Der Wagen fährt langsamer, noch langsamer, steht.
––Gregor öffnet die Augen.
––„Schlange“, sagt Mark. „So weit man sehen kann Autos.“
––Gregor richtet sich auf: Beide Spuren sind verstopft.
––„Wir hätten früher fahren sollen“, sagt Mark. „Ich hab’ fast ’ne Stunde auf dich gewartet.“
––Gregor lehnt sich wieder zurück. „Tut mir leid, mein Rasierschaum wurde nicht steif.“
––„Rasierst du dich nass?“
––„Ja. Ich hab’ sehr starken Bartwuchs. Elektrisch reicht bei mir nicht.“
––„Wie eindrucksvoll! Benutzt du ’n Pinsel?“
––„Nein, ich seif’ mich so ein. Mit der Hand, verstehst du?“
––„’türlich. Ich hab’ für alles Verständnis.“

Es geht ein Stückchen vorwärts.
––Mark legt den Gang ein und rückt auf. „Wir nähern uns unserm Ziel“, erklärt er.
––„Ich hab’ nichts mit für die Nacht“, sagt Gregor.
––„Zahnbürsten gibt’s an jeder Tankstelle, Bart steht dir und Schlafanzug – da kannst du meinen haben. Ich schlaf’ sowieso lieber nackt.“
––„Warum hast du dann überhaupt einen mitgenommen?“, fragt Gregor.
––Mark fährt wieder an. „Ich weiß doch, wie vergesslich du bist.“
––Gregor seufzt.
––Sie stehen schon wieder.
––„Wollen wir im nächsten Rasthaus was essen?“, fragt er.
––Mark zuckt die Achseln. „Ist mir egal. Ich würd’ ganz gern was trinken, aber das hat Zeit, bis wir das nächste Mal tanken müssen.“

Es ist sehr heiß im Wagen. Beiden steht der Schweiß auf der Stirn.
––„Ach, lass uns mal lieber eine Kleinigkeit essen“, sagt Gregor. „Wenn es in dem Tempo weitergeht, wird das ohnehin kein Mittag mehr.“
––„Fünf-Uhr-Tee mit Kaffee und Kuchen“, schlägt Mark vor.
––„Magst du Süßigkeiten?“, fragt Gregor.
––Mark fährt an. „Safran macht den Kuchen gehl“, verrät er.
––„Wenn du mal aufhören willst, Künstler zu werden, stell’ ich dich glatt ein“, sagt Gregor. „Du kennst ja die ausgepichteste Schliche unserer Innung.“
––„Danke, Mister!“ Mark tritt die Bremse.
––„Vielleicht vertrauen Sie mir erst mal ’ne Kampagne für Feinbrot an.“
––„Nicht nötig. Es verkauft sich auch so.“
––„Ich garantier’ dir aber, ich verkaufe es dir noch viel besser. Die Kinderchen würden sich für dein Naschwerk die Schädel einkloppen und die Mütter stünden gerührt kauend daneben.“
––„Ich fürchte, das würde unsere Kapazitäten doch stark überlasten“, fürchtet Gregor.
––„Dann bau an! Los, investier was!“
––„Jetzt?“, fragt Gregor.
––„Aber sicher! Antizyklisch denken!“
––„Gut, dann sei erst mal so progressiv weiterzufahren!“, sagt Gregor und zeigt auf die Autoschlange, die sich wieder in Bewegung gesetzt hat. Es geht jetzt langsam, aber sicher vorwärts.

„Au Mensch, hat’s die erwischt!“ Mark beugt sich vor und sieht auf die beiden Wagen, die schrottreif am Fahrbahnrand stehen. Scherben und ratlose Gesichter. Zwei Polizisten leiten den Verkehr um die Unfallstelle herum.
––„Fahr lieber etwas vorsichtiger!“, sagt Gregor.
––Mark nickt. „Aber wenn da so einer ausschert wie vorhin …“
––„ … dann ist es auch besser, wenn man nicht so rast!“ Gregor kommt sich zimperlich vor.

Der Stau löst sich allmählich auf.
––Mark tritt aufs Gaspedal und beobachtet den Tacho: Die Nadel geht auf 130 und pendelt sich ein.
––„Soll ich wieder fahren?“, fragt Gregor.
––Mark schüttelt den Kopf. „Noch nicht. Wenn wir tanken müssen, können wir wechseln.“

Gregor sieht an Mark herunter.
––Sein Gesicht ist konzentriert, aber der Oberkörper ist entspannt, das linke Bein hat er leicht abgewinkelt. Die schwarze Hose sitzt eng am Oberschenkel und wird unter dem Knie ziemlich weit.

„Wohnst du zu Hause?“, fragt Gregor.
––„Seh’ ich so aus?“, fragt Mark zurück.
––„Wenn du damit die gute Kinderstube meinst: nein.“
––„Ich hab’ mit drei Freunden eine Wohnung gemietet. Fünf Zimmer. Geht ganz gut.“
––„Welche Gegend?“, fragt Gregor.
––„Eimsbüttel. Und wo wohnst du?“
––„Pass auf!“, schreit Gregor.
––Mark bremst scharf. „Hab’ ich doch geseh’n.“
––„Davon hat man aber nichts gemerkt.“ Gregor wischt sich über die Stirn. „Nach der Fahrt brauch’ ich tatsächlich Urlaub.“
––„Ja, fahr ’n paar Tage ans Meer! Costa Brava. Riviera. Adria.“
––„Kommst du mit?“, fragt Gregor.
––„Leider nein. Aber die Sonne scheint für dich allein genauso schön: Pinien, Strand und weiche Wellen.“
––„Entwirfst du auch Reiseprospekte?“
––„Bisher nicht.“
––„Versuch’s doch mal mit einer Mittelmeerwerbung“, Gregor ist wieder entspannt.
––Mark denkt einen Augenblick nach, dann sagt er: „Ein winzig kleiner Knabe schwamm auf dem weiten Meer. Da kam eine große Panik. Der Knabe schwimmt nicht mehr.“

Gregor erschrickt. Ganz plötzlich, ganz tief. „Das ist aber eher ein altes Volkslied“, sagt er. „Nicht sehr werbend.“
––„Aber sehr wirksam. Was sich einprägt, zählt. Auch wenn es abstößt. Auch wenn es wehtut. O. K.?“
––Gregor zuckt die Achseln. „Vielleicht im Leben. Aber in der Werbung?“

Autobahndreieck Karlsruhe.

Freiburg/Basel rechts, Stuttgart geradeaus.
––„Rechts“, sagt Gregor automatisch.
––Mark hat keine Ahnung. „Ich weiß“, sagt er.
––Der Tacho steht schon wieder auf 150.
––Gregor sagt nichts. Mark geht auch so vom Gas.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: studioloco (Kopf Mann re.), Roman Samborskyi (Mann li.; Unterkörper mit Lenkrad, re), BortN66 (Rasierschaum), Picsfive (Papier) und Unsplash: Arie Wubben (Auto li.), Bethany Reeves (Auto Mi.), Dmitry Novikov (Auto re.) | IhorL (Hand)

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “2.04 | Im Stau

      1. Starren alleine hilft aber noch nicht wenn man darauf aus ist den sexuellen Stau zu vermeiden. Gregor scheint auch eher passieren zu lassen als die Initiative zu ergreifen. Wie auch immer sich diese Beziehung entwickelt scheint mir eher von Mark abzuhängen.

      2. Gregor hat die Initiative ergriffen, eine ungeplante Reise anzutreten. Jetzt auch noch ins Steuer zu greifen, wäre eher tödlich.

      3. Er hat ja eher die Abfahrt verpasst als sich bewusst für diese ungeplante Reise zu entscheiden. Aber vielleicht zählt das als „go-with-the-flow“.

      4. Das ist verständlich. Wer bei so etwas nicht schnell reagiert bereut dies ja sonst möglicherweise.

  1. Bei all der Spontanität, die Gregor bisher zeigt, wundert mich ja, dass er so ein ängstlicher (oder vorsichtiger?) Fahrer zu sein scheint.

  2. Mich interessiert immer noch ob Mark immer noch so freundlich sein wird, wenn er an seinem Ziel angekommen ist. Oder ob er doch sofort über alle Berge ist.

      1. Ja stimmt. Am Anfang hatte man noch das Gefühl er weiss selbst nicht so richtig wie ihm geschieht. Mittlerweile scheint er sich ja mit der Situation abgefunden bzw. angefreundet zu haben.

  3. Dieses Lied vom Knaben ist wirklich nicht sonderlich werbewirksam. Es passt zwar zu Mark, es passt zur Situation, es hält mich neugierig. Zum Buchen einer Kreuzfahrt würde es mich aber wohl kaum bewegen. Soll es aber bestimmt auch gar nicht.

  4. Bei Gregor hat sich ja anscheinend einiges aufgestaut. Nur ob es am Ende der Erzählung zum großen Release kommt … hmmm, ich bin noch nicht so sicher.

    1. Wir sind ja erst in Karlsruhe. Falls die zwei wirklich bis Lugano fahren ist also noch eine ganze Weile Zeit. Da kann noch viel passieren, oder eben nicht.

      1. Hahaha, ist das das Prinzip nachdem die Bundesregierung(en) die Coronaregeln aufstellen?

      2. Das ziemlich mutlose Prinzip: lieber gar nichts machen als etwas Verkehrtes. Hätten unsere Vorfahren so gedacht, dann wären wir noch in der Höhle geboren und hofften auf den Gott, der uns das Feuer bringt.

      3. Das ist ein guter Punkt. Ein bisschen mehr Mut wünsche ich mir auch oft. Wie soll man sonst etwas verändern?

      4. Also wer nochmal wiedergewählt werden möchte hat ja leider selten Mut. Da wird es einfacher wenn sich die politische Karriere sowieso schon dem Ende zuneigt.

      5. Angela Merkel ist, als sie keine Wiederwahl mehr anstrebte, keineswegs mutiger geworden. Margaret Thatcher hat den Krieg um die unbedeutenden Falklandinseln eröffnet und ist glorreich wiedergewählt worden. Die Jalta-Annexion hat Putin innenpolitisch genützt. Nichtstun wird nicht automatisch vom Wähler belohnt.

      6. Das wird übrigens auch Biden bald merken. Wobei er einem ja fast leid tun kann. Es liegt ja weniger an ihm als an den sogenannten „moderaten“ Demokraten wie Manchin. Die Quittung wird es bei den Midterms trotzdem geben.

      7. Ich finde die Welt im Augenblick ohnehin so, dass es Corona nicht gebraucht hätte, damit wir aufhören, uns in Sicherheit zu wiegen.

      8. Definitiv. QAnon in Amerika lässt einen im gleichen Maß erschaudern wie die starken Rechten in Frankreich oder der AfD-Vorsitz im Innenausschuss. Warum werden die Menschen eigentlich immer wütender? Uns geht es als Land doch nicht schlechter als vor einem Jahrzehnt.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

2 × 4 =