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03 – Regen in der Wüste

#21 | Politur

Sie nahm nicht wie sonst den Fahrstuhl, sondern ging zu Fuß. Sie fühlte sich locker und ausgeruht. Die Gymnastik hatte ihr heute besonders gutgetan. Sie hatte Frieden mit sich geschlossen. Was halfen all die Grübeleien und Selbstvorwürfe? Sie führte doch ein ganz erträgliches Leben mit Pflichten, Aufgaben, Freuden. Wenn dieses Leben nun um eine kleine Merkwürdigkeit bereichert würde, eine verborgene, konsequenzlose, ganz geheime Abwegigkeit – wen würde das stören? Wer fragte danach? Niemand merkt es. Niemandem schadet es. Niemand verurteilt es. Und Gott? Er hatte es ja so gefügt. Gemessen an all dem Bösen, das täglich in der Welt geschieht, ist es wohl keine atemberaubende Verfehlung, den Hörer abzunehmen und fünf Minuten lang schweigend einer Stimme zu lauschen. Sie wusste, dass sie versuchte, sich durchzumogeln. Das lag ihr eigentlich gar nicht. Oder hatte sie sich vielleicht schon immer durch das Leben gemogelt und es nur nicht vor sich zugegeben?

„Elisabeth, das ist die letzte Ermahnung! Wenn du noch einmal in Karins Heft schielst, gibst du deine Arbeit ab!“

„Du schummelst! Du hast den Buben mit dem König vertauscht. Ich habe es genau gesehen!“
––Sie war knallrot geworden und hatte sich geschworen, es nie wieder zu tun. Und sie hatte es nie wieder getan. Jedenfalls hatte sie sich nie wieder erwischen lassen, auch nicht von sich selbst. – Ich hätte nicht evangelisch werden sollen. Was hat es mir gebracht? Mir fehlt die Beichte. Mir fehlt der Weihrauch. Mir fehlt meine Kindheit.

Sie drehte den Wohnungsschlüssel herum.
––Das Schloss sprang auf. Eine Abrechnung lag auf dem Teppichboden. Gas. In der nächsten Woche sollten für alle Wohnungen Briefkästen am Hauseingang angebracht werden. – Das war doch besser. Zumindest für den Briefträger. Frau Fischer hatte sich diesmal besondere Mühe gegeben. Die Wohnung wirkte sauberer als sonst, das lag vielleicht an dem intensiven Geruch nach – war es Möbelpolitur? „Othello, du hast doch schön dein Katzenklo benutzt, nicht?“
––Othello blinzelte harmlos, scheinbar unschuldig an dem beißenden Geruch.
––Katzenpisse riecht auch anders, dachte sie. Sie ging ins Wohnzimmer und knipste die Schreibtischlampe an. Auf dem Sekretär lag ein Zettel, Frau Fischers akkurate Schrift: Ein Herr hat angerufen. Er bringt das Paket selbst vorbei.
––Sie zitterte so, dass sie den Hörer fest umklammern musste, um ihn nicht fallen zu lassen. Das dröhnende Stakkato aus der Muschel drang in sie ein. Sie konzentrierte sich krampfhaft auf die ausgestanzten Löcher in der Wählscheibe. „Frau Fischer, hier ist Elisabeth Stern. Entschuldigen Sie, dass ich Sie so spät noch anrufe, ich hoffe, Sie haben noch nicht geschlafen.“
––„Gut. Was war das für ein Anruf bei mir heute?“
––„Hat er seinen Namen gesagt?“
––„Hat er nach meiner Adresse gefragt?“
––„Jaja, sicher war das richtig.“
––„Und hat er gesagt, wann er mir das Paket bringen will?“
––„Um elf …“
––„Nein, ich bin morgen Vormittag wie immer im Geschäft.“
––„Nein, danke! – Ich werde einer Nachbarin Bescheid sagen.“
––„Welcher Fleck?“
––„Ich habe mir den Fußboden noch gar nicht angesehen.“
––„Ach, deshalb dieser Geruch.“
––„Nein, das macht nichts.“
––„Das ist doch nicht so schlimm. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken!“
––„Ja, Frau Fischer. Danke! Gute Nacht!“

Entsetzen. Panik. Wie sich verschanzen? Wo sich verkriechen? Die Tür versperren, verriegeln, vergittern. Flucht. Schlaftabletten. Hatte sie nicht Tabletten gekauft? Selbstmord mit Baldrian. Ruhe, bloß Ruhe! Wenn er sie umbrächte, nein, umbringen würde, nein, doch umbrächte. Mein Gott, was soll denn das?! Nur nicht die Kontrolle verlieren! Sie nahm einen Cognacschwenker aus der Anrichte und die Flasche vom Bord. Wie lange hatte sie da unberührt gestanden und warum setzte sie nicht gleich die Flasche an den Mund und kippte sich weg aus dieser Veranstaltung? Ich muss jetzt ruhig bleiben! Das ist das Wichtigste. Mir kann ja nichts passieren. Ich bin zu Hause, es geht mir gut. Ich lasse niemanden herein. Ich streite alles ab. Nichts darf zu mir dringen, nicht das Fernsehen, nicht das Telefon, hier ist meine Festung, in der ich sicher bin. – Sie setzte sich in den Ohrensessel und nahm einen kräftigen Schluck.
––Der ungewohnte Alkohol brannte in ihrem Magen. Ihr Magen war ein Kamin, aus dem die Flammen loderten. Gruselgeschichten am offenen Feuer. Es gab Menschen, die behaupteten, es würde ihnen Gift in die Wohnung geleitet: Gas, Strom. Die Wasserrohre, die Elektro-Drähte, alle Verbindungen stellten eine Bedrohung dar.
––Sie spülte mit Cognac nach, sie entfachte, statt zu löschen. – Ruhig, ruhig! Nicht ‚stimmt ja gar nicht‘ schreien, bevor ich beschuldigt werde! – Sie starrte auf den rotbraunen Fleck, er sah aus wie Blut, aber Frau Fischer hatte gesagt, ihr sei die Flasche mit Möbelpolitur umgekippt, und er wäre mit Fleckenwasser nicht richtig herausgegangen. Sie versuchte, sich über den dunklen Fleck auf ihrem hellen Velours zu ärgern, aber es gelang ihr nicht.

Kein Zweifel, er wird kommen. Er wird klingeln. Ich werde überlegen, ob ich aufmachen soll. Er wird das Licht gesehen haben und nicht aufgeben. Ich werde aufgeben. Ich werde fragen: Wer ist da? Und er wird nur sagen: Ich. Ich werde denken: Verschwinden Sie! Aber sagen werde ich nichts. Ich werde den Knopf drücken, der ihm die Haustür öffnet. Während er die Treppe heraufsteigt, werde ich daran denken, die Polizei anzurufen. Es wird mir durch den Kopf gehen, dass er ein gefährlicher Lustmörder sein kann, der mich brutal vergewaltigen und anschließend erdrosseln will. Oder aufschlitzen? Er wird an meiner Wohnungstür klingeln. Ich werde öffnen.
––Ein kleiner, farbloser Mann mit Halbglatze und wässrigen Augen in einem abgetragenen, billigen Regenmantel, linkisch, fünf rosa Nelken in der rechten Hand. „So schön hatte ich Sie mir nicht vorgestellt. – Ich musste einfach kommen, nach gestern.“
––Ich werde ihn hereinlassen. Er kann ja nicht draußen stehen bleiben.
––Der schüchterne, unscheinbare, kleine Mann wird auf meinem Sofa sitzen und die schwitzenden, kleinen Hände am Polster reiben. „Am Sonntag hatte ich mich gar nicht getraut anzurufen, wegen der Nacht davor. Am vorigen Wochenende hatte ich ja auch nicht angerufen. Aber gestern habe ich es dann nicht mehr ausgehalten. Und Ihre Reaktion am Telefon, das hat mir gezeigt, Sie sind genauso einsam wie ich. Wir haben etwas gemeinsam wegzudrängen versucht. Aber jetzt können wir es gemeinsam erleben. Ich liebe Sie, ich brauche Sie. So, wie Sie mich brauchen.“
––Diese wunderbare Stimme und dieser erbärmliche Mann! – Ich werde ihn angehört haben wie unter einer Betäubung, einem Gas, das aus der Wand oder aus dem Telefon strömt. Wie unter einer Betäubung werde ich irgendeinen schweren Gegenstand in meiner Hand fühlen. Und ich werde auch noch unter derselben Betäubung stehen, wenn ich auf ihn einschlagen werde. Ich werde denken, ich dächte an den Jungen, der mir gestern Abend am Telefon gesagt hat, dass er nicht mehr für sich garantieren könne, wenn sein Vater wieder über die Mutter herfiele, aber in Wirklichkeit werde ich nur daran denken, wie ich den Körper, der aufgehört haben wird, unter meinen Schlägen zu zucken, aus der Wohnung schaffen soll und daran, dass jetzt niemals mehr um elf das Telefon für mich läuten wird. – Weiterleben wie bisher? Es lässt sich so schrecklich leicht weiterleben. Wenn niemand einen daran hindert, geht es einfach weiter. Sein Verrat war es, seiner, nicht meiner. Er hätte nie kommen dürfen. Damit hat er mich bloßgestellt, er hat alles zerstört. Ich habe nur getan, was er … Das ist ja alles Unfug! – Sie hatte das Glas leergetrunken. – Hirngespinste! Wahnvorstellungen. Sie stand auf und öffnete das Fenster. Regenluft. Kühlend und beruhigend. Sie sah die Häuserzeile, das Gemeindehaus, den Kirchturm. Sie hörte den Glockenschlag. Elfmal.
––Es klingelte.
––Sie ging zum Telefon, noch ganz benommen. Aber schon bevor sie den Hörer aufgenommen hatte, wusste sie, dass sie in die verkehrte Richtung gegangen war: Das Läuten kam nicht vom Telefon. Es kam von der Tür.

Zwei Tage später, am Gründonnerstag, wurde in Berlin Rudi Dutschke niedergeschossen. Damit begann in Deutschland endgültig das Jahr achtundsechzig.

E N D E

Titel- und Abschlussgrafik mit Bildmaterial von Shutterstock: shipfactory (Frau), remuhin (Sessel), W. Phokin (Boden), YoGinta (Flecken auf dem Boden), Bamidor (Lampe), Kucher Serhii (Katze), Followtheflow (Sekretär), rangizzz (Tür), Sermsak S (Telefon), Oliver Denker (Statue in Abschlussgrafik), akepong srichaichana (Blutspritzer), Aggie 11 (Blutlache)

Hanno Rinke Rundbrief

34 Kommentare zu “#21 | Politur

    1. Ahhhh, und trotzdem wird man nie wissen ob er sie nun erschossen hat oder ob die beiden eine lange und intensive Beziehung begonnen haben.

      1. Weder noch. Sie hat die Tür aufgemacht. Die beiden haben mehr oder weniger verlegen ein paar Worte gewechselt und sich danach nie wieder gesehen.

      2. Und wahrscheinlich auch nicht wieder gehört. Der ‚Thrill‘ dieser Telefonanrufe war doch gerade, dass man jemand unbekanntes an der anderen Leitung hat. Dieser Besuch hat dieses Spiel doch zerstört.

      3. Manchmal will man mehr und hat am Ende weniger. Auch das gehört zum Leben.

  1. Entsetzen und Panik wären auch meine ersten Reaktionen, wenn jemand so einfach meine Adresse herausgeben würde.

      1. Und trotzdem sind wir wieder beim altbekannten Thema: wenn die Akteure alle vernünftig und bedacht agieren würden, dann gäbe es wenig Stoff für eine lesenswerte Erzählung 😉

  2. Irgendwie denke ich ja, dass er weder ein gewalttätiger Lustmörder ist, noch dass Elisabeth auf ihn einschlagen würde. Wahrscheinlich endet diese Geschichte, weit nach dem Ende dieser Erzählung, doch wieder recht belanglos und die beiden gehen ihrer Wege.

    1. Nachdem alle anwesenden Personen außer Elisabeth die ganze Zeit über nur in indirekter Rede widergegeben werden, hat der Autor (ich also) den Schluss ins Futur gesetzt. So kann jede(r) glauben, dass es so oder anders kommen wird. Ich persönlich rechne damit, dass sich ihre Erwartungen erfüllen werden, aber das geht mich nichts mehr an, denn da schreibe ich schon an dem nächsten Kapitel. Das können Sie ab Sonntag den 8.8. hier lesen.

      1. Das ist das tolle an offenen Enden. Sonst würde man die Erzählung durchlesen und fünf Minuten später keinen Gedanken mehr daran verschwenden. So muss jeder selbst entscheiden. Der „Regen in der Wüste“ hat mir jedenfalls sehr gefallen.

      2. Ich schließe mich gleich an. Ich habe jedes Kapitel mit Freude gelesen und warte mit der gleichen Freude auf den 08. August. Vielen Dank für die vielen spannenden Texte.

      1. Uns selbst kümmert es wahrscheinlich doch am meisten. Aber wenn man am Ende da ankommt wo man hinwollte, damit meine ich nicht unbedingt das Lebensende, dann ist der Weg doch oft auch egal.

      2. Dabei ist der Weg meistens viel spannender als das Ziel. Beim Leben ja sowieso.

  3. Ich würde ja auch erwarten, dass da ein recht bemitleidenswerter Mann vor der Türe stehen wird. Was wahrscheinlich ein recht unangenehmes Gespräch zur Folge haben würde. Aber wie Herr Rinke selbst sagt, die Geschichte ist nun vorbei, den Rest muss jeder selbst in seiner Phantasie weiterspinnen.

  4. Ihren Ärger und ihre Aufregung darüber, dass dieser Anrufer durch seinen Besuch alle Spannung zerstört, kann ich schon verstehen. Schließlich waren diese Telefonate ihr erster Weg aus dem drögen Alltag. Aber egal ob nach dem Klingeln noch Blut fließt oder nicht, ihr Leben hat sich definitiv ein wenig verändert.

      1. Möglich wäre das natürlich. Aber vielleicht kommt nach den beiden Extremen ja auch der Weg zurück zur Mitte. Irgendwie realistisch, pragmatisch, aber konsequent.

      2. Ach was, dass nur die Extreme spannend sind ist doch auch nicht wahr. Es gibt genügend Möglichkeiten auf diesem Spektrum, die ein interessantes Leben erlauben.

      3. Würde sich herausstellen, dass der Anrufer wirklich ein völlig langweiliger Niemand ist, dann erscheint die ‚Telefonaffaire‘ auch gar nicht mehr so aufregend. Aber wir werden es nicht mehr erfahren.

      4. Was nachträglich nicht mehr aufregend ist, war es vorher trotzdem. Wenn sie ihn erschlägt und zwanzig Jahre ins Gefängnis muss, wird es natürlich besonders langweilig für sie.

      5. Aus den folgenden Begebenheiten ließe sich dann auch wunderbar eine Netflix-Crimeshow drehen. Mindestens 2 Staffeln à 12 Folgen.

      6. Mit lesbischen Wärterinnen, zwei scheiternden Fluchtversuchen und einem drogensüchtigen und -schmuggelnden Direktor, der der Schwiegersohn der Innenministerin ist, die während einer Korruptionsaffäre Selbstmord begangen hat.

      7. Hahaha, das klingt realistisch. Amy Adams als Elisabeth? Oder soll es doch eine deutsche Produktion sein?

      8. Ich würde den deutschen Darstellern eine Chance geben. Claudia Michelsen kann ich mir gut als Elisabeth Stern vorstellen – vor dem möglichen Gefängnisaufenthalt.

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