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Atlantische Turbulenzen

#19 – Caracas (10)

Gegen vier war Bill noch nicht zurück, ich aber darmhalber schon zweimal aufgestanden. Die drakonischen Gepflogenheiten des venezolanischen Flugverkehrs zwangen uns, um fünf Uhr am Airport zu erscheinen, damit wir um sieben Uhr fliegen konnten. Gegen Viertel nach vier stieß ich an der Klotür mit Bill zusammen. Er war ziemlich betrunken und gab selbst „a lot of“ Cuba Libres zu. „Good bye, Scheißland Venezuela“, schrie er in Deutsch-Englisch, und meine kassandrahafte Fantasie sah uns bereits gar nicht starten oder verspätet starten oder wegen weiß ich was auf der Strecke wieder umkehren. Aber Bill fuhr fort und rühmte sich, Abel, der auch in der Disco gewesen war, „all our best shit from Hanno and me“ gewünscht zu haben.

Foto links: Tachi Touchi/Shutterstock | Foto rechts: faak/Shutterstock

Ich befand mich in einem Zustand wacher Ohnmacht, nahm alles wahr, aber schwerelos, nahm mein Gepäck, das mir den Sinn für die Schwerkraft zurückgab, und gleich darauf die Rechnung in Empfang.

Foto: Stokkete/Shutterstock

Die Taxe stand bereit, und so verließen wir die Sechsmillionenstadt in aller Frühe und Dunkelheit, heimlich fast, wie es mir schien, aber dafür umso schneller. – Evelyn, die Harald ein für alle Mal den Kopf verdreht hatte, und die die Gefährtin meiner frühen Jugend gewesen war – hier war sie aufgewachsen. Wand an Wand im selben Haus, meinem Elternhaus, war dort, sehr weiblich, sehr selbstbewusst, jemand gewesen, ein Begriff von Ferne, Fremde und Nähe, und in der Dunkelheit, in der ich diese Stadt jetzt hastig verließ, glühten aus ihren wenigen erleuchteten Fenstern die Geheimnisse, die ich unterstellt und nicht gefunden hatte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Und doch: Alle Menschen waren hier so freundlich gewesen, anders, gewiss, aber doch nicht fremd; eine Selbstverständlichkeit, die mehr vermag als Grübeln, umgab sie. Fort ohne Bedauern? Zumindest mit Frust. Anstehen am Schalter, Anstehen für den Zoll, der längst noch nicht da ist – warum müssen wir es dann? Ausfüllen sinnloser Formulare. Selbst beim Geldtausch, Bolivars in Dollar, wollen sie wieder wissen, was meine Passnummer ist und ob ich ledig bin. – Aber dann ein ziemlich pünktlicher Start, ein ruhiger Flug ohne weitere Aus- und Durchfälle, allerdings über bedeckter Karibik, so dass so farbige Namen wie Jamaika, Haiti, Kuba unter der Wolkendecke wesenlos blieben. Dafür war in Houston ein Himmel so blau, wie wir ihn in Venezuela nie gesehen hatten. Obwohl Bill behauptete, ihn und gerade ihn würde der Zoll immer total auseinandernehmen, passierten wir alle Fährnisse mit Anstand.

25 Kommentare zu “#19 – Caracas (10)

  1. Ich bin der erste. Und diesmal muss man dann auch wohl gleich mit dem Video(ausschnitt?) anfangen. Wow, ganze 12 Minuten, die die Atlantischen Turbulenzen noch einmal zusammenfassen. Da kann man kaum noch von Untermalung sprechen. Super.

  2. All our best shit from Hanno and me – ich sehe es schon als neuen Buchtitel. Für den jungen, anglophilen Markt. All the best shit from Hanno. Haha

  3. Wie lange war dieser Venezuela-Aufenthalt all in allem? Ich finde es immer komisch einen Ort nach einem längeren Besuch zu verlassen. Wie schnell man sich doch eingewöhnt.

    1. Im Urlaub (oder auf Reisen generell) geht das allerdings auch einfacher als wenn man tatsächlich seine Zelte in einer neuen Stadt aufschlägt. Jedenfalls habe ich mich nach meinen zwei Umzügen wesentlich langsamer zuhause gefühlt als bei manchen Reisen.

      1. Dass man nicht einfach wieder abreisen kann, sondern (auf unbestimme) Zeit bleiben muss, macht vielleicht kritischer gegenüber dem Vorgefundenen.

      2. Sicherlich. Man lebt als Besucher doch trotz aller Bemühungen oberflächlicher. Nimmt Probleme weniger wahr.

  4. „Anders, aber doch nicht fremd“ sollte uns allen ein Leitfaden für Begegnungen sein. Es gibt viel zu viel Angst und Vorurteile über alles was „anders“ ist.

    1. Die Welt ist ein Buch. Wer nie reist, sieht nur eine Seite davon. Aber heutzutage liest ja auch kaum jemand mehr…

      1. … reist dafür aber wie verrückt. Immerhin: 1960 gab es als Lockmittel an der Adria „Kaffee nach deutscher Art“. Heute gibt es als Lockmittel Espresso, sogar auf Spiekeroog.

      2. Alles ist einfacher und angenehmer, keine Frage. Manchmal fragt man sich aber schon in welche Ecke der Welt man reisen muss um noch wirklich lokale Spezialitäten zu finden.

      3. Man könnte jetzt darauf antworten. Aber dann wären diese Geheimtipps auch nicht mehr geheim 😉

    2. Hesse sagt man „hat nur Angst, wenn man mit sich selber nicht einig ist“, Kästner sagt „wenn einer keine Angst hat, hat er keine Phantasie“. Man wird auch hier wohl keine schwarz-weiss-Lösung finden können.

    1. Das erinnert mich an einen Artikel über Schlafparalyse, den ich vor ein paar Tagen gelesen habe. Das war in der Tat eine gruselige Vorstellung.

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