Teilen:

1506
Frühling in Florenz  —   Teil 2: Zwischensaison

#2.9 Von der Engelsburg springen

Der ausgiebige Mittagsschlaf steigerte meine gute Laune noch, und auf dem Schlendergang zum Ponte Vecchio bemerkte ich vergnügt, dass mein spezielles Interesse an Menschen noch zugenommen hatte: Heute Nacht wollte ich sie mir alle in die Seele stopfen, so wie ein unvernünftiges Kind mit Konfekt umgeht: lieber nachher brechen als jetzt aufhören.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv

Giuseppchen hatte ich dazu angeregt, doch ein schönes Buch mitzunehmen. Ich werde immer so durch mein schlechtes Gewissen belästigt, wenn ich im Café sitze, Leute beobachte und schreibe, und er dann stumm daneben sitzt.

Gegen neun, in warmer Dämmerung, nahm ein älterer Herr an einem der unzähligen weißgedeckten, leeren Tische des die Piazza halb überspannenden angrenzenden Restaurants Platz. „Dio!“, rief der Kellner freudig erschrocken aus, „il primo cliente!“

Man hört kein Deutsch, kaum Englisch, es gibt überall Platz, ohne verödet leer zu sein. Es ist warm, ohne nachts zu sehr für kurze Ärmel abzukühlen, aber nicht heiß. Autos sind vom Dom bis zur Piazza della Signoria verbannt, David ist ent-rüstet, der Platz frisch gepflastert, die Schaufenster zeigen Gediegenes, die Frauen Grazie, die Männer Waden – ein maßvoller Schauplatz diesmal, gerade recht, um die eigene Farbigkeit zur Geltung zu bringen, und das Julilicht fließt wie Honig vom Himmel.

Cappuccino. Wir hatten mehr Glück als am Abend zuvor in meinem versteckten Lieblingslokal, zwanzig Schritte hügelan auf der anderen Arno-Seite.

Foto: Benedictus/Shutterstock

Ein Phänomen: Der kleine Seitenraum enthält zwölf Zweiertische, und an allen saßen Paare, zu denen ich mich am liebsten dazugesellt hätte.

Foto oben: Goran Bogicevic/Shutterstock | Foto unten: Minerva Studio/Shutterstock

Lauter Irenen-Worte fallen mir ein wie: Format, Klasse, Chic – na ja, eben gut aufgemacht, gut erzogen, nachdenklich-heiter, nicht Düsseldorf, nicht Sülldorf, nicht Heringsdorf.

Fots (2): Catarina Belova/Shutterstock

Aber, genug von Leinen und Rohseide – die Kontaktlinsen in die Augen, den Arsch in die Jeans und die Beine ins ‚Crisco‘!

Paolo kam erst gegen eins und ich erst gegen halb fünf dazu, mich ihm (ausgiebiger) zu widmen.

Foto: H. R./Privatarchiv

Wie soll ich die Nacht beschreiben? Der Erste blieb die ganze Zeit stumm, und als wir anschließend an der Bar einen Grappa zusammen tranken, stellte ich fest, dass er stumm war. Ein Freund übersetzte, mit den Fingern. Wir gingen gleich noch mal runter, ich hab so ein zärtliches Gefühl für die Verkommenheit der Beschädigten. – Im weiteren Verlauf wandte ich mich dann aber mehr den Biegsamen als den Zerbrechlichen zu. Ein Meer von Mann, ein Bad in diesem heißen Meer, Mann pur, einzeln, am Stück, in Massen, niedersinken und auftauchen, verschmelzen und loslassen, Mann, wohin man tastet und riecht, als Mann gewollt sein, als Mensch gewollt sein, als Dreck gewollt sein, Ungewolltsein kam nicht vor in dieser Nacht, sich für zehn Minuten nie mehr trennen, immer wieder neu.

Wichtig, zwischendurch immer so viel Grappa in den Mund zu nehmen, dass alle denkbaren Viren aller gedankenlosen Begegnungen vor Schreck sterben: Kehle runter, Krankheit weg.

Schön, wenn es einem gegen Morgen kommt: das wohlige Gefühl, nichts mehr zu können und alles zu wollen: Ich will nicht mehr dein Lust-Organ als Symbol für ich-weiß-nicht-was (der Zippel selbst kann ja nicht gemeint sein): Ich will nur noch dich oder uns oder das, was es ist und nie sein kann.

Die merkwürdige Folgelosigkeit (es sei denn, Aids) solcher Zusammenschlüsse macht in der – trotz aller gegenteiligen Vorsätze verblassenden – Erinnerung den Unterschied aus zwischen der Intensität eines hautengen Augenblicks und der Intensität eines weiten Lebens: Ich habe euch alle schon vergessen, ihr Unvergesslichen, aber eure Berührungen, eure unregelmäßigen, mal pumpenden, mal stockenden Atemzüge, sie wachsen in mir fort wie ein wunderbarer Krebs, der nicht einmal der Seele schadet, mein Seelenkrebs heißt Roland. Schadet er der Seele wirklich nicht?

Als ich aufstieg aus dem Meer an die Bar, war ich so klitschnass, wie man eben ist, wenn man aus dem Wasser kommt, und irgendein letztes katholisches Haar in meiner Suppe aus Schweiß und Glück kitzelte mich am Gaumen und wartete auf die Bestrafung. Sie folgte zumindest nicht auf dem Fuße und auch nicht auf dem Heimweg, den ich im weichen Morgenlicht antrat, gemeinsam mit dem grundguten Giuseppe, der wieder mal duldend beobachtet hatte, und dem abgrundguten Paolo, der sich zumindest auf mich eingelassen hatte.

Foto: Catarina Belova/Shutterstock

In einem Schaufenster eine wild aufgemachte, teuerst gekleidete Puppe mit gekräuseltem Haar, vor sich einen ausgebeulten Einkaufswagen und eingerahmt von rostigen Konservendosen, zu trostlosen Türmen gestapelt:

Gloria von Thurn und Taxis bei ‚Aldi‘. Den Witz der Stadt werde, würde ich vermissen. Wir trennten uns von Paolo. Er wohnte bei einem Freund unweit unseres Hotels. Keine Liebesschwüre, aber Aussicht auf häufigere Treffen vom nächsten Jahr an. Er hat so unglückliche Augen, und einen so einnehmenden Schwanz.

Foto: Creative Lab/Shutterstock

Giuseppe und ich kamen etwas zu spät zum dritten Akt von ‚Tosca‘, der um sechs Uhr begonnen hatte, sahen aber die outriert agierende Frau Malfitano noch, zweihundertfünfzig Kilometer weiter südlich, von der Engelsburg springen, ein würdiger Abschluss dieser theatralischen Nacht.

Als ich, lange vergeblich, einzuschlafen versuchte, lauerte immer noch dieses katholische Haar in meiner Seelensuppe: ein Blitz, ein Durchfall?

Aber es kam nichts, auch nicht im weiteren Verlauf des Sonntags, als mich Giuseppe dankenswerterweise die fünfhundert Kilometer zurückfuhr nach Meran, bevor er wieder die zweihundert Kilometer heimfuhr nach Bassano, nicht ohne sich bei mir mehrfach für die schöne Zeit bedankt zu haben. Auch am Abend, als ich vor dem elterlichen Fernsehapparat in RAI Uno den zweiten Akt von ‚Tosca‘ nachholte, brach bloß Scarpia zusammen, mir passierte nichts. Gott hat wieder mal nicht mitgezählt.

Ja, so war das vor fünfundzwanzig Jahren. Ewig her! Wie gestern.

Fotos (4): H. R./Privatarchiv

12 Kommentare zu “#2.9 Von der Engelsburg springen

    1. Oh, dass man neidisch auf sein eigenes Leben, seine eigene Jugend sein könnte, ist mir noch gar nicht in den Sinn gekommen. Macht schon irgendwie Sinn.

    1. Grundsätzlich kann er das. Aber er macht‘s ja alles freiwillig mit. So schlimm kann der Urlaub für ihn ja dann nicht gewesen sein.

  1. „Wichtig, zwischendurch immer so viel Grappa in den Mund zu nehmen, dass alle denkbaren Viren aller gedankenlosen Begegnungen vor Schreck sterben.“ Hahaha, auch das ist in Italien angenehmer als sonstwo 😉

  2. Die Intensität eines hautengen Augenblicks / die Intensität eines weiten Lebens – wunderbar auf den Punkt!

  3. Ihre Briefe sind immer wieder höchst interessant. Man ist immer noch einmal eine ganze Ecke näher am Geschehen dran. Danke für’s Veröffentlichen!

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

19 + neunzehn =