Mark gibt Iris einen Kuss und geht mit Gregor hinaus.
––Iris steht wie angewurzelt.
––Sie gehen zum Auto. Mark stockt plötzlich und nimmt Gregors Arm. „Ich habe gar keinen Führerschein“, sagt er.
––Gregor starrt ihn an. „Was?!“
––Mark lacht. „Irgendwie bin ich nie dazu gekommen. Aber ich kann’s doch, oder?“
––„Also, wirklich“, sagt Gregor, „ehrlich bist du ja. Jedenfalls, wenn’s zu spät ist.“ Er will nicht als Verlierer dastehen, aber er kann sich kaum bremsen.
––Mark merkt es. Und übergeht es. „Ich danke dir für alles“, sagt er überschwänglich. „Du warst – unbeschreiblich. Ich habe noch nie jemanden wie dich kennengelernt.“
––Gregor fühlt, wie sich seine Beine in der warmen Luft aufzulösen beginnen. Er starrt auf Marks Füße. Sie kommen ihm jetzt ganz zierlich vor. „Ich glaube, …“, sagt er und bricht ab.
––Mark umfasst seinen Nacken und lässt seine Hand langsam Gregors Schulter hinuntergleiten. Dann stehen sie sich gegenüber, ernst, ohne sich zu berühren. Die Menschen laufen um sie herum.
––„Weißt du, ich glaube, …“, sagt Gregor. Die Worte kommen so trocken aus seinem Mund, als würden sie noch an den Lippen zu Staub zerfallen. „Ich glaube, ich liebe dich.“
––Mark sieht an ihm vorbei, mitleidlos, aber nicht unbeteiligt. „Dann war es eben Liebe.“

Die Wellen brechen sich grell. Schneidend, blendend, tobend. Jedes Mal, wenn sich das Wasser überschlägt, heult es gepeitscht auf. Ein Blitz aus Gischt und Gewalt, gierig, gefräßig. Ein Ziehen, Würgen. Aufgelöster Wirbel, der alles zerstört in tosender Wiederholung. Wegspült, fortreißt, vernichtet. Abgründe klafft, Hügel türmt. Mahle, Schächte, Gräber.

Ein Vogel mit verklebten Flügeln. Er schwimmt erschöpft: auf den Kämmen, in den Tälern. Sein Flattern bleibt erfolglos. Einsam auf den Wellen, gegen die Wellen, die ihn tragen und überrollen. Stumm kämpft er gegen die Bewegung, fügt sich, lehnt sich auf, gibt nach. Schwimmt. Das Meer und der Himmel. Morgen liegt er am Strand.

Oder ein anderes Beispiel: Hartmut Lohmann, Porsche-Fahrer. Hartmut hat ein Drei-Zimmer-Appartement an der Alster. Er ist Innenarchitekt, 36 Jahre alt. Seine Hobbys: Tennis, Segeln, Theater und die Jagd – in jeder Beziehung. Hartmut ist ledig, was jedem, der Hartmut näher kennt, durchaus sinnvoll erscheint.
––Es ist ein schöner Sommermorgen, an dem Hartmut die Amsinckstraße entlangfährt, der Verkehr läuft zähflüssig, aber Lastwagen sind kaum auf der Straße: Wochenende. Aus dem Radio ertönen ‚Schlager von gestern‘, unterbrochen von launigen Ansagen.
––Hartmut geht in die äußerste Spur und gibt Gas. Er biegt ab zur Autobahn.
––Anhalter hocken am Straßenrand.
––Im Allgemeinen nimmt er niemanden mit.
––Das erste Rudel ist vorbei. Ein Einzelner.
––Hartmut bremst scharf und setzt zurück, was natürlich verboten ist. Aber der ist es wert. Hartmut dreht die Scheibe an der rechten Tür runter.
––Der Junge kommt angelaufen. „Nehmen Sie mich mit?“, fragt er.
––„Wo wollen Sie denn hin?“
––„Nach Lübeck.“
––„Da sind Sie hier aber ganz verkehrt!“
––„Hab’ ich auch schon gemerkt. Ich bin nicht aus Hamburg. Manche fahren ja auch über die Umgehung.“
––Hartmut zuckt die Achseln. „Tut mir leid“, sagt er. „Ich fahr’ Richtung Basel. Wollen Sie nicht mitkommen nach Lugano?“
––Der Junge lacht. „Nein danke. Gute Fahrt!“

Oder um ein weiteres Beispiel zu nennen, Ronald Donner. Er hat mittelblondes Haar und blaue Augen. Ronald ist 1,78 Meter groß und 37 Jahre alt.
––An der Autobahneinfahrt Wuppertal steigt gegen 19.30 Uhr die 21-jährige Brigitte Schneider zu ihm in den Wagen. Eigentlich will sie ja nach Dortmund, sie kommt aber nur bis zum nächsten Parkplatz, wo er sie zunächst vergewaltigt und anschließend nach erbittertem Widerstand ihrerseits erwürgt.
––Am übernächsten Tag finden Spaziergänger mit weißem Königspudel im Wald ihre Leiche.

Und um den Vorwurf, tendenziös vorzugehen, zu vermeiden, das Beispiel von Herbert Kahn, der die ihm bis dato unbekannte Roswitha Punschalk in Finsterwalde in seinen VW 1300 zusteigen lässt und sie unentgeltlich nach Gmund befördert.
––Drei Monate später findet aus gegebenem Anlass die kirchliche Trauung statt. In kleinen Ortschaften ist das besonders wichtig: wegen der Moral.

Titel- und Abschlussgrafik mit Material von Shutterstock: studioloco (Kopf Mann li.), Always Say YESS (Mann li.), Roman Samborskyi (Mann re.), LifetimeStock (Frau), Rejean Bedard (Vogel) | Oleksandr Koval (Ringe)

31 Kommentare zu “2.11 | Abseits der Moral

    1. Es war für die zwei sicher trotzdem aufreibend genug. Es muss nicht immer zum großen Knall kommen. Wie besonders diese Begegnung war wird auch so klar.

      1. Außerdem war (ist?) es eine wirklich besondere Geschichte zu lesen. Das muss man noch einmal betonen!

      1. Ich wollte schon sagen. Das dient doch gerade als Abgrenzung zur ausführlich erzählten Geschichte.

  1. Mir gefällt ja eigentlich, wie unaufgeregt die Geschichte zu Ende geht. Trotzdem ist die unvermeidliche Trennung der Beiden auch schade.

    1. Vor allem, die Analogie zum am Strand angespülten Vogel macht traurig. Da kann man wirklich nur hoffen, dass es Mark besser ergehen wird. Auch ohne Gregor.

      1. Tja, das bleibt nun wohl offen. Mir gefiel die Begegnung aber so gut, dass es gar nicht mehr so wichtig erscheint was danach passiert. Man muss ja auch zufrieden sein mit dem was man bekommt.

      2. So hilflos wie der Vogel kam mir Mark ja nie vor. Aber vielleicht war er es am Ende mit Iris eben doch.

  2. Solche Geschichten, wie die von Ronald Donner, scheinen mir öfters zu passieren als das was Gregor erlebt hat. Das ist zumindest mein persönliches Vorurteil wenn es um Reisen per Anhalter geht.

    1. Ach, mittlerweile gibt es doch sogar zig Apps, wo man solche Mitfahrten im Vorfeld planen und damit auch registrieren kann. Das macht das Ganze sicherlich um einiges sicherer als früher.

    1. Hat sie zum Glück aber nicht. Das wäre eine enttäuschende und für den Blog wohl sehr unergiebige Variante gewesen.

    2. Tja, und manchmal kommt es auf winzige Unterschiede oder eine einzelne anders getroffene Entscheidung an, damit sich eine Geschichte völlig anders entwickelt…

      1. Die Unterschiede sind inzwischen wohl recht groß. Ich muss gar nicht bei ‚Telegram‘ schnüffeln. Die Leser*zuschriften im ‚Spiegel‘ reichen mir manchmal schon, um mit dem Kopf zu schütteln.
        *Damen sind nicht besser.

      2. Werden diese Unterschiede eigentlich größer? Oder werden die Menschen mutiger? Oder dümmer? Ich bin tatsächlich verwirrt darüber wie sich alles entwickelt.

      3. Ich glaube durch das Internet und die Sozialen Medien kommunizieren die Menschen (nicht unbedingt mehr, aber) leichter, schneller und häufiger. Dadurch bauschen sich kleine Unterschiede schnell zu großen Diskussionen auf und die Gräben werden über kurz oder lang eben tiefer.

      4. Vor allem wird wenn überhaupt gegeneinander und nicht miteinander kommuniziert. Das hilft kaum weiter.

      5. hahahaha! ist das schon der vorsatz für das neue jahr? würstchen bleib bei deinen leisten?

  3. Herr Rinke, zum Ende dieses trägen, maskenschweren Jahres wünsche ich noch einmal alles Gute und hoffe, dass Sie einen sanften Übergang nach 2022 haben werden! Vielen Dank für die vielen anregenden Texte!

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