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Atlantische Turbulenzen

#13 – Caracas (4)

Gegen acht kam Bill zurück, tütenbepackt, und sagte mit grimmiger Genugtuung: „Jetzt weiß ich es: Sie geben keine Nachrichten weiter. Ich habe dreimal von unterwegs angerufen und Nachrichten hinterlassen, aber keine ist da. Abel wird es längst versucht haben.“ Das durfte mir eigentlich nicht so gleichgültig sein, wie es das war. Denn das sogenannte ‚Holiday Inn‘ hatte nur bis Montag Zimmer für uns, und der Flug in den Dschungel hatte sich auch telefonisch als ausgebucht herausgestellt. In all diesen Fällen konnte nur Abel helfen, der war imstande, den Rückflug auf Montag vorverlegen zu lassen, den Dschungeltrip für Dienstag zu organisieren und die Zimmerbuchung im Hotel bis Donnerstag zu verlängern. Wenn es nur mit den Nachrichten besser klappte! Doch was hilft das Zagen, die paar Snacks, die Bill zwischendurch eingenommen hatte, hielten nicht lange vor, und so sollte heute Abend spanisch gegessen werden. Dazu fuhren wir in eine Gegend, die ich vorsichtig als ‚bunt‘ beschreiben würde. „Erschrick nicht“, sagte Bill, „von außen ist es nichts Besonderes.“ Aber von innen war es auch nichts Besonderes, sondern völlig leer. „Das ist kein gutes Zeichen“, fand Bill. „Komm, wir gehen lieber woanders hin.“ Wir steckten unsere Nasen in drei Lokale, ohne den richtigen Riecher zu haben, denn im vierten, in dem wir blieben, war mein Fisch völlig ungenießbar – den Ausdruck gebrauche ich wirklich fast nie! Bill ließ größere Teile dessen zurückgehen, was er als Ente bestellt hatte, was aber weder nach Ente noch überhaupt schmeckte. Aus Trotz ließ ich mir noch eine zweite Portion Schinken kommen, weil die erste gut gewesen war, während sich Bill an den Kokosnussnachtisch herantraute, der zu meinem größten Ärger ganz köstlich war. Da es ja nichts, aber auch gar nichts gibt, was ich nicht als Wink des Schicksals empfinde, nahm ich mir sehr zu Herzen, dass man nach desaströsem Hauptteil nicht zimperlich zur Vorspeise zurückzukneifen hat, sondern, gleich ob gebrochen oder ungebrochen, erwartungsmutig den Nachtisch fordern muss.

Foto oben: Wolfgang Simlinger/Shutterstock | Foto unten links: Victoria43/Shutterstock | Foto unten rechts: Yulia-Bogdanova/Shutterstock

Die Anstrengung dieser Einsicht hatte mich allerdings so erschöpft, dass ich prompt auf dem Bett einschlief. Während ich noch mal ins Bad hatte gehen wollen, war Bill schon vorausge(g)eilt zum üblichen Club, der sich im selben Gebäudekomplex befindet wie unser Hotel, bloß eben in der Tiefgarage. Das mit dem Einschlafen hatte mir aber schon gedämmert, als ich meine ruhelüsternen Schritte in Richtung Hoteleingang gelenkt hatte.

Foto: Doucefleur/Shutterstock

Viertel vor eins wachte ich auf, und diesmal, Samstag auf Sonntag, ließ ich mir das nicht durchgehen. Ich zwang mich hoch und stieg abwärts durch den Nebel, den es verursacht, wenn man vergessen hat, die Kontaktlinsen vor dem Einschlafen aus seinen Augen zu fummeln. Im Lokal war mächtig was los, aber ich machte doch rasch Bill, seine Bekanntschaft vom Vorabend und Abel aus. Abel begrüßte mich mit dem Überschwang lang getrennter Geschwister und sagte, nun würde alles anders. Bill und der von ihm immer nur „This Boy“ Genannte verschwanden unmittelbar nach meinem Eintreffen in die Disco. Abel blieb und machte mich mit einigen Freunden bekannt, andere lernte ich auch ohne ihn kennen. Neben Latino-Englisch hörte ich auch Goethe-Institut-Deutsch. Besonders beeindruckt war ich von einem nicht mehr ganz jungen Biologen (so stand es auf seiner Visitenkarte), der aussah wie der Sohn eines karibischen Sklaven und einer französischen Arztwitwe. Bill kehrte – allein – gegen fünf zurück und war verblüfft, mich noch vorzufinden. Der Raum war dunkel getäfelt, auf den Butzenscheiben in Richtung Welt bunte Papageien, eine runde Bar mit Hockern ringsum auf der einen Seite, auf der anderen Seite eine Steh- oder Tanzfläche, dahinter einige quadratische Tische, deren rot-weiß-karierte Decken etwas Ausflugslokalhaftes vortäuschten. Rum und Rumba schwelten in der Luft. Es war voll und es blieb voll, als Bill und ich gingen, gefolgt von einem hartnäckigen Verehrer, der schon deshalb irritierend, aber chancenlos war, weil er mich stark an meinen ehemaligen Kollegen Klaus Bülow erinnerte, der so oft und gern in Südamerika gewesen und inzwischen an AIDS verstorben war.

Foto: bbernardc/Shutterstock

Dieser hier war natürlich dunkler und ‚Jurist‘, hatte sein Goethe-Institut-Freund übersetzt. Im Fahrstuhl hatte ich mich noch verstört und halbtrunken gefragt, wie das werden sollte, vor der Zimmertür sagte dann Bill brüsk und sehr gouvernantenhaft „Buenas Noches!“, und ich sah unseren Begleiter dazu an, als ob Bill irrsinnig eifersüchtig sei. „Hat er eigentlich dich oder mich gewollt?“, fragte Bill, als wir endlich in den Betten lagen, aber diese Frage fand ich zu unverschämt, um sie zu beantworten.

Foto links: Hana Ryu/Shutterstock | Foto rechts: ivan bastien/Shutterstock

„Blondschütter bin ich“, dachte ich im Einschlafen, „kleinäugig, nicht sehr drahtig, aber meine dürstende Seele und mein charmant ernstelndes Mundwerk bringt sie dann doch zur Strecke, und der Ewigkeitshunger in meinen Augen zieht darüber hinaus mehr die an, die was Wertvolles wollen, als die, die sich mit Geringem zufriedengeben – und weil das so ist und weil ich es auch gar nicht ändern will, deshalb ist alles so schrecklich und so bewegend und so weitertreibend, dass ich mich noch immer nicht umgebracht habe.“ So dachte ich, ich war eben schlaftrunken und trunken. Und eigentlich hätte ich ihn doch gewollt.

Foto: ChristianChan/Shutterstock

Jeder Tag, der Überraschungen bringt – so muss man ans Leben herangehen –, ist ein Gewinn. Der Sonntag brachte sechs unter der Tür durchgeschobene Nachrichten, von denen fünf keine Überraschungen waren, denn es handelte sich dabei um Bills zahlreiche Anrufe. Die sechste machte die sehr geehrten Gäste darauf aufmerksam, dass die Klimaanlage repariert würde und deshalb heute nicht in Betrieb sei. Dass der Fahrstuhl auch nicht in Betrieb sei, stand nicht auf dem Zettel, es war ihm aber gestern schon anzumerken gewesen, denn ich hatte, immer wenn er abwärtsfuhr, so ein komisches Gefühl im Magen gekriegt, das ich sonst nur in der Achterbahn bekomme.

Foto: 7th Son Studio/Shutterstock

Während ich am Pool schrieb, gestört nur vom Irrsinnslärm der Presslufthämmer an der Straße (das war die Reparatur), schlief Bill aus. Gegen halb zwei kam er hungrig, aber missmutig, weil ‚This Boy‘ nicht angerufen hatte und auch nicht zu Hause war. Dafür hatte Abel seinen Besuch für halb drei angekündigt, und dann sollte ein großer Ausflug gemacht werden. Vorher mussten wir aber noch etwas essen, fand Bill, am besten in diesem schick aussehenden Lokal ‚Tutti Frutti‘, an dem wir immer vorbeifuhren. Ich war einverstanden, und wir gingen los. Da ich mich nicht damit hätte abfinden können, wenn irgendetwas auf Anhieb geklappt hätte, war ich äußerst verblüfft, als wir nach zwölf Minuten Fußweg durch die Mittagsglut vor dem Lokal ankamen und es nicht geschlossen hatte. Dieses nicht ins Mosaik passende Steinchen passte aber doch. Es handelte sich beim ‚Tutti Frutti‘ strikt und ausschließlich um eine Eisdiele. Wir gingen die Straße weiter und landeten in einem angeblich vegetarischen Restaurant, das es aber nicht so ernst nahm, jedenfalls aßen wir in dessen Patio Fisch und ich trank Sangria, während Bill, hochverkatert von seinen Cuba Libres der vergangenen Nacht am Mineralwasser nippte. Das war alles schön und friedlich, und es war klar, dass es so nicht bleiben durfte.

Foto oben links: sbw18/Shutterstock | Foto oben rechts: hxdbzxy/Shutterstock | Foto unten links: sta/Shutterstock | Foto unten rechts: Gudrun Muenz/Shutterstock

24 Kommentare zu “#13 – Caracas (4)

    1. In London: Ein Kollege, der sich brüstete, dass er seine Ernährung ganz aufs Pflanzliche umgestellt habe, bestellte im Lokal Seezuge und erklärte meiner Begleiterin: „You know, I ‚m a fish eating vegetarien.“ „I see“, sagte sie, „I ‚m a meat eating vegetarian.“

      1. Klingt nach einer ziemlich schlagfertigen und sympathischen Begleiterin.

      2. Und so wahr. Jedenfalls entwaffnet das viele Mode- / bzw. Feelgood-Vegetarier.

  1. Ich frage mich seit mehreren Minuten wie der Sohn eines karibischen Sklaven und einer französischen Arztwitwe aussehen könnte. Ich komme nicht weiter.

    1. Es wäre aus heutiger Sicht möglich, dass nur „Biologe“ auf der Visitenkarte stand und ich die Charakterisierung „nicht mehr ganz jung“ zum besseren Verständnis des unbeteiligten Lesers hinzugefügt habe, um ihn teilhaben zu lassen.

      1. Dabei wäre eine knappe Selbsteinschätzung auf Visitenkarten doch durchaus hilfreich. Erspart einem mitunter eine Menge Überraschungen.

      2. Da muss die Selbsteinschätzung allerdings auch mit der Außenwahrnehmung übereinstimmen. Meiner Erfahrung nach trifft das in den meisten Fällen eher nicht zu.

  2. Ich war mal in Frankfurt in einem Hotel ohne Klimaanlage. Klingt erstmal nicht so heiss und exotisch wie Venezuela, aber wenn dort im Sommer die Fenster ausgetauscht werden sollen und im Laufe dieser Arbeiten das ganze Hotel in Plastik verpackt wird, sehnt man sich schon nach ein bischen Frischluft.

      1. Wie bitte? Unter den Umständen hätte ich mir ziemlich schnell eine andere Bleibe gesucht.

  3. Ich musste die Tage, genauer zum Tod vom großen Scott Walker, übrigens an Sie denken. Sofern ich mich richtig erinnere waren Sie ja zumindest zu Scott Walker 1-4 Zeiten ein Fan.

    1. Absolut! Traurig, dass es im Laufe seiner Solo-Karriere so schnell abgetaucht ist. Das Revival der Walker Brothers hat auch nicht geklappt. Meine Freundin Silke machte Pop-Promotion. So habe ich ihn kennengelernt: ein sehr verschlossener Mensch.

      1. The Drift und Bisch Bosch waren zwei schwierige aber auch ganz großartige Alben. Schade, dass er nicht mehr veröffentlicht hat. Aber was für ein spannender Mensch. Beeindruckend, dass Sie ihn persönlich kennen lernen durften.

      2. Sicherlich gut gemachte anspruchsvolle Musik, aber ich bleibe dann doch lieber bei den Walker Brothers.

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