Sie umgehen Luzern. Als sie auf den See stoßen, hat die Dämmerung eingesetzt. Zum ersten Mal die Berge. Blau, steil. Die Häuser mit den tief gezogenen Dächern.
––Zypressen. Eine Ahnung von Süden. Still das Wasser. Die Fähre malt zwei Linien.
––„Wie eine Schleppe“, sagt Gregor.
––„Schneckenspur“, sagt Mark.
––Ein anderes Klima, eine andere Landschaft.
––Ausnahmezustand. Überraschung für beide.

Mark ist jetzt ganz mit der Strecke beschäftigt, die kurvenreich aufwärtsführt.
––Gregor holt aus dem Handschuhfach einen kleinen Block und einen Kugelschreiber. Er beginnt, etwas auf das Papier zu kritzeln.
––Sie fahren durch Tunnel.
––„Schreibst du mir einen Abschiedsbrief?“, erkundigt sich Mark.
––Gregor wiegt den Kopf hin und her. Er schreibt noch eine Weile mit mehreren Unterbrechungen und sagt dann: „Hör zu, die Vorgeschichte von dem kleinen Knaben auf dem großen Meer.“

Mark lacht. „Er scheint dich zu beschäftigen.“
––Gregor liest vor:

Ein bettelarmer Knabe
ging nackt am weiten Meer,
und alle seine Habe,
die trug er vor sich her.

Dem schönen, schlauen Kinde
waren die Hände leer:
Er ging mit leeren Händen –
sein Kapital war er.

Der selbstbewusste Knabe,
er trug daran so schwer.
Das gab ihm Mut, er wagte
sich in das tiefe Meer.

Der Knabe, unser Knabe,
ging in das tiefe Meer.
Und – wehe! – seine Habe,
die schrumpfte dabei sehr.

Der Knabe, wissensdurstig,
setzt sich nicht mal zur Wehr.
Doch Mut und was er sonst hat,
die schrumpfen immer mehr.

Ein winzig kleiner Knabe
schwamm auf dem weiten Meer.
Da kam eine große Panik …

„Findst du das Märchen fair?“, fragt Mark.
––„Bravo!“ Gregor ist begeistert. „Vorher war es nämlich kein richtiger Reim. Ich konnte mir keinen drauf machen. ‚Fare‘ wie ‚Fahrgeld‘, ‚fair‘ wie ‚play‘. Einsatz gegen Einsatz. Ein faires Spiel.“
––Auf der rechten Seite ist eine Öffnung in die Felswand geschlagen. Tunnel mit Aussicht. Ein Stück überbelichtete Landschaft fegt vorbei.
––Gregor kneift die Augen zu.
––Jenseits der Tunnelnacht ist der Abend fortgeschritten.
––„Ich könnte jetzt immer weiterfahren.“ Marks Stimme klingt verträumt.
––„Vielleicht wird es nie etwas Schöneres geben als diesen Augenblick“, denkt Gregor und er sagt: „Trotzdem sollten wir bald ein Hotel suchen.“
––Mark nickt.
––Kein starker Verkehr. Die Urlaubszeit geht zu Ende. Zimmer frei. Herz belegt.

Sie fahren durch einen Ort, aber sie können sich zu nichts entschließen. Jeder fürchtet, der andere würde „hier!“ sagen und die Stimmung brechen.
––Mark schaltet die Beleuchtung ein. Er senkt die Geschwindigkeit.
––Ein Tunnel. Eine Biegung. Ein Gitter. Abgrund.
––„Ist es nicht gefährlich, Anhalter mitzunehmen?“, fragt Mark.
––„Ist es nicht gefährlich, zu fremden Leuten ins Auto zu steigen?“, fragt Gregor.
––Abend. Der Mond zeichnet sich kräftiger ab.
––„Wär das was?“ Mark bremst.
––„Wir können’s versuchen“, sagt Gregor.
––Mark fährt auf den Parkplatz.
––Am Steuer wirkt er manchmal etwas unbeholfen, findet Gregor.
––Sie steigen aus, treten von einem Fuß auf den anderen.
––„Ich kann meine Beine nicht mehr bewegen“, sagt Mark.
––Gregor umfasst ihn, als müsse er ihn stützen.
––Sie gehen langsam auf den Eingang zu.
––Mark schiebt Gregor vor.
––Fade Atmosphäre von holzgeschnitzter Unpersönlichkeit.
––Eine Frau tritt ins Licht: „Guetenaabig mitenand.“
––„Guten Abend. Können wir bei Ihnen übernachten?“
––„Einzel- oder Doppelzimmer?“, fragt sie.
––„Doppelzimmer“, antwortet Gregor, ohne zu überlegen.
––Mark sagt nichts.
––Die Frau steht über eine Liste gebeugt.
––„Ich hab’ nur noch mit Bad.“
––„Ja, das wäre uns recht“, sagt Gregor. Er sieht Mark nicht an.
––„Nummer 23. Haben Sie Gepäck?“
––„Einen Koffer. Ich hol’ ihn“, sagt Mark. Er geht hinaus.
––Gregor wartet mit der Frau, bis Mark zurückkommt.
––Sie läuft vor.
––Stufen, roter Läufer.
––Mark geht hinter Gregor.
––Ein Gang.
––Sie öffnet eine Tür.
––Sie treten ein: ein großes Bett. Nachttische, Stühle, ein Tisch mit Decke, zwei bunte Bilder, geblümte Tapete, braune Vorhänge, Teppich über Bohlen: ein Zimmer. Und noch ein Raum, klein und gekachelt: das Bad.
––„Sehr schön“, sagt Gregor ausdruckslos.
––„Wenn Sie mir dann bitte Ihre Pässe geben würden.“ Sie nimmt die Ausweise in Empfang, „Danke sehr!“, und geht aus dem Zimmer.
––Vor dem Fenster liegt die Straße. Der See, die Berge, die Schweiz.
––Sie sehen sich an, zum ersten Mal in einem Haus.
––Gregor denkt: „Ich muss etwas sagen, irgendetwas.“
––Mark steht mitten im Raum. Er hat die Arme verschränkt und die Beine leicht gespreizt:
––„Ich lade dich zum Essen ein“, sagt er. „Und wenn’s dir recht ist, ziemlich bald.“
––„Worte sind Laute“, denkt Gregor. Aber sie haben Folgen.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: HappyAprilBoy (Bett), Roman Samborskyi (Mann re.), Viorel Sima (Mann li.), studioloco (Kopf li.), Picsfive (Papier o.) | Khakimullin Aleksandr (Papier u.)

Hanno Rinke Rundbrief

36 Kommentare zu “2.07 | Des Knaben Wunderhorn

    1. Da sollte man sich eher auf Parabeln fokussieren. Die sind zwar auch nicht immer lustig, aber immerhin fairer. Aber letztendlich ist ja auch das Leben nicht unbedingt fair. Was will man also von den Geschichten erwarten?

      1. Oder mit einem Vorhängeschloss an den Zaun einer hübschen Sehenswürdigkeit gekettet zu werden.

      2. Das ist wirklich einer der schlimmsten ‚Bräuche‘, die es gibt. Wem ist eigentlich diese idiotische Idee gekommen? Und warum hat sich das unter jungen Verliebten Pärchen durchgesetzt? Ein Schloss als Symbol für Liebe – unsinniger geht es ja nicht.

      3. Schon um das Jahr 1180 entstand das Gedicht:
        Dû bist mîn, ich bin dîn.
        des solt dû gewis sîn.
        dû bist beslozzen
        in mînem herzen,
        verlorn ist das sluzzelîn:
        dû muost ouch immêr darinne sîn.

  1. Die beiden sind zum ersten Mal zusammen in einem Haus… und wohl sogar zum ersten Mal in einem Raum. Dass sie sich ein Hotelzimmer teilen wollen überrascht mich ja schon.

      1. Ich finde ja sowieso, dass beide durch diese Autofahrt eine ganze Menge gewonnen haben. Ich glaube weder Gregor noch Mark hätte sich erhofft mehr als eine mehr oder weniger anonyme Begegnung zu haben. Die beiden haben doch eine Chemie die weit über sowas hinaus geht.

      2. In der Schule fand ich den Chemieunterricht immer spannender. Explodiert ist zwar nie so richtig was, aber dafür gab es später im Leben genügend kleine Explosionen. Zum Glück immer im übertragenen Sinne.

  2. Ich dachte auch immer, dass es gefährlich ist Anhalter mitzunehmen. Das ist aber zum Teil wohl einfach weil ich zu ängstlich bei so etwas bin.

      1. Gregor wäre ja gar nicht so weit gefahren, aber alleine bis Lugano stelle ich mir ganz alleine vor allem als eines vor: unsagbar eintönig.

      1. Im Luganer See. Von Gregor erdrosselt. Aus Eifersucht auf Iris. Eine Tragödie.

      2. Eine Farce. Aber keine gute. John Cleese schreibt: „Bad farce is embarrassing. Worse than that. Excruciating.“ Also darf sich die Leserschaft auf ein anderes Ende freuen, und diese Vorfreude kann ihr kein noch so gemeiner Schrifsteller nehmen.

      3. Das sollten sich die Drehbuchschreiber in Hollywood, bei Netflix, im deutschen Fernsehen mal zu Herzen nehmen.

  3. Ich kann überhaupt nicht abschätzen wohin die Reise für Gregor und Mark noch gehen wird. Mir gefällt es allerdings überaus gut sie dabei zu beobachten.

      1. Ich glaube keiner der Beiden hat wirklich damit gerechnet, dass sie zusammen in Lugano enden würden. Gregor hat sich selbst treiben lassen, Mark konnte sicher nicht ahnen, dass Gregor die Fahrt wirklich durchziehen würde.

      2. Im nächsten Kapitel teilen sie sich wohl das Hotelzimmer. Da dürfte man mehr zu dem Thema erfahren.

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