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Atlantische Turbulenzen

#14 – Caracas (5)

Abel wartete schon, als wir im Hotel zurück waren. Ich unterdrückte eine leichte Müdigkeit, weil ich mir das, was Abel zu bieten haben würde, nicht entgehen lassen wollte. Vorher musste ich aber meine Kamera holen. Der Fahrstuhl funktionierte wieder, die Klimaanlage nicht. Das Zimmer kochte.

Foto: Marian Weyo Djomas/Shutterstock

Wir kreuzten nun in seinem Auto durch die Stadt, in deren Hässlichkeit ich inzwischen gelernt hatte, Abstufungen wahrzunehmen. Natürlich versöhnt die Wärme etwas. Nicht, dass man sie ertragen könnte, vor allem nicht im Hotelzimmer, aber kurzärmelige Hemden und leichte Röcke oder Hosen ebnen die sozialen Unterschiede doch sehr viel mehr ein als Anzüge und dicke Mäntel. In Moskau sieht man immer gleich, wer reich ist, in Boston auch. Hier tragen die Menschen ihre Klassenunterschiede weniger offensichtlich am Leib.

Foto: Djomas/Shutterstock

Abel und Bill plapperten lustig, mal Englisch, mal Spanisch. Bill ist fünfunddreißig und fühlt sich älter, Abel ist wohl Mitte zwanzig, vielleicht Ende zwanzig und fühlt sich wohl jünger. Allerdings zeigte er uns derart bewegt das unerhebliche Gebäude, in dem er dereinst zur Schule gegangen war, wie ich mir das eigentlich nur von einem Menschen vorstellen kann, der nach fünfzig turbulenten Jahren an die Wiege seiner Lebenserfahrungen zurückkehrt. Machte mich das Zusammensein mit diesen beiden, die ja nun auch keine Kinder mehr waren, jünger oder älter? Ich fand älter. Lieber bin ich Jüngster unter Greisen, das bin ich immer gewesen. Nicht mehr? Das hat etwas Bedrohliches, das ich immer lastender empfinde und das mich manchmal nachts aus hoffnungslosen Träumen reißt. Ich habe kaum Kontakt zu jungen Menschen, wenn ich ganz großes Unglück habe, wird von denen, an denen mir am meisten liegt, niemand mehr leben in zwei Jahren. Das kann auch einem Dreißigjährigen passieren, dem vier Zwanzigjährige wegsterben, aber die Wahrscheinlichkeit ist geringer. Die Todesangst der vergangenen Jahre ist gänzlich von mir gewichen, aber sie hat einer Angst, nicht überleben zu können und nicht überleben zu wollen, Platz gemacht, die dasselbe Ausmaß erreicht.

Foto: Stuart Monk/Shutterstock

Wie oft habe ich im Bett gelegen und trotzig-schwärmerisch gedacht, ich würde eines Tages – des Verständnisses, des Halbverständnisses, des Unverständnisses überdrüssig – abreisen, alle Spuren tilgen, einfach weg sein, nie mehr auftauchen. Kompromisse gab es schon. Manchmal tauchte in der nebelnden Zukunft ein Manuskript ohne Absender von mir auf oder gar ich selbst nach zwanzig Jahren: ein heiliger Sünder, andächtig bestaunt. – Zumindest dieser Traum ist zerbrochen. Venezuela symbolisiert sehr gut diese Weite, die ich da nachts heulend und sehnend meinte: anders bis zur Fremdheit, unübersichtlich bis zur Ausgewogenheit – also kein Ausweg. Meine Waffe, die Sprache, schlägt hier keine Bresche in den Urwald und in den Beton erst recht nicht. Diese Flucht mit der erstbesten Maschine an den Äquator erweist sich als kokett-kapriziöse Albernheit, ein Fehler, den ich allein sicher nie gemacht hätte, den ich nun aber auch nicht mal mehr wegdenken kann. Ich bin kein Rudi Dutschke, ich habe nie an etwas so geglaubt, und ich bin kein Albert Schweitzer, ich habe nie die innere Notwendigkeit gespürt. Die Dritte Welt wird von mir bereist und glossiert, und es bleibt mir, im Ernstfall, nur, die Bettdecke über den Kopf zu ziehen und abzuwarten, bis ich rausgetragen werde.

Foto links: Photographee.eu/Shutterstock | Foto rechts: V. Shvd/Shutterstock

Mit der Besichtigung der aus Fertigbetonteilen errichteten Schule war die Sightseeingtour dann auch beendet, und nun fuhren wir einen seiner Brüder besuchen. Der lebte so, wie man da so lebt, in einem der üblichen Neubauviertel, mit zwei Söhnen, einer Tochter, kleiner Frau und vollgestopften Zimmern. Ein Bierkrug mit Heidelberger Schloss und drei Worte Deutsch pro Kind wurden stolz präsentiert. Ich sagte: „Ah ja, ah ja“, und machte von da an den Mund nur noch auf, wenn ich weiteren Ananassaft trinken wollte. So schluckte ich im Laufe der folgenden zwei Stunden vier Gläser voll und fand es irrsinnig südlich und privat.

Foto: Irina Burakova/Shutterstock

Bill wirkte etwas gelangweilt und auch nicht direkt Herr der Lage, aber er verstand doch immerhin, worüber sich die anderen unterhielten. Mir blieb nur, die bunten Bilder von der Schulabschlussfeier des ältesten Sohnes zu bewundern, was schon deshalb einige Zeit in Anspruch nahm, weil mir jede Person namentlich vorgestellt wurde. Sie hießen alle Juana oder José oder sonst wie mit ‚Jott‘, das ja aber im Spanischen wie ‚Ch‘ ausgesprochen wird.

Foto: jakkapan/Shutterstock | sirtravelalot/Shutterstock

Alle waren wirklich sehr nett, sprechen konnten wir nun mal nicht miteinander. Überhaupt habe ich hier noch keinen unfreundlichen Menschen getroffen, ohne dass man je irgendwo der leeren Plastikglätte des US-Kommunizierens ausgesetzt wäre. Nur: Das verstehe ich wenigstens. Gidon Kremer sagt, ihm sei die ehrliche sowjetische Flegelhaftigkeit lieber als die aufgesetzte Liebenswürdigkeit der USA. Also, so weit würde ich nie gehen, zumal der, der liebenswürdig ist, viel mehr Spaß hat, als der, der brüsk muffelt. Das ist meine klassengesellschaftliche Überzeugung.

Foto links: Aaron Amat/Shutterstock | Foto rechts: Solis Images/Shutterstock

Als ich sicher war, beim nächsten Schluck einen Ananas-Tropen-Koller zu bekommen, machte Abel schließlich doch Anstalten zum Aufbruch. Jetzt sollte eine Schwester besucht werden. Ich wusste schon, dass Abel achtzehn Geschwister hat, allerdings von zwei verschiedenen Müttern, wie Bill und Abel gleichzeitig betonten, und sagte hastig, dass ich nun Nachtschlaf nachholen müsse. Bill fand, er müsste das auch, aber zumindest eine Schwester wollte er vorher noch abhaken. Zuvor begleitete er mich aufs Zimmer, wo er sich darüber ereiferte, dass keine Nachricht von ‚This Boy‘ vorlag. Obwohl er sich und mir Gleichgültigkeit vorzutäuschen versuchte, machte ich an ihm doch Anzeichen nervöser Verliebtheit aus. Er rief, scheinbar nur ärgerlich über dessen Unzuverlässigkeit, bei ihm an und verabredete irgendetwas, bevor er zurückging zu Abel, um einen weiteren Verwandtschaftsbesuch zu absolvieren. Meine gelangweilte Müdigkeit bescherte mir eine Stunde Schlaf. Bill war noch nicht zurück, obwohl er nur ganz kurz hatte bleiben wollen, weil er auch Schlaf nachzuholen hatte, und Alkohol würde er sowieso nie wieder trinken, heute schon gar nicht. Ich verließ das nach wie vor brütende Zimmer und fuhr zum Schreiben auf die Terrasse, die weiterhin unter Beschuss des Presslufthammers stand.

Foto: JAY KRUB/Shutterstock

Gegen acht begann ich, mir Gedanken um Bill zu machen, gegen Viertel nach acht kam der Kellner, meine Cuba Libre kassieren, weil, wie er sagte, nun gleich das Licht ausgehen würde. Er nahm mir das Glas weg, aber stellte mir eine Kerze hin, die im warmen Tropenwind sofort erlosch. Als fünf Minuten später alle Elektrizität unterbrochen wurde, tastete er sich aber noch mal mit einem Streichholz zu mir durch und entzündete die Kerze erneut. Ich schrieb nun weiter, während ich mit der linken Hand die Kerze am Ausgehen hinderte, was mir, einige Verbrennungen an den Fingern in Kauf nehmend, auch gelang.

Foto: mr. teerapon tiuekhom/Shutterstock

Von Zeit zu Zeit ließ ich Kerze Kerze sein und sah sorgenvoll auf die Uhr. Bill kam nicht. Dafür das Licht gegen zehn. Das war immerhin eine Erleichterung, denn ich hatte mich auf der fernen venezolanischen Terrasse ohne einen Menschen und ohne einen Fahrstuhl schon ziemlich isoliert geführt. Ich fuhr aufs Zimmer zurück. Die Klimaanlage funktionierte noch nicht, außerdem wurde mir klar, dass Abel und Bill etwas zugestoßen sein musste. Ich konnte nicht direkt von Caracas nach Hamburg fliegen, oder doch, aber ich hatte mein Ticket Houston – Hamburg in Bills Wohnung gelassen. Und wie kam ich in die rein? Wo hatte er wohl seine Schlüssel? Ab morgen hatten wir kein Zimmer mehr, von vorzeitigem Abflug und Tropenausflug war längst keine Rede mehr gewesen, aber Abel hatte doch noch versucht, uns das Zimmer zu retten, was jedoch abschlägig beschieden worden war.

Foto: 279photo Studio/Shutterstock

Ich fand einen Zettel mit der Telefonnummer von Abels Schwester, bei der er wohnte, und rief dort an. Sie verstand gar nichts, holte aber ihren Mann ans Telefon, der „I do not speak English“ sagen konnte. Nach diesem erfolglosen Versuch begab ich mich umständehalber aufs Klo. Als ich wieder in den Vorraum zurücktrat, lag dort ein unter der Tür durchgeschobener Zettel, der besagte: „I don’t come for dinner. Bill. Anruf 22 Uhr“.

Foto: courtyardpix/Shutterstock

Ich war betroffen und grübelte, ob ich das nun unfreundschaftlich finden sollte oder ob jeder ein freier Mensch ist. Während ich immer mehr der ersten Ansicht zuzuneigen begann, klingelte das Telefon. Eine Stimme, die behauptete, Bill zu sein, die ich aber im Lärm nicht identifizieren konnte, kreischte, dass sie noch sechs Geschwister besucht hätten und nun dort und dort seien, und es gäbe eigentlich gar nichts zu essen, obwohl sie zum Essen gekommen seien, und es seien auch noch so viele andere da, nachher wollten sie durch einige Bars ziehen, und ob ich da mitkommen wolle, dann würde er mir die Adresse nennen. Dann klickte es in der Leitung und das Gespräch war abgebrochen. Ich erwartete, dass es gleich wieder klingen würde, damit ich sagen konnte, nein, ich wollte nicht mitkommen, aber er klingelte nicht mehr.

Foto: Minerva Studio/Shutterstock

So schrieb ich noch ein bisschen und ging dann schlafen, Groll im Herzen, auch gegen mich, dass ich nicht noch in die Bar hier im Block gegangen war. Was ich nicht ahnte, war, dass meine Entscheidung nicht nur moralisch klug, sondern auch wegweisend vernünftig war: Erst heute erfuhr ich, dass diese Bar sonntags geschlossen hat.

Foto: Yukolthorn Nasongkhla/Shutterstock

26 Kommentare zu “#14 – Caracas (5)

  1. Briefe schreiben bei Kerzenschein. Wer hätte damals gedacht, dass dies irgendwann alles digital und weltweit abrufbar sein würde. Gute alte Zeit.

    1. Briefe sind was tolles, Kerzenschein sowieso. Die spannende neue digitale Welt meiner Meinung nach allerdings ebenso.

      1. Das einzige was mir früher besser gefallen hat, ist dass man sich mehr Zeit für etwas genommen hat.

      2. Die Eindrücke überlagern einander. Früher: einmal im Monat ins Kino. Heute: drei Filme hintereinander ins Fernsehen. Dass überhaupt noch Menschen meinen text-lastigen Blog betrachten, statt sich auf dreizeilige Twittereien zu beschränken, ist ein Wunder, für das ich dankbar bin. In „Fahrenheit 451“ mussten Bücher noch verboten werden, heute verbieten sie sich von selbst.

      3. Ich glaube ja fast, dass Netflix und Co. das Kino eher bereichern als auslöschen. Jedenfalls bin ich immer wieder erstaunt, wie voll die Kinovorstellungen sind.

  2. Alter ist etwas komisches oder? Ich bin immer völlig verwirrt, wenn ich Menschen begegne, die anscheinend dasselbe Alter wie ich haben. Meist schockt mich, wie alt ich mich augenscheinlich fühlen müsste.

  3. Jedes mal wenn ich weit weg reise, wünsche ich mir, dass ich die Sprache (besser) sprechen würde. Man verpasst soviel, wenn man sich nicht richtig verständigen kann.

    1. In manchen Orten ist man ohne lokalen Führer aufgeschmissen. Oder man brauch zumindest sehr viel Zeit und Geduld.

      1. Oh, also dann auch gleichzeitig die endgültige Hinwendung zum bewegten Bild statt Text?

  4. Jeder Mensch hat Schwächen. Ansonsten wäre es wahrscheinlich auch langweilig. Unzuverlässigkeit ist allerdings die eine Eigenheit, die ich nicht gut ertrage. Lässt mich jemand ein paar Male trotz Verabredung sitzen hört die Freundschaft in der Regel recht schnell auf. Ich versuche toleranter zu sein, denn man weiss ja nie aus welchen Gründen jemand nicht oder spät kommt. Schwierig, schwierig….

    1. Wer alles bedenkt und sehr früh aufbricht, kommt nie zu spät,
      sitzt aber ziemlich lange in Wartezimmern rum. Ich hasse es zu warten. Besonders, wenn mich jemand sitzen lässt.
      Sehnsüchtig zu warten schließt alle anderen Beschäftigungen aus.

    2. Zu spät kommen kann jeder Mal. Wer immer zu spät ist oder sich nicht einmal erinnert, dass er verabredet war, hätte mit mir auch ein Problem.

  5. Von Jahr zu Jahr kann ich Wärme (gerade außerhalb des Hotelzimmers) weniger ertragen. Man fragt sich ob mit dem unvermeidlichen Global Warming wenigstens irgendwann die Klimaanlage Einzug in deutsche Bahnen, Geschäft etc. findet. Ich sehne mich im Sommer nach der amerikanischen/asiatischen Kühle.

    1. Dass unsere Sommer immer wärmer werden ist halt leider kein besonders positives Zeichen. Das Klima ändert sich und wir müssen Wege finden uns anzupassen.

    2. Es kommt nicht von ungefähr, dass der Energieverbrauch in den USA gerade im Sommer unvernünftig hoch ist. Mein Tip für die heißen Tage ist einfach: raus aus der Großstadt.

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