Sie gehen zusammen in den Frühstücksraum. Sie trinken Kaffee und essen Brötchen. Die Brötchen sind kross. Die Marmelade ist gut. Frauen sitzen in Kostümen, Männer in Jacken ohne Kragen.
––Das Mädchen im kurzen schwarzen Kleid rennt mit dem Tablett hin und her.
––Wieder das fremde Gefühl, unter Urlaubern zu sein. Butter in Stanniolpapier. Weiße Papierservietten.
––„Ich werde noch anfangen, das hier gemütlich zu finden“, sagt Mark.
––Gregor nickt. „Ich glaube, es ist genau das, was man unter ‚gemütlich‘ versteht.“
––„Findest du mich prüde?“, fragt Mark.
––Gregor neigt den Kopf. „Nicht mal sehr spröde.“
––„Wie findest du mich?“, fragt Mark.
––„Fragst du das im Ernst?“
––„Ja“, sagt Mark, „aber ich will es nicht wissen.“ Mark wischt sich die Finger ab. „Wartest du einen Augenblick?“ Er steht auf. „Ich muss mich für die Fahrt erleichtern.“
––Gregor geht nach vorn und bezahlt die Rechnung. Dann setzt er sich wieder an seinen Platz.
––Mark kommt zurück.
––„Hat ganz schön was in der Hose“, denkt Gregor. „Ich hab’ gleich gewusst, dass du große Füße hast“, sagt er.
––Mark sieht auf seine Schuhe. „Findest du?“ Er holt seinen Koffer.
––Sie sagen Auf Wiedersehen, und irgendjemand antwortet auch.

Es hat aufgehört zu regnen. Die Luft ist kalt, der Himmel grau.
––„Es riecht gut“, sagt Mark.
––Gregor öffnet den Kofferraum. „Ja, nach dem Regen.“
––Mark steigt ein.
––Gregor fährt.
––Mark dreht sich um, Gregor sieht in den Rückspiegel.
––Das Haus verschwindet hinter der Kurve.

„Wollen wir über den Gotthard fahren oder durch den Tunnel?“, fragt Mark.
––„Durch den Tunnel“, sagt Gregor. „Das ist bequemer, ich weiß gar nicht, ob der Pass offen ist.“
––„Schade. Ich hätte gern gesehen, wie das da oben aussieht.“
––„Aber es ist eine ekelhafte Fahrerei. Und ich würd’ mich gar nicht wundern, wenn dir dabei übel würde. Bei deiner Anfälligkeit.“
––Mark lacht. „Du spinnst wohl! Du willst ja bloß mit mir durch den dunklen Tunnel. Gib es zu!“
––„Du hast recht“, sagt Gregor, „ich will dich rausschmeißen und nur noch von der Erinnerung leben.“
––„Woran?“
––„An deinen braunen Bauch und deine melodiöse Stimme und all die Unverschämtheiten, die du mir sagst.“
––„Flirte nicht schon wieder!“, Mark macht eine abwehrende Handbewegung. „Für Komplimente bin ich unempfänglich.“

Hinter Altdorf sieht Mark Gregor wieder an. „Ich wundere mich, dass du mich ganz mit Wilhelm Tell verschont hast. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm und solche Scherze.“
––„Ist das aus dem Tell?“, fragt Gregor.
––Mark zuckt die Achseln. „Na, sonst ist es aus der Bibel.“
––Sie haben den See verlassen und fahren tiefer ins Gebirge. Zu beiden Seiten klotzen schroffe Felswände. Brücken über kahle Schluchten.
––Gregor kurbelt. Es geht steil aufwärts.
––„Hübsche Gegend“, sagt Mark. „Woll’n wir uns hier ein Ferienhäuschen einrichten?“
––„Ach ja, mit großer Sonnenterrasse“, schlägt Gregor vor. Er wird ernst. „Ich würd’ gern mit dir Urlaub machen.“
––Mark zeigt auf ein Schild. „Nach links geht’s zur Verladerampe.“
––Gregor biegt ab und hält hinter vielen anderen Wagen. Er zahlt das Fahrgeld und lenkt seinen BMW auf den Transportzug.
––„Wann fährt der Zug ab?“, fragt Mark einen der Arbeiter.
––„In zää Minuti.“
––Mark wendet sich zu Gregor. „Dann lauf’ ich hier noch mal ’n bisschen rum, bevor alles ganz anders wird. Kommst du mit?“
––Gregor schüttelt den Kopf. „Keine Lust. Ich find’s scheußlich hier.“
––Mark öffnet die Wagentür. „Huuu, ist das kalt!“ Er springt auf die Plattform und geht auf und ab. Nach fünf Minuten kommt er zurück und schüttelt sich. „Jetzt brauch’ ich ’ne Zigarette“, sagt er.
––Gregor sieht ihn an. „Im Handschuhfach sind welche.“ Er versucht es unverfänglich: „Erzähl mir mehr von Iris!“, sagt er.
––„Ich weiß nicht, was ich erzählen soll“, antwortet Mark. „Du wirst sie sehen. Und du wirst mich verstehen.“
––Gregor schweigt.
––„Du wirst es auch allein schön haben“, sagt Mark. „Du läufst barfuß über heiße Steine. Deine Füße brennen. Du läufst weiter. Ein schwarz gelockter Junge, der mit braunem Oberkörper und weißen, dreiviertellangen Hosen im Sand sitzt, ist dein Ziel. Der Schmerz macht dich benommen, aber die Vorfreude auch.“
––„Ist das derselbe Knabe, der nachher im Meer versinkt?“, fragt Gregor.
––„Welcher Knabe? – Ach so der! Nein, nein, dieser hier ist viel schöner.“
Mark reißt die Packung auf und holt sich eine Zigarette raus. „Du auch?“ Er hält Gregor die Packung hin.
––Gregor greift hinein.
––Mark drückt den Anzünder. Er gibt erst Gregor Feuer, dann steckt er sich seine Zigarette an.
––Sie rauchen schweigend und drücken die Stummel fast gleichzeitig aus.
––Der Zug fährt an. Hinter ihnen sind ungefähr noch fünfzehn Wagen.
Sie stoßen in den Tunnel. Das Licht bricht ab.
––„Bist du verliebt in Iris?“, fragt Gregor.
––Der Zug rattert.
––„Ich glaub’, ja. Aber ich weiß nicht genau, was das ist. Wann ist man verliebt?“
––Gregor überlegt einen Augenblick.
––Sie sitzen im Dunkeln.
––„Wenn man nach dem Ficken noch Lust hat“, sagt er. Seine Worte klingen brutal. Sie scheinen den Wagen zu sprengen, und es gibt keine Ablenkung.
––„Oh, dann bin ich sehr verliebt!“, erklärt Mark.
––Eine öde, dünne Beleuchtung macht die Dunkelheit fast noch beklemmender.
––„Fühlst du dich geborgen bei ihr?“, bohrt Gregor.
––„Ich brauche keine Geborgenheit“, antwortet Mark schnell. Und er fügt etwas leiser hinzu: „Ich kann nur Schutzlosigkeit nicht ertragen.“
––Gregor beugt sich über ihn. Er berührt Marks Gesicht mit seinen Lippen.
––Mark bleibt unbeweglich. Weder Abwehr noch Entgegenkommen.
––Gregor lehnt sich wieder zurück.

Finsternis und das Holpern des Waggons in den Schienen. Der Gegenzug schießt vorbei: ein fahles Licht. Dann ist es wieder dunkel.
––Plötzlich fühlt Gregor Marks Hand auf seinem rechten Knie. Die Hand streicht seinen Oberschenkel entlang, zieht über seinen Körper und berührt sein Gesicht. Finger und die warme, trockene Fläche dieser Hand auf seiner Haut.
––Ein Leuchten. Der schmale Schimmer wächst. Die Hand huscht davon. Grelle Helligkeit zerreißt blendend.
––Gregor schüttelt den Kopf. „Unverfrorenheit! Und bei so was bin ich nun Chauffeur!“
––„Wie lange fährt man durch den Tunnel?“, fragt Mark.
––„Ungefähr ’ne Viertelstunde, glaub’ ich“, antwortet Gregor. „Und hinter dem Tunnel ist alles ganz anders.“
––„Wie spannend! Du auch?“
––„Wart’s ab und frag nicht so viel!“
––Mark dreht den Kopf zum Fenster. Er sieht ins Schwarze. „Also gut; Zwiesprache mit der Natur!“

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: julian-hochgesang (Auto), studioloco (Kopf Mann li.), Always Say YESS (Mann li.), Roman Samborskyi (Mann re.), MaraZe (Marmelade) | GE_4530 (Zug)

39 Kommentare zu “2.09 | Tunnelblick

    1. Danke! Das erwidere ich mit Freuden. Durch mein Schreiben und Komponieren falle ich Apfel allerdings etwas weiter vom Stamm meiner Eltern, als das Sprichwort es hätte erwarten lassen.

  1. Prüde? Das wäre das letzte woran ich bei Mark gedacht hätte. Aber Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung müssen ja gar nicht immer so nah beieinander liegen wie man denkt.

    1. Von prüde bis unverfroren. Das schöne an Mark und an der Geschichte ist ja gerade, dass es eben nicht so schwarz und weiss ist.

      1. Sich als möglicherweise heterosexueller Mann ein Bett mit einem Fremden zu teilen, gerade so wie es hier beschrieben wird, erscheint mir trotzdem wenig prüde. Egal was da noch passiert oder nicht passiert ist.

      2. …dass die Frage trotzdem Marks Gedanken kreuzt, macht ihn aber noch sympathischer.

  2. Wie schön, dass es auch am Heiligen Abend wieder ein neues Kapitel gibt. Für die von uns, die die Feiertage alleine verbringen, ist das wirklich eine willkommene Abwechslung.

    1. Es ist kurz nach Mitternacht. Ich wünsche der Rinke-Leserschaft und Ihnen, Frau Kaufmann, Frohe Weihnachten!

      1. Meinen herzlichen Dank. Ganz bewusst lasse ich die Geschichte über die Weihnachtstage weiterlaufen und unterbreche erst vor dem nächsten Abschnitt.

  3. ‚Frag nicht so viel‘ könnte von mir können. Auch wenns immer heißt man soll über alles reden, denke ich ja oft, dass man nicht immer alles gleich aussprechen muss. Vieles ergibt sich nämlich auch wenn man offen und geduldig ist.

      1. Naja und wenn es wirklich ein Problem gibt, ein unausgesprochenes obendrein, dann müssen sich beide Parteien bewusst sein, dass das so ist, und beide müssen das Problem lösen wollen. Scheint mir schon ein wenig kompliziert.

      2. Gespielt schnippisch! Da muss man sich nämlich immer vor Augen halten, dass wir auch ohne Frage alle gerne Maske tragen.

    1. Gerade wenn man sich so kurz kennt wie Gregor und Mark ändert sich vieles ja richtig schnell. Zumindest ist das so wenn es um die Wahrnehmung des Anderen geht.

      1. Ob sich die Dinge wirklich ändern sei dahingestellt. Aber mit Sicherheit entdeckt man vieles über den jeweils Anderen.

      2. Die neue Wahrnehmung führt oft auch zu einer geänderten Einstellung. Gerade las ich, dass die Menschen aus dem Aartal jetzt anders über Flüchtlinge denken.

      3. Wenn das stimmt, ist das zwar auch irgendwie traurig, aber es klingt einleuchtend. Dass syrische Asylbewerber im Sommer sofort bei den Aufräumarbeiten geholfen haben, war da wohlmöglich auch ein Faktor.

  4. Frohe Weihnachten ihnen allen! Und vielen lieben Dank für die Menge an schönen Texten dieses Jahr, Herr Rinke!

      1. Nicht alle Texte waren wirklich ’schön‘, aber ich bedanke mich, dass Sie mir so bereitwillig in Höhen, Tiefen und Abgründe gefolgt sind.

      2. Selbst wenn man nicht alles ’schön‘ findet, gab es ja wirklich viel zum Nachdenken. Auch das ist sehr viel wert.

      3. Es ist ja wirklich immer eine spannende Reise durch ganz unterschiedliche Erzählungen. Da folgt man gerne.

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