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Atlantische Turbulenzen

#23 – Hamburg (3)

Der Abflug war pünktlich, ich hatte den schönsten Platz im ganzen Flugzeug und niemanden neben mir. Ich bin angstlos. Ich fliege angstlos. Bill hat mir erzählt, wenn Fassbinder ein neues Drehbuch schrieb, habe er immer einen Langstreckenflug hin und zurück gebucht, weil er nirgendwo sonst die Ruhe zum Schreiben gehabt und empfunden hätte. Ich sitze im Upper Deck, das nur sechzehn Personen Platz bietet, wir sind fünfzehn, von denen vierzehn schlafen. Ich sehe aus dem Fenster und erschrecke über den Sonnenaufgang. Europa saugt mich wieder auf. Nachtlos, schlaflos muss ich mich in den Rhythmus fügen, der meiner ist und den zu verlassen ebenso schwer fällt, wie ihn anzunehmen. Wie schnell kann der Ausnahmezustand zur Gewohnheit werden! Dabei habe ich mich die ganze Zeit auf diese Rückkehr gefreut. Jetzt, da sie unmittelbar bevorsteht, bin ich ein wenig taub vom Schreiben und vom Licht. Ich habe die ersten Forsythien in Boston erlebt, in Caracas den ewigen Sommer gesehen und in Houston die ersten welkenden Rosen wahrgenommen. Nun steht mir der zweite Frühling in Hamburg bevor. Er wird mir zugeknöpft vorkommen, denn man wird in der Hitze schnell kurzärmelig, ohne es zu merken. Aber dann wächst der Unterschied zu, und alles ist wieder wie immer.

Foto: Wang An Qi/Shutterstock

Ja, wie immer: Kurz vor Frankfurt steigerte sich die Reise noch einmal zum furiosen Endspurt. Zunächst kreisten wir eine geschlagene Dreiviertelstunde über der Stadt, dann musste ich buchstäblich von einem Ende des Flugplatzes zum anderen hecheln, über Laufbänder, auf denen Leute breitbeinig den Weg versperrten und es unverschämt fanden, wenn man sie bat, zur Seite zu treten, dann die drängende Stewardess, die mich zur Gepäckkontrolle schubste, wo natürlich kein Gepäckstück von mir eingetroffen ist, das mag schon in New York hängengeblieben sein, dann das unsäglich schreiende Kind jenseits des Ganges, dessen Mutter sich ungerührt Jogurt und Schokoladenriegel in ihre Müllklappe von Sabbermund schmierte. Auf dem Weg von Caracas nach Houston zwei quietschende Babys in derselben Reihe, von Houston nach New York ein quakendes Balg schräg vor mir, von New York nach Frankfurt eine grölende Göre zwei Sitze weiter, aber diese schrillkreischende Kröte hier bricht alle Rekorde. Wenigstens ist mir nicht, wie meinem Nachbarn, die Deckenverkleidung auf den Kopf gefallen. Dafür saßen wir beide in der ersten Reihe, also direkt hinter der Toilette, und kaum, dass das Anschnallzeichen erloschen war, machten die Leute unausgesetzt und erbarmungslos von ihrem Scheißrecht Gebrauch.

Foto links: Drpixel/Shutterstock | Foto rechs: Levent Konuk/Shutterstock

Dies schien ihnen wohl umso dringlicher geboten, als wir, nachdem ich genügend zur Eile angetrieben worden war, noch eine die Verrichtung der Notdurft hinauszögernde halbe Stunde auf dem Rollfeld rumgestanden hatten.

Foto: polkadot_photo/Shutterstock

Doch dann, glücklich in Hamburg gelandet, wollte ich das Schicksal austricksen. Ich wartete gar nicht erst ab, bis endlich alle Gepäckstücke aufs Fließband befördert worden waren, um mich anschließend in die Reihe derer einzuordnen, die einen Verlust zu beklagen hatten, ich marschierte sofort zur Gepäckvermittlung und gab akkurate Beschreibungen von Anzugsack und Koffer ab. Flugnummern, Strecken, geschätztes Gewicht, geschätzter Wert und meine Adresse (Privatweg, hinter 269 links) wurden computergespeichert. Bei einem absichernden Kontrollblick hinter die Glaswand, hinter der sich inzwischen die anderen Reisenden ihre Habe gegriffen hatten, grinste mir schon frech mein Koffer entgegen, und der schlaffe Anzugsack wurde vom Aufsichtspersonal auch gerade in Gewahrsam genommen. Moral: Das Schicksal lässt sich nicht austricksen, es hat immer noch eins mehr drauf.

So fuhr ich also an einem milden, sonnigen Samstagvormittag mit meinem Gepäck zum Privatweg, links hinter 269.

Foto: Jaromir Chalabala/Shutterstock

„Caracas?“, hatte mein Vordermann auf dem Flug von New York nach London wiederholt. Ich weiß nicht, warum er ein Gespräch mit mir anfangen wollte und mir sogar seine Visitenkarte aufdrängte, vielleicht einfach aus Freundlichkeit. „In Caracas waren meine Frau und ich auch mal. Sehr schön. Wir haben Freunde besucht. Erst fuhr der Wagen durch ein Tor in einer hohen Mauer, dann kam ein Gebäude mit scharfen Schäferhunden, dann kam eine zweite Mauer mit Stacheldraht, durch die wir durchmussten, aber dann war es herrlich. Ein großartiges Haus mit einem wunderbaren Blick.“

Foto links: Pixtural/Shutterstock | Foto rechs: Sjstudio6/Shutterstock

Es gut zu haben, statt gut zu sein. Ehrenwert klingt das nicht. Immerhin muss ‚es gut haben‘ nicht heißen, ‚es komfortabel haben‘. Ich bilde mir ein, ich hätte von der Gischt des Lebens gekostet, aber vielleicht war es bloß die süße Sahne aus der Spraydose, die ich mir vom Bärtchen geleckt habe. Und doch war das, so scheint es mir immer noch, das Äußerste, was ich aushalten konnte.

Foto: WAYHOME studio/Shutterstock

Nie bin ich dabei der Chimäre Glück aufgesessen, nie ihren Verlockungen auf den Leim gegangen, aber ich habe mich stattdessen an der Lust gewärmt, wenn mich, immer mal wieder, ein Stück ihres Gewandes vor dem scharfen Wind der Alltäglichkeit geschützt hat.

Foto: VGstockstudio/Shutterstock

Ich weiß nicht, ob ich eine Zukunft habe, ich weiß nicht, ob ich eine Zukunft haben möchte, aber ich möchte, dass es eine Zukunft geben wird für die, die sie wollen.
Vielleicht wird ja auch alles noch gut werden. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber: Vielleicht wird alles gut werden. Wir werden sehen, wir werden sehen.

Hanno, 16.04.1988

25 Kommentare zu “#23 – Hamburg (3)

  1. Oh die Fassbinder-Geschichte kannte ich noch nicht. Mir macht fliegen wenig aus, auch auf der Langstrecke. Zum Arbeiten gibt’s für mich allerdings bessere Gelegenheiten.

  2. Ahhhh Frankfurt! Ich glaube bisher war jedes meiner dortigen Erlebnisse sehr sehr ähnlich. Ewiges Rumgerenne zwischen Massen von Menschen klingt jedenfalls bekannt.

    1. Ist das nicht sogar auf jedem Flughafen so? Also zumindest wenn man von den kleinen Regionalflughäfen absieht.

    1. Jedenfalls ist bestimmt nicht alles gut geworden. Aber man muss das wahrscheinlich einfach weiter glauben. Es wird schon, es wird schon.

      1. Im letzten Absatz geht es nicht um das Ende der Menschheit, das mir damals ziemlich egal war, sondern um meine persönliche Situation, die dann auch so wurde wie befürchtet.

      2. Mario Adorf sagte heute morgen im Spiegel „Man wird nicht weiser, man wird älter“. Die Idee, dass sich später alles bessert, scheint also ein Irrglaube.

      3. Das ist aber ein bischen traurig. Wofür sammelt man denn dann all die Erlebnisse und Erfahrungen?

      4. Menschen sind Sammler und Jäger. Die einen sammeln Bierdeckel, die anderen Sex-Partner. Was sinnvoll und was Zeitverschwendung war, kann man sich ja dann auf dem Sterbebett nochmal durch den Kopf gehen lassen.

      5. Muss man eigentlich sein Alter akzeptieren, wenn man weiser werden will? Oder bleibt das den sich-jung-Fühlenden generell versagt?

      6. Je nach Veranlagung und Einstellung: Das Alter verklärt oder versteinert.

  3. Unsäglich schreiende Kinder sind selbstredend etwas völlig normales. Unverschämt ist meist nur der, der sich darüber aufregt. ABER IM FLUGZEUG WÜRDE ICH OHNE MEINE KOPFHÖRER REGELMÄSSIG DIE GEDULD VERLIEREN! Die Kinder können natürlich wirklich nichts dafür.

    1. Wie gut, dass es mittlerweile Noice Cancelling Headphones gibt. Der Flug-Frieden ist fürs erste gerettet.

    2. … aber die Eltern sehr wohl! Wer nicht rechtzeitig lernt einzuschätzen, wie er/sie auf andere wirkt, wird es später schwer haben. Duckmäuser zu werden ist kein Ziel, aber um sich über Regeln hinwegzusetzen, muss man sie zunächst kennen.

      1. Natürlich sind die Eltern Schuld. Ich bin immer wieder aufs Neue überrascht wie überfordert manche Eltern mit ihren Kindern sind.

    3. Ich frage mich manchmal ehrlicherweise ob man wirklich schon mit Neugeborenen eine Langstreckenreise machen muss. Dass die Kleinen dabei schreien ist ja erstmal nicht verwunderlich.

  4. Der scharfe Wind der Alltäglichkeit holt uns allzu oft ein. Wer sich eine Zeit lang davor schützen kann … man kann nur dazu ermuntern.

  5. Angstlos fliege ich immer nur bis zur nächsten schlimmen Turbulenz. Sobald das Tablett vom Essenstischchen ruckelt, wird es mir mulmig.

      1. Turbulenzen gehören ja sogar irgendwie zum Fliegen dazu. Ich überspiele das gerne, außer das Wackeln wird so extrem, dass man sich doch erinnert, wie schlimm ein Absturz wäre.

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