopf. „Nein, aber wenn Sie dahin wollen, können Sie mich auf der Strecke absetzen.“
––„Ziemlich kess“, denkt Gregor und er fragt: „Wo soll ich Sie denn absetzen?“
––„In Lugano“, antwortet der Junge, „ich muss nach Lugano.“
––„Sie müssen nach Lugano?“
––„Ja“, sagt er kurz.
––Gregor fragt nicht weiter. Er denkt: „Bis in die Heide kann ich ihn ja mitnehmen, und dann … Eigentlich auch doof, na mal sehn.“
––„Kennen Sie Lugano?“, fragt der Junge.
––„Nicht sehr gut. Ich war nur ein Mal da, vor drei Jahren, als ich nach Genua musste.“
––„Nach Genua? Beruflich?“
––„Nein. Genauer gesagt, ich wollte nach Portofino. Freunde von mir waren da.“
––„Haben die da ’ne Jacht?“
––„Nur ein kleines Boot.“
––„Sie wollen mich wohl durch schlichtes Leben beeindrucken?“, fragt der Junge.
––„Sicher!“ Gregor grinst. „Der Wagen ist von meinem Onkel. Ich bin nur sein Chauffeur.“
––„Sie sehen eher aus wie ’n Butler“, sagt der Junge.
––„Wieso?“
––„Ich könnt’ mir gut vorstellen, wie Sie mir den Tee servieren, so mit ’m Chippendale-Tablett auf einer Hand.“ Er macht die Bewegung vor. Es sieht ziemlich komisch aus.
––„Unverschämter Bursche“, denkt Gregor. „Bei Garstedt schmeiß’ ich ihn raus. Da kann er sehen, wie er nach Lugano kommt.“

Der Junge sieht aus dem Fenster.
––„Ist das die ganze Zeit über so langweilig?“, fragt er. „Ich bin die Strecke noch nie mit dem Auto gefahren.“
––„Fliegen ist natürlich abwechslungsreicher“, sagt Gregor.
––„Find’ ich nicht.“ Der Junge nimmt es ganz ernst. „Wenn der Kahn immer nur zwischen den Wolken rumgurkt, hat man auch nicht viel davon.“
––„Fliegen Sie oft?“, fragt Gregor und verzieht das Gesicht.
––„Meinen Sie privat oder geschäftlich?“
––Gregor antwortet nicht.
––Sie fahren eine Weile, ohne zu sprechen.
––Die Ausfahrt Maschen rauscht vorbei. Gregor biegt ab nach Hannover.
––„Übrigens, ich heiß Mark“, sagt der Junge.
––„Außerordentlich angenehm!“, Gregor deutet eine leichte Verbeugung an, „nehmen Sie doch bitte reichlich Platz!“
––„Danke!“ Mark wirft den Kopf hoch. „Ich steh’ lieber.“
––Sie fahren wieder ein Stück schweigend.
––„Wenn ich Ihnen mit meinem Namen zu dicht getreten bin, dann seien Sie doch so gut und vergessen ihn gleich wieder, oder nennen Sie mich Herr Schulze, das ist mein Pseudonym“, sagt der Junge und dreht den Kopf weg von Gregor. Er sieht aus seinem Seitenfenster. „Ich dachte nur, wenn wir so ’ne weite Strecke zusammen fahren, dann könnten wir uns bekannt machen. Höflichkeit, verstehn Sie? Umgangsformen!“
––„Wir fahren überhaupt keine weite Strecke zusammen“, sagt Gregor bestimmt. „In Hannover setz’ ich Sie ab.“

––Mark rutscht etwas tiefer und schiebt die Beine leicht auseinander. Seine Hosen sitzen sehr eng.
––„Und wenn du dir die Hose ganz runterzerrst, dann schmeiß’ ich dich schon in Soltau raus“, sagt Gregor.
––„Was für schmutzige Gedanken Sie haben, wenn man’s sich ’n bisschen bequem machen will. Halten Sie an! Ich will aussteigen.“

Der Wagen fährt 150. Blauer BMW 2002.
––„Deutscher Protzerwagen“, denkt Mark, „aber wenn man drin sitzt, ganz in Ordnung.“ Er sieht aus dem Seitenfenster. „Gucken Sie ma’, die Heide blüht.“
––„Wollen Sie spazieren gehen?“
––„Ich würd’ Ihnen gern ’n Strauß pflücken.“
––Gregor muss unwillkürlich lachen.
––„Freilich, die Schweizer Alpenblumen sind würziger“, sagt Mark, „vielleicht schieben wir’s auf bis zu den Gebirgsmatten.“
––„Freilich werden Sie die ohne mich sehen, aber vielleicht trocknen Sie mir ein paar Blüten“, schlägt Gregor vor.
––Mark zuckt die Achseln: „Wie ich Sie einschätze, stehn Sie doch nur auf Edelweiß.“
––Gregor funkelt ihn an, ganz kurz, aber durchdringend. „Irrtum. Almenrausch.“
––Mark zieht sich in seinen Sitz zurück.
––Gregor sieht auf die Fahrbahn. Am Horizont fängt die Luft an zu vibrieren.
––Sie wechseln eine halbe Stunde lang kein Wort.
––Ein Schild fliegt vorbei, dunkelblau, mit weißem Rand und weißer Schrift. Ein Pfeil weist auf die Ausfahrt hin.
––Mark pfeift leicht durch die Zähne.
––„Ach ja, das liebe Soltau“, seufzt er und kratzt sich umständlich.
––„Haben Sie Flöhe?“, fragt Gregor.
––„Nein, Filzläuse.“

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Hanno Rinke Rundbrief

39 Kommentare zu “2.01 | Worum es geht

    1. Ich mag ihn auch. Der Humor gefällt mir. Wenn man schon jemanden als Anhalter mitnimmt, dann freut man sich doch über so einen Gesprächspartner.

      1. Ich habe vor Jahren mal einen Anhalter mitgenommen, den ich danach kaum wieder aus dem Auto bekommen habe. Das war echt ein sehr unangenehmes Erlebnis.

      2. Die Rollen waren genau anders herum verteilt, aber man denke an Lars von Triers letzten Film…

  1. Die beiden scheinen sich ja gut zu verstehen. Es ist ja immer ein gutes Zeichen wenn man auch mal eine halbe Stunde nebeneinander sitzen kann ohne zu reden.

    1. Der Fahrer fährt ja scheinbar sogar anstatt an die Ostsee bis zum Mittelmeer. Naja, mal schauen wie weit die Fahrt gehen wird.

      1. Oder schmeißt ihn in Hannover raus. Das wäre für den Fortgang der Handlung allerdings nicht sehr dienlich.

      2. Auch bis Hannover kann noch viel passieren. Lieber eine Kurzgeschichte mit Wumms als ein selbstverliebter Roman.

      1. Oh ja. Die beiden haben sich wohl auch nicht ausgesucht miteinander zu arbeiten. Das war keine große Freundschaft.

    1. Er sucht ja eigentlich nur einen Zeitvertreib für der Fahrt. Dass er nun möglicherweise alle Pläne über den Haufen wird und mit dem Jungen weiterfährt, naja sowas sollte man doch viel häufiger machen.

      1. Jedenfalls wenn man nicht gerade Zigaretten holt oder Überstunden macht.

      1. Oh, daran, dass die Beute über die Dauer der Fahrt noch größer werden könnte, hatte ich noch nicht gedacht.

  2. In Lugano ist es sicher deutlich wärmer als hierzulande. Ich würde am liebten gleich mit ins Auto springen.

      1. Besser als -1° in Berlin wäre das auf alle Fälle. Aber wie war das, es gibt kein schlechtes Wetter, nur unpassende Kleidung…

  3. Dem Leben ist ja generell nur schwer beizukommen. Ein paar moralische Grundwerte helfen aber. Es wird nur schwierig, wenn man sich über den Inhalt dieser nicht mehr einig werden kann.

      1. Mal schauen welche Moral und welche Vorstellungen die frisch vereidigte Ampel für uns parat hat. Es sind ja ohne Frage schwierige Zeiten für Scholz und Co.

      1. Hab ich noch nicht gemacht. Aber die Taxifahrer hier sind auch nicht so sonderlich sexy.

      2. Mir ist bei Taxifahrern auch wichtiger, dass sie vertrauenswürdig und zuvorkommend aussehen als dass sie hübsch sind. Ich möchte während der Fahrt jemanden im Auto haben, mit dem ich mich nett unterhalten kann. Wenn man die ganze Strecke still beieinander sitzt, das ist mir immer recht unangenehm.

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