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0909
In der Blase  —   Süd nach Südwest

#52B – Tulpenfieber

Immer häufiger hörte und las man im vorigen Sommer, dass die Finanzblase des Weltwirtschaftssystems bis spätestens Mitte der Zwanzigerjahre geplatzt sein würde. Corona hat inzwischen alles geändert. Was jetzt platzt, standhält oder in sich zusammenfällt, wird täglich neu bewertet.

Mein Vater war zur Zeit der Hyperinflation 13 Jahre alt und bei seinem mütterlichen Großvater in Essen untergebracht. Der alte Elshorst verlor damals sein ganzes Vermögen. Der ‚Schwarze Freitag‘ erschütterte 1929 die Finanzwelt, da arbeitete mein Vater schon. Seine Bezüge wurden ab 1932 gekürzt. Als Hitler die Macht eroberte, stiegen die Gehälter wieder. Das entschuldigt nichts, erklärt aber, warum so viele Menschen von den Nazis begeistert waren. Enttäuschungen mochten sie sich später nicht eingestehen. Guntram wurde schon argwöhnisch beim Reichstagsbrand, gleich nach der ‚Machtergreifung‘. Nach dem Röhm-Putsch hatte er gar kein Vertrauen mehr in die NSDAP. Unternommen hat er nichts. „Was auch?“, fragte er. Alles sei sofort ‚gleichgeschaltet‘ worden. Über den Sieg im Frankreich-Feldzug freute er sich trotzdem, über seine späte Einberufung Ende 1944 schon weniger. Obwohl er nach dem Krieg schnell wieder aufstieg, blieb er sparsam und vorsichtig. Meine Mutter fürchtete bis zu ihrer völligen Demenz, sie könnte so arm sterben, wie sie aufgewachsen war.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Meine Gleichaltrigen und ich, wir sind die Generation der Kinder von Tätern und Opfern. Das hat sich entscheidend auf unser Leben ausgewirkt. Wie mein Vater war ich kein Kämpfer, sondern ein aufmüpfiger Angepasster. Die ‚Gnade der späten Geburt‘, wie Kanzler Kohl es einst nannte, hat es uns ermöglicht, unsere Eltern zu verurteilen, ohne selbst in Gewissenskonflikte geraten zu müssen. – Praktisch. Als Sohn einer Verfemten war ich sowieso auf der sicheren Seite und kann jetzt das Ersparte, an dem kein Blut klebt, ausgeben, bevor mir der Tod oder der Fiskus einen Strich durch die Rechnung macht. Ich trage durch meine Transaktionen nicht unüberlegt, aber auch nicht hasenfüßig zur Spekulationsblase bei und ich hoffe und fürchte, dass mein Leben so weitergehen wird, wie es jetzt ist: Die Blase soll schillern und erst mit meinem letzten Atemzug platzen. Aber vorher streue ich noch ein paar Bilder in den Text. Sie belegen, dass Südtirol mehr bot, als Gedanken zu sortieren.

Fotos (4): Privatarchiv H. R.

Die berühmteste Spekulationsblase der Geschichte hat mit Tulpen zu tun. Ausgerechnet! Die fanden wir immer doof und spießig. Bloß weiße Tulpen, nie weniger als zwanzig Stück, schmückten in den frühen Siebzigerjahren meine Zwei-Zimmer-Wohnung. Die Tulpe kam ab 1550 von Persien über die Türkei und Wien in die Niederlande. Dort wurde sie die Pflanze der Wohlhabenden und Gebildeten: Adlige, Apotheker, Advokaten, Ärzte, Notare. Allmählich interessierten sich immer mehr Holländer für die ständig im Preis steigende Blume. Die Knollen wurden gekauft, verkauft, gestohlen, fast eine Art Währung, die nichts zu tun hatte mit dem realen Wert der Pflanze, wie Geld aus Papier, an das man glauben muss, nach wie vor; darüber hinaus gibt es heute bei vielen Begleichungen bloß noch Zahlen, denen man vertraut, wenn sie auf dem Display erscheinen. Damals in Holland spekulierte schließlich das ganze Volk, alle. Am 3. Februar 1637 wurde eine ‚Admirael van Enchhysen‘ für 5.200 Gulden verkauft.1 Das war’s. Am 5. Februar war Schluss. Die Tulpe verlor mehr als 95 Prozent ihres Wertes. Eine Lehre für künftige Generationen? – Nee. JPMorgan-Chace-Chef Jamie Dimon vergleicht den Wirbel um die Bitcoins mit dem um die Tulpe. Der Preis steigt weiter und weiter, und am Ende haben viele alles verloren. Und? Sparen bringt nichts bei Negativzinsen. Aktien können steigen und fallen. Nach wie vor ist die Gier ein starker Motor. Wer nichts hat, kann den Krisengewinnlern ins nicht vorhandene Gewissen reden, ohne beweisen zu müssen, dass er selbst in der gleichen Situation anders gehandelt hätte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ganz besonders schlimm soll es werden, wenn die ‚Anleihen-Blase‘ platzt. Das geschieht bei Zinserhöhung und bei Inflation, und beides scheint am Beginn des neuen Jahrzehnts weit entfernt zu sein. Panikmache, es drohe ein Crash, verkauft sich trotzdem gut: spannender als Lyrik oder Zuversicht. Wenn der Staat zu viele Schulden macht, droht der Staatsbankrott. Wenn der Staat zu wenige Schulden macht, drosselt er die Konjunktur. Aber wen betrifft das, was da passiert? Die Wunschvorstellung vieler Armen, dass die Entwertung bloß die Reichen treffen würde, ist so kurzsichtig, dass ein solcher Mangel an Einsicht in Zusammenhänge bereits eine der Ursachen für Armut sein könnte.

Fotos (5): Privatarchiv H. R.

Träumer denken, es wäre gerecht, wenn alle gleich viel hätte: gleich viel Geld, gleich viele Bildungschancen. Aber dann: Der eine verprasst das Geld, der andere ist zu unbegabt (faul oder doof zum Beispiel), um zu lernen. Ideologen wollen den Eltern die Kinder möglichst bald wegnehmen, um sie besser zu schulen, als die Eltern das können. Mitarbeiter der Jugendbehörde verteidigen sich, dass man nicht damit rechnen konnte, dass die versoffene Mutter ihre Kinder verhungern lassen würde, Familie sei für die Kleinen viel besser als Heim, selbst wenn’s in Einzelfällen schiefgeht. Doch trotz aller Versuche und Versäumnisse: Auslese ist sowieso nicht auszurotten. Der Humanismus fordert, dass wir das Menschenmögliche tun, aber was das ist und was es bewirkt, das sahen Moses, Melanchthon und Marx ganz unterschiedlich, und so platzen immer wieder die Blasen des guten Willens.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Sich für vieles zu interessieren, sich für manches zu engagieren, für kaum etwas Opfer bringen zu wollen – das ist die maßgebliche Haltung der westlichen Weltbürger am Beginn des neuen Jahrzehnts. Es sieht so aus, als würde sich die jetzige Jugend wieder mehr einbringen. Solange die Wirtschaft boomt und der Verzicht überwiegend die anderen betrifft, ist es leichter, sich ‚richtig‘ zu verhalten. Damen tragen keine Pelze mehr und Obdachlose keine Plastiktüten. Aber ich traue allen alles zu und niemandem ganz über den Weg. Vegane Metzger, Discountfleisch essende Tierärzte – alles, was man denken kann, wird irgendwann einmal Wirklichkeit. Zumindest als Versuch. Mit dem Fliegen hat es geklappt, mit dem Sozialismus nicht. Es ist wichtig, die Zukunft zu planen. Vorauszusehen, dass sie dann doch ganz anders wird, darf uns nicht entmutigen!

Fotos (4): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Material von Shutterstock: Prostock-studio (Junge zeigt Faust) und Reichsbank/Wikimedia Commons/gemeinfrei (Geldscheine, angeschnitten)

30 Kommentare zu “#52B – Tulpenfieber

  1. Das Menschenmögliche tun ist sicherlich richtig, aber völlige Gleichheit wird es nie geben. Das wäre eine Illusion.

    1. Gerechtigkeit muss trotzdem immer das Ziel sein. Auch wenn es noch so aussichtslos ist das jemals wirklich zu erreichen.

      1. Ich habe gelesen, eine Umfrage unter ehemaligen DDR-Bürgern ergab: Viele wollten lieber nur 1000€ haben, wenn alle das bekämen, als 2000€ bekommen, wenn andere 3000€ erhalten.

      2. Ach was!? Das ist ja doch überraschend. Könnte ich für mich persönlich glaube ich nicht nachvollziehen.

      3. Neid spielt immer eine große Rolle. Aber ich würde in dem Falle auch die 2.000€ nehmen 😉 Schwieriger fände ich es ehrlich gesagt wenn man mir die 3.000€ anbieten würde. Da hätte man doch sicher ein schlechtes Gewissen.

      4. Schwieriger wird es, wenn eine Leistung dahinter steht. Nach welchem Maßstab wird die beurteilt? Windeln wechseln ist volkswirtschaftlich offenbar weniger wert als Abgaswerte zu manipulieren und an der Börse zu spekulieren. Leider hat die Oberschicht im Sozialismus kein vorbildlicheres Bild abgegeben.

      5. Genau deshlab finde ich diesen Ruf nach einem Neustart oder einer neuen gerechteren Gesellschaftsordnung auch so naiv. Auch dann müsste es wieder überlegt werden nach welchem Maßstab unterschiedliche Leistungen belohnt bzw. vergütet werden. Diese Idee von absoluter Gleichheit ist lobenswert aber eben auch Utopie.

  2. Was die Zukunft bringt und wann der nächste Crash um die Ecke kommt ist in Zeiten von Corona fast unmöglich vorherzusagen. Dabei vergisst man aber dennoch oft wie gut es uns in Deutschland eigentlich geht.

    1. Es sind in den letzten Monaten so viele Kleinunternehmer bankrott gegangen – die würden die momentane Situation sicherlich anders einschätzen.

      1. Ja ganz selbstverständlich. Und jeder dieser Fälle ist schlimm genug. Nichts destotrotz geht es uns als Gesellschaft aber im Vergleich gut. Unser Sozialsystem funktioniert besser als viele andere. Da darf man sich auch nichts vormachen.

      2. Das Einzelschicksal ist immer viel ergreifender als die Statistik. Der Film handelt vom Einzelschicksal, die Politik muss abwägen und entscheiden.

  3. Tja „solange die Wirtschaft boomt und der Verzicht überwiegend die anderen betrifft, ist es leichter, sich richtig zu verhalten“. Hmmm, ob das wohl auch auf unsere Jugend zutrifft? Kommt allein daher der Aktivismus?

    1. Ich glaube die Jugendlichen, die gegen den Klimawandel bzw. die entsprechende Politik demonstrieren, spüren schon eine ernstzunehmende Gefahr. Ebenso die Jugendlichen in den USA, die nicht weiterhin in der Schule von Amokläufern erschossen werden wollen. Oder die vielen Afro-Amerikaner, die es leid sind auf der Straße um ihr Leben zu fürchten.

      1. Dass die Jugendlichen in den USA nicht von Amokläufern erschossen werden wollen, ist ein nachvollziehbarer Wunsch. Meistens geht er ja auch in Erfüllung.

      2. Nun ja, in Amerika gab es im letzten Jahr 392 „Mass shootings“, also mindestens eines pro Tag. Dass folgerichtig schon Kinder im Grundschulalter an entsprechenden Notfallsimulationen teilnehmen müssen ist schon sehr erschreckend.

      3. Ernsthaft? Jeden Tag einen Amoklauf? Das ist wirklich verrückt. Aber der Waffenwahn der Amerikaner muss sich ja irgendwie in den Statistiken niederschlagen. Überraschend ist es dann auch wieder nicht so richtig.

  4. Über die Tulpengeschichte hatte ich zwar mal gehört, aber sie war mir nicht mehr richtig im Gedächtnis. Danke für die Auffrischung.

    1. All diese Blasen, die irgendwann platzen. Ich war mir über den Titel dieser Reiseerinnerungen etwas im Zweifel. Nicht zum ersten Mal fühle ich mich nachträglich bestätigt. Meistens hat mich die Zeit dann einfach überholt. Ich hoffe, dass ich trotzdem nicht besserwisserisch geworden bin.

      1. Gerade COVID-19 hat viele Blasen Platzen lassen und ohne Frage neue geschaffen.

  5. Man muss die Zukunft planen, egal wie oft sich das Geplante dann wieder ändert und an Neues anpasst. So ist auch meine Vorgehensweise, gerade auch während den Corona-Monaten. Gar keine Pläne zu machen ist für mich zumindest keine Lösung.

      1. Unsere Pläne: ambitioniert sollen sie sein, aber realistisch. Nicht verstiegen, aber auch nicht hasenfüßig. Bei all den unterschiedlichen Zielen der Wähler ist es den Politikern wichtig, nichts zu sagen, was ihre Klientel verschrecken könnte.

  6. Gier ein starker Motor und wird es immer bleiben. Die Welt verändert sich konstant, manchmal auch zum Besseren hin. Aber die Menschen ändern sich nur wenig und Gier gehört zu einer unserer unangenehmsten aber doch weit verbreitetsten Eigenschaften.

    1. Das Wort „Gier“ hat einen unangenehmen Klang, aber ohne diesen Anreiz hätte es die Entwicklung zur Zivilisation nicht gegeben. Unsere Triebe sichern unser Überleben. Wir können sie ja „Appetit“ und „Lust“ taufen.

  7. Wann platzt denn nun eigentlich die DeFi-Blase? Blockchain müsste doch eigentlich der nächste Kandidat für einen Crash sein.

    1. Ist der Bitcoin-Trend nicht eh schon wieder überholt? Oder lohnt sich das zur Spekulationsstrategie wirklich?

  8. Wohin ist nur das Glas mit dem schillernden Rose‘ verschwunden? Das hätte ich auf den aufmüpfigen Angepaßten mit seinen multimedialen Begabungen und seinem literarischen Fundus gerne erhoben!

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