Nachdem Rafał genug gesehen hatte, war noch Zeit für ein Heißgetränk (ich nahm was Kaltes), bevor wir in eine Taxe stiegen. Sie brachte uns zum ‚Spaten-Bräu‘ gegenüber der Oper. Früher wäre ich das ganz selbstverständlich zu Fuß gegangen. Jetzt nicht mehr. Allein das immer wieder zu erwähnen, ist schon nervtötend, deshalb stürzen wir uns aus dem Taxi gleich in die nächsten drei Rückblicke. Dieses Mal ist es Text, und wer will, kann ihn überspringen, nur lustiger wird es dadurch nicht.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ich habe Ausschnitte aus drei Briefen herausgesucht, die ich im Abstand von jeweils zehn Jahren geschrieben habe. In allen dreien sieht man: Ich gebe mir wirklich Mühe, das Leben zu ertragen. Der erste Brief stammt aus dem Februar 1981. Handelnde Personen sind neben dem ‚Star-Dirigenten‘ Leonard Bernstein sein Personal Manager Harry (Kraut),

seine Europa-Beauftragte und ‚Deutsche Grammophon‘-Ex-Chefin Dorothee (Koehler),

mein Vorgesetzter und Förderer Dr. Hans Hirsch,

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

der Bach-Experte Karl Richter

Foto: gemeinfrei/Wikimedia Commons

und zwei im 81er-Film bereits vorgestellte Originale: der wirre Kunsthistoriker Dr. Geerd Westrum

und Helen (Kuzaj), unsere ‚Deutsche Grammophon‘-Kollegin für den Standort München.

Wer Mut und Geduld hat, macht jetzt weiter. Bilder füge ich nicht ein, sonst würden die sehr lesenswerten Einschübe ja noch länger wirken.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Mit Helen und Zagen verließ ich Hamburg. Letzteres verleidete mir den Flug ohnehin schon, den wackligen, Erstere drohte mir pausenlos an, sie würde gleich loskotzen, sie habe nämlich ihre Übelkeitspille vergessen, die Folgen seien unausweichlich. Da sie offenbar nicht zu beruhigen war, trank ich zu meiner eigenen Beruhigung rasch einen Whisky. Helen würgte inzwischen hastig eine andere Tablettensorte runter, die sie zwar, weil nicht die richtige und überdies zu spät eingenommen, vor der Entleerung ihres Mageninhalts in ihren Schoß nicht bewahren würde, sie dafür aber, wie sie sagte, ohne Nahrungsmittel eingenommen, noch vor der Landung in einen Schlaf zu versetzen geeignet sei, aus dem sie sich ein Erwachen vor Morgengrauen beinahe nicht vorstellen könne.

Da Helen und ich bereits gebeten worden waren, das Rauchen einzustellen, und sie immer noch nicht eingenickt war, verkündete sie, dass sie sich nun unweigerlich übergeben müsste, und dies aus zwei Gründen: erstens, weil – belegt durch ihr Wachsein – die falsche Tablette ihre Wirkung nicht getan hatte, und zweitens, weil sie bei der Landung jedes Mal brach, ganz egal, wie der Flug vorher verlief.

Zwischendurch hatte sie den gesamten Inhalt ihrer Lufthansa-Fresstüte verputzt, wohl um die niedermähende Wirkung der Pille etwas abzuschwächen, während mir wegen der permanenten Turbulenzen die Kiefer aufeinanderklapperten und ich deshalb lieber nichts in den Mund nahm. Helen und ich haben so vieles gemeinsam: Wir unterlassen das Meiste, vor allem das Rauchen.

München spielte Davos: zugeschneit bei neun Grad minus, kreischblauer Himmel. Wir hüllten uns in unsere Pelze und beluden ein Taxi mit unseren sechs Gepäckstücken. Schließlich hatte sie einen längeren Aufenthalt hinter sich und ich vor mir. „Ich geh auf gar keinen Fall ohne Einladung“, sagte Helen während der Fahrt. Natürlich lag keine Einladung zur abendlichen Veranstaltung in ihrem ‚Deutsche Grammophon‘-Büro.

„Was machen wir denn nun?“, fragte Helen. „Gehen wir trotzdem?“

Ich führte ein hochnäsiges Telefongespräch mit unserem Pressemann Bernd Plagemann und sagte ihm, dass ich das keinen Stil fände und dass ich glaubte, nicht willkommen zu sein.

Bernd, hörbar genervt, wiederholte nur, was er schon am Vortag gesagt hatte: „Beate Kayser sind die Einladungen ausgegangen. Aber sie erwartet euch und sie freut sich auf euch.“ Beate Kayser schreibt bescheuerte Klatschspalten für die ‚Münchner Abendzeitung‘; das, was Bernd jetzt behauptete, war mit Sicherheit gelogen, und so verkündete ich Helen mit Überzeugung, dass wir gehen müssten, unbedingt. Sie ließ sich überreden und wollte getrennt mit dem Wagen fahren, weil ich ja wohl, mutmaßlich, mit der Bernstein-Clique loszöge.

Gut. Ich legte mich ins ‚Vier Jahreszeiten‘-Bett. Die vorige Nacht war nach Jahrestagung und vor frühem Aufstehen kurz gewesen, und für die kommende hatte ich mir, was Schlaf anbetrifft, ebenfalls vorgenommen, dass die Würze eher in der Kürze liegen solle. Das Telefon klingelte, und bereits an der Erbarmungslosigkeit des Schrillens erkannte ich Dorothee. Ich hatte zehn Minuten Zeit aufzuwachen, denn etwa so lange brauchte ich weder etwas zu sagen noch zuzuhören. „Die Generalprobe war überwältigend“, kaskadete es auf mich ein, viel mehr verstand ich nicht und überlegte nur traumtrunken, ob mein Telefon von der letzten Single her auf der verkehrten Umdrehungszahl lief.

Ich hörte noch, dass sie ‚ausnahmsweise‘ fernsehen wolle, so lange, bis ich anriefe, um ihr den Aufbruch zu signalisieren, dann wurde das Gespräch verletzend abrupt beendet mit einem fast wütenden Klicken in der Leitung.

Verwirrt zog ich mich an, das neue Blaugrüne, und machte Harry meine Aufwartung. Es war halb acht. Harry war nicht allerbester Stimmung. Nachdem er, anschließend an die Generalprobe, anderthalb Stunden versucht hatte, Bernstein aus seiner Garderobe zu zerren, war der Maestro an einer offenen Tür vorbeigeschlurft, hinter der Karl Richter rumbachte.

Mit dem Glücksgluckser „I love him“ hatte sich Lennie in Karlis Arme geschmissen und dann hingegeben dessen Interpretationen gelauscht, während Harry pikiert ins Hotel zurückgekehrt war.

Nun aber wollte er, vom schlechten Gewissen geplagt, und auch weil wir in einer halben Stunde aufbrechen mussten, eben mal nach ihm sehen.

Er kam um etliches pikierter zurück: Der Maestro schwamm nackt, umgeben von sechs jungen Männern im selben Dress, im hauseigenen Swimmingpool, während Ellen Götz, die knallblonde hochtoupierte Bierbrauersgattin und hemmungslose Bernstein-Verehrerin aus Stuttgart, hochgeschlossen am Beckenrand auf und ab trippelte, von Zeit zu Zeit kleine Juchzer ausstoßend.

Harry hatte auf die fortgeschrittene Zeit aufmerksam gemacht und war fort-geschritten.
Eine halbe Stunde später versuchte er es wieder und erzählte bei seiner Rückkehr, es sehe in Bernsteins Appartement aus wie im Lockerroom des YMCA.

Dies rief mich auf den Plan. Beflügelten Schritts eilte ich den Gang hinunter, öffnete die eine Tür, die andere Tür: nichts. Ich durchmaß den Dutzendluxus der Suite und steuerte auf den Gang zum Pool zu – da sprang mir, nackt an Haupt und Leib, Geerd Westrum entgegen. Und ich war erst mal bedient. Eine Reihe weiterer nasser Gestalten folgte, deren kleinste, letzte und dickbäuchigste war Bernstein. Dann sah und hörte ich nichts mehr, sondern ertrank in einer Brandung von Küssen, die Wiedersehensfreude übertoste mich.
Nachdem Ellen Götz endlich von mir ließ, bekam ich auch des Maestros rauchige Wange noch zu spüren.

In das Gekreisch und Gequietsche hinein verkündete Harry, dass er nun nicht mehr mitkäme, und gab mir seine Einladung. „Fuck him“, befand Bernstein. „He’s in such a mood …“

Immerhin: Alle außer Geerd Westrum verabschiedeten sich, der ließ sich vom Maestro mit einladen, wir gabelten Dorothee auf und standen bereits gegen halb elf vor Beate Kaysers Haustür im 6. Stock.

Was dahinter vorquoll, war eine so grässliche Menschenmenge, die sich nach Luft hechelnd auf die Füße trat, dass mein Entschluss, spätestens um zwölf zu gehen, jetzt festgestanden hätte – wenn er nicht schon vorher festgestanden hätte.

Bernstein wurde in eine Ecke gedrängt: Und dann wirbelte alles an ihm vorbei, jeweils durchdrungen von dem verbissenen Wunsch, drei Minuten länger vor ihm zu stehen als der Vorgänger oder Nachfolger. Die Reichsschauspielerin Margot Hielscher hatte die Technik am besten raus: Sie stellte sich immer wieder hinten an wie die Statisten beim Triumphmarsch aus ‚Aida‘. Bernstein redete ständig weiter, egal wer kam. Nun war wirklich, außer noch was zu essen, alles da: die Regisseure Kurt Meisel und Dieter Dorn, die Schauspielerinnen Maria Schell und Cornelia Froboess, der Dirigent Wolfgang Sawallisch (blieb von Bernstein unerkannt), die Lach- und Schießgesellschaft, das Ballett, die Städtischen Bühnen. „Ganz honorig“, sagte Dorothee missmutig, nachdem sie sich von ihrem ersten Schreck erholt hatte, „und nun lass uns gehen!“

Helen kämpfte sich mit dem gleichen Anliegen zu mir durch, während Geerd Westrum bereits die Münchner Kulturprominenz mit seiner Meinung über die Münchner Kulturprominenz fesselte.

„Ein Taxi, wir brauchen ein Taxi für den Maestro“, kreischte Dorothee und rang, halb zerquetscht, nach Atem. Der lehnte lässig in der Ecke und verkündete: „Nein. Ich bleibe bei meinen Freunden.“ „Ihm gefällt’s hier!“ höhnte Frau Kayser. „Mir auch“, sagte ich, „aber ich habe drei Tage mit anstrengenden Sitzungen hinter mir und bin etwas müde. Bitte entschuldigen Sie mich!“ Sie entschuldigte verletzend schnell. Nicht so Dorothee. Ihr musste ich erst klarmachen, dass wir in diffizilen Verhandlungen stecken, und ich nicht durch überlange Anwesenheit und Verbrüderung den Ernst der Lage herunterspielen möchte. Sie schluckte (Edelzwicker) und blieb. Ich ging.

„Eine Taxe finden Sie doch nicht um diese Zeit“, keifte Frau Kayser, Doktor Kayser übrigens, hinter mir her. Es stand direkt vor der Tür. Vielleicht hätte ich doch bleiben sollen, dachte ich während der Fahrt. Ich bin doch ein Partymensch. Interessante Leute, seichte Gespräche. Vielleicht hätte ich wichtige Beziehungen knüpfen können oder zumindest mit Bernstein noch ein paar Worte von Belang gewechselt. – Aber nein, nein, nein. Aus Trotz nicht und nun gerade nicht. Ja, ‚wenn der Schwanz juckt‘, wie Roland sagt …

Mit gewechselter Kluft erschien ich im ‚Eagle‘. Es war nicht viel los, aber zwei, drei Einladungen nach Hause auszuschlagen, hatte ich doch Gelegenheit. Auch im weitaus volleren ‚Ochsengarten‘ waren die Nieten hoch in der Überzahl. Das einzige Interessante ließ sich hinter den Glastüren abmelken – dann war auch da Ruhe.

16 Kommentare zu “#3.4 München 1981: Ganz am Anfang

  1. Ooooh der Viktualienmarkt 🙂 Da gibt es diesen ausgezeichneten Schweinekrustenbraten von Schlemmermeyr!

  2. Wo so viel gebrochen wird, bleibt einem doch die Spucke weg! Aber Hanno mit dieser Mütze sieht man nicht alle Tage.

  3. „Ich gebe mir wirklich Mühe, das Leben zu ertragen.“ Ich weiss, warum ich diesen Blog so gerne lese…

  4. Wunderbar diese Geschichten über Bernstein und Co. Es geht doch nichts über ein bischen Tratsch, nicht wahr?!

    1. Schon Wilde wusste: Es ist schlimm, wenn alle über einen reden, aber es ist noch schlimmer, wenn keiner über einen redet. Dabei fällt mir auf, dass Wilde hier gerne zitiert wird. So gefällt mir das 🙂

    2. Es geht nichts über ein bischen Tratsch. Trotzdem muss man sich erinnern: Alles kann man sauber machen, nur nicht einen schmutzigen Mund. Also aufgepasst!

    1. Das tolle ist ja, dass zurückgeschaut wird, die Ereignisse aber gleichzeitig auch in Kontext zum Heute gebracht werden.

    2. Und wieder ein Beitrag, der mich konstant zum Lachen bringt. Vielen Dank. Ich sollte langsam anfangen die ganzen Hanno Rinke Zitate und Bonmots zu sammeln 😉

    3. Hanno‘s Kalendersprüche 2018 😜 Nur ein Witz. Ich schließe mich an und bin froh endlich mal wieder etwas schlaues im Internet zu lesen.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

fünf − vier =