Sie sitzen in der Gaststube. Holz und Zinn und Steingut. Gläser stehen vor ihnen. Teller. Um sie herum sind Menschen, ist matte Beleuchtung. Geschäftigkeit und Lachen. Weil alles fremd ist, gehören sie zusammen. Sie essen. Hungrig und doch stockend. Hier und jetzt haben sie nur sich. Darum lehnen sie sich gegeneinander und lehnen sich gegeneinander auf.
Ein dritter Pflümli. Ein zweites Bier.

„Ich würde gern etwas mehr von dir wissen“, sagt Mark. „Wie bist du, wie denkst du? Wie ist dein Leben?“
––„Mein Leben!“, Gregor sieht auf seinen Teller. „Mein Leben ist sehr zufriedenstellend. – Das Leben und ich, wir sind zwei eigenartige Kumpane. Es mag mich nicht besonders. Aber das beruht auf Gegenseitigkeit.“ Er trinkt einen Schluck. „Ich habe ein paar Handicaps. Aber mir ist immer alles glattgegangen. Das ist ein bisschen enervierend, verstehst du?“ Er zuckt die Achseln. „Man wird misstrauisch.“
––Mark lächelt ihn an. „Ich glaub’, bei mir ist eine ganze Menge schiefgelaufen, aber das hat mich auch nicht weitergebracht.“
––„Weiterbringen, von wo nach wo?“, fragt Gregor. Er hat den letzten Bissen gegessen und legt die Gabel auf den Teller. „Es ist der Kern. Der Kern ist irgendwie verkehrt.“ Er kippt den Pflümli in einem Schluck und sieht auf die Katze, die geräuschlos vorbeihuscht. „Jede hergelaufene Straßenkatze bedeutet mir mehr als der treueste Hund. Schlimm, nicht?“
––Mark spielt mit dem Bierdeckel. Er fühlt sich dem Gespräch auf eine merkwürdige Art nicht gewachsen.
––„Sie zu berühren, damit sie schnurrt.“ Gregor fächert die Finger auseinander. „Diese Wärme, die Erregung …“
––Mark will ihn unterbrechen. „So viel fehlgeleitete Sinnlichkeit“, sagt er halb im Scherz.
––„Wieso fehlgeleitet?“ Gregor sieht auf. „Was kann an Sinnlichkeit, was kann an der Fähigkeit, Dinge um ihrer selbst willen zu bewundern, zu begehren, zu lieben – was kann daran fehlgeleitet sein?“
––Mark hat den Teller nur halb leer gegessen. Aber er fühlt sich plötzlich zu. Oder zu offen. „Wissen, wie das ist“, denkt er. Hingabe, Erschrecken, Trauer. Das Nicht-Zärtliche, Nicht-Heitere.
––„Woran denkst du, Mark?“
––„Ich weiß es nicht. An Iris.“ Er trinkt sein Bier aus. – Iris: stürmisch, zärtlich, kühl. Iris liebt mich. Liebt sie mich? – Mark winkt dem Mädchen.
––Es schreibt Beträge auf einen Block und schiebt ihm den Zettel hin.
––Er zahlt.
––Sie gehen nach oben. Es ist dunkel und eng. Als sie auf dem Treppenabsatz stehen, berührt Mark Gregor am Ellbogen. „Danke“, sagt er, „Danke für alles!“
––Gregor umfasst ihn. „Ich werde dir nicht wehtun.“

Beieinanderliegen. Alles an dir ist schön. Schon deine Nähe ist Zärtlichkeit, dein Lächeln Liebkosung.
––Ich entdecke Möglichkeiten: der Arme, der Beine, des Mundes. Nie geschehene Berührung. Dein Atem. Ich erforsche dein Leben, das sich wölbt. Hebt und senkt. Welche Ruhe! Welche Geborgenheit. Eine rätselhafte, unerklärbare Empfindung.
––Schläfst du? Ich schweige. Ich schwinge, ohne den Boden zu berühren.
––Mein Gott, warum weiß man so etwas nicht vorher?
Diese allumfassende Sehnsucht und Erfüllung. Ich sehe dich an, und nichts ist in mir, das dich nicht braucht. Nichts, das nicht alles von dir fühlen, wissen, kennen will.
––Du schläfst. Du bist bei mir. Ich bin bei dir.
––Du schläfst und ich schweige.

Der Tag. Das Licht.
––Mark öffnet die Augen. „Beobachtest du mich?“ Er lacht.
––Marks Lachen. Diese Herzlichkeit, diese Wärme, dieser Charme. Für wen? Für jeden? Für niemanden? Für Iris – für ihn?
––Gregor streicht ihm übers Gesicht. Gestern morgen noch hat er ein beliebiges Abenteuer gesucht, vielleicht – ungedacht, kaum erhofft – irgendeinen Körper, dessen Ausdrucksmöglichkeiten sich mit seinem verbunden hätten. Heute …
––„Bist du traurig?“
––Gregor schüttelt den Kopf. „Nein! Ganz bestimmt nicht.“
––„Dann ist ja gut!“ Mark springt aus dem Bett und öffnet die Gardinen. „So ein Dreck!“
––Es gießt in Strömen.
––„Hast du es nicht gehört?“
––„Ich hab’ nicht drauf geachtet. Wie viel Uhr ist es?“
––„Gleich acht.“
––„So spät schon!“ Mark geht ins Bad. Er rasiert sich, putzt sich die Zähne, wäscht sich.
––Gregor liegt im Bett und raucht eine Zigarette.
––„Du bist dran!“ Mark tappt heraus und greift nach seiner Hose.
––Gregor steht auf, um sich fertig zu machen. – Nichts planen, nichts zerstören … – Als Gregor aus dem Bad kommt, steht Mark vor dem Fenster und starrt in den Regen.
––„Ist was?“, fragt Gregor.
––Mark dreht sich um. „Nein. Was soll sein?“
––Gregor lacht. „Ich weiß nicht.“ Er zieht sich an.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: studioloco (Kopf Mann re.), kiuikson (Körper Mann re.), Pixel-Shot (Bierglas), Aleksey Boyko (Teller), , autsawin uttisin (Papier), Roman Samborskyi (Mann li.) | fotodrobik (Katze)

Hanno Rinke Rundbrief

30 Kommentare zu “2.08 | Mehr wissen

    1. So empfinde ich das auch. Als vorweihnachtliche Erzählung ist das wirklich genau richtig ausgesucht. Ich freue mich jedes Mal über den neuen Abschnitt.

      1. Das freut dann auch mich. Als ich die Geschichte vor fünfzig Jahren schrieb, war die Selbstverständlichkeit dieser Begegnung alles andere als selbstverständich. Darum ging es mir aber, ein Zusammentreffen ganz ohne die Dämonie der ‚Niemals und auch dann nicht‘-Erzählungen.

      2. Interessant wie sich der Blickwinkel mit der Zeit verschiebt – und wie selbst eine geschriebene Geschichte auf einmal anders erscheinen kann.

      3. Genau das macht doch große Geschichten – oder alle gute Kunst – letztendlich aus. Je nach Perspektive ergeben sich immer wieder neue Gedanken und Erkenntnisse.

  1. Ich bin ja nicht überrascht, dass Mark mit Gregor auf dem Zimmer gelandet ist, aber doch darüber, dass es so schnell und unkompliziert passiert ist.

      1. Ob da mehr passiert als Gregors Gedanken, lasse ich bewusst offen. Was also ‚wirklich wahr‘ ist, bleibt dem Leser und seiner Partnerin überlassen.

  2. „Nichts zerstören“ ist manchmal schon schwer genug. Aber gleichzeitig ist es ein guter Ratgeber um jegliche Art der Beziehung intakt zu halten. Respekt für den anderen und die Umstände, in denen man sich findet.

  3. Ahh, das hier ist wieder so ein wahrer Rinke-Satz: Weil alles fremd ist, gehören sie zusammen. Das klingt im ersten Moment banal, aber genau so ergeben sich eine Menge Freund- und Liebschaften. Zusammengehörigkeit ist eben ein starkes Ding.

    1. Dann bleibt genau hier aber auch die Frage was passieren wird, wenn (oder falls) sie tatsächlich bei Iris in Lugano ankommen. Da wäre dann nämlich nur noch Gregor fremd.

  4. Ich kenne Gregors Misstrauen. Wenn immer alles glatt läuft muss irgendwann mal ein großer Knall kommen. Alles andere wäre statistisch ein Wunder.

    1. Deshalb darf man sich aber auch nicht einschüchtern lassen. Man muss ja nicht gleich übermäßig nachlässig oder leichtsinnig sein, aber ein Leben in Angst vor etwas Schlimmem macht auch keinen Spaß.

      1. Wenn man schon alle Gewissheiten hätte, bräuchte man doch auch gar nicht mehr leben.

      2. Ich glaube, in Gewissheit zu leben, kann Selbstgerechten großen Spaß machen: Ich lasse mich nicht impfen, also werde ich nicht unfruchtbar. Ich ficke nur zum Kinderkriegen, also komme ich in den Himmel.

      3. Und wenn im Himmel nun 2G ist? Naja, man soll ihnen die Selbstgewissheit ja nicht nehmen.

    1. Stimmt. Was in dieser Nacht tatsächlich passiert wird ja gar nicht explizit erwähnt. Aber selbst, dass diese beiden Männer miteinander im Bett liegen … ob nebeneinander oder aufeinander … ist ein wirklich nicht selbstverständliches Ende.

      1. Und hoffentlich ist das noch gar kein Ende. Ich würde weiterhin gerne mehr über die Beiden erfahren.

      1. Schlau macht Google ja wohl sowieso nicht. Ansonsten hätten wir ja nicht so viele Impfgegner.

      2. Google kann sehr wohl schlau machen oder zumindest Kenntnisse vertiefen. Wer aber lieber TikTok als Wikipedia anklickt, dem und der ist womöglich nicht zu helfen.

      3. Man muss halt auch mit Informationen bzw. Informationsquellen umzugehen wissen. Ich benutze die Suchmaschinen wirklich oft um Dinge nachzuschlagen oder Hintergründe zu einem Thema zu erfahren. Aber wer natürlich nur liest was er lesen will (Thema Impfen) der erfährt und lernt natürlich nicht viel Neues.

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