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Atlantische Turbulenzen

#20 – Houston (3)

Als wir am Parkplatz angekommen waren, sagte Bill: „Look“, nahm alle Bolivar-Münzen, die er noch hatte, und schmiss sie mit theatralischer Geste über den Zaun von sich, mit sicher entgegengesetzten Wünschen von Rom-Touristen, die Lire-Münzen am Trevi-Brunnen über ihre linke Schulter werfen. Später, zu Hause, zerrte er noch ein Sweatshirt von seinem vorigen Venezuela-Aufenthalt aus dem Schrank und ließ es angeekelt in den Mülleimer fallen. Dann legte er sich ins Bett und schlief mehr als drei Stunden lang.

Foto: lucas_moore/Shutterstock

Zuvor war eigentlich das Schlimmste der ganzen Reise passiert. Mein Flugticket, das mich zurückbringen sollte, war weg, bloß mein abgelaufenes Einstiegsbillett nach Houston war da. Ich hatte mich aus reinem Selbsterhaltungstrieb die ganze Zeit über gezwungen zu glauben, dass ich das Ticket in Bills Wohnung gelassen hatte. Ich zerfledderte all meine Papierstapel, krempelte alle Gepäckstücke um und schob Bett und Schrank weg – nichts! „Hör auf!“, sagte Bill. „Jetzt verkrampfst du dich, da findest du überhaupt nichts. Entspann dich eine Stunde und dann such weiter.“ – Dies war mir nicht möglich. Stattdessen rief ich ‚PAN AM‘ an. Am liebsten hätte ich gesagt: ‚Ich soll morgen nach New York fliegen, ich weiß aber nicht, wann, und von dort aus soll ich nach Frankfurt fliegen, ich weiß aber nicht, wann, und von da aus soll ich nach Hamburg fliegen – können Sie mir bitte sagen, wer ich bin?‘. Und die Stimme am Telefon hätte ihren Computer bedient und gesagt: ‚Sie sind Johann Wolfgang von Goethe und sie wollen nicht von Houston nach Hamburg, sondern von Weimar nach Palermo.‘ Die Wirklichkeit war nicht viel anders. Ich sagte, ich hätte einen Flug nach New York, so gegen drei, und will weiter nach Frankfurt. „R-I-N-K-E: Sie haben einen Flug um 12 Uhr 50, Sir.“ – „Aber mein Ticket ist weg.“ – „Es liegt am Abfertigungsschalter bereit, Sir. Bitte weisen Sie sich aus, wenn Sie es abholen.“ Wieso herrscht überall, von wo ich weg will und wo ich hinkomme, totales Chaos, und dann liegt ein Ticket, das ich irgendwo zwischen Boston und Houston verschlampt hatte, abholbereit an meinem Flugsteig?

Foto links: YAKOBCHUK VIACHESLAV/Shutterstock | Foto rechts: Ysbrand Cosijn/Shutterstock

So ins Nachdenken gekommen begab ich mich mit Walkman an den Pool, während Bill seinen schon zuvor erwähnten Schlaf hielt. War das herrlich!

Fotos (2): Rawpixel.com/Shutterstock

Ich hörte die Stille, die Vögel, die Musik. Ich las, schrieb und dachte nach. Als die Sonne unterging, ging ich ins Haus zurück, Bill schlief noch immer, ich machte einen Spaziergang durch stille Straßen. Das lichte Grün der Gärten endete zaunlos im Gehweg, den ein weiterer Grünstreifen von der Fahrbahn trennte. Ich ging in die sinkende Sonne hinein, und als ich umkehren musste, weil der Weg aufhörte, trat ich auf meinen schier endlosen Schatten mit den schlenkernden Affenarmen.

Foto: Alex Emanuel Koch/Shutterstock

Die Einsicht war so schlicht wie neu: Ohne mir darüber Rechenschaft abgelegt zu haben, hatte ich – sicherlich allmählich und nicht plötzlich – mein Ziel umgekrempelt. Irgendwann hatte die Veränderung eingesetzt: Ich wollte nicht mehr gut sein, sondern es gut haben. Es musste passiert sein, nachdem ich angefangen hatte, der Ewigkeit zu misstrauen. Und nun, da ich mir so ziemlich alles geboten hatte, was ein Liebender nur bieten kann, nun gewinnt der Ruhm seine Attraktivität als Liebhaber zurück. Da wäre der mickrige Ruhm wieder angeheizter Karriere oder die Quadratur des Kreises: nämlich das Wagnis des Neuen, ohne Aufkündigung des Erreichten. Unmachbar? Unwünschbar?

Foto: ben bryant/Shutterstock

Schaffe ich eigentlich Bleibendes, so rein beruflich? Ich sorge dafür, dass talentierte Musiker Tonaufnahmen machen für Menschen, die etwas mit klassischer Musik anfangen können. Ich trage dazu bei, dass andere ‚sich verwirklichen können‘ – sagt man doch so, nicht? Ich selbst verwirkliche nur Aufnahmen, die nach ein paar Jahren wieder aus dem Katalog gestrichen werden. Aber manchmal denke ich, dass ich Musik durchpauke bei meinem Unternehmen, die dem einen oder anderen Trost bringt. Dann liebe ich mich dafür, dass jemand sich nicht umbringt, weil er meine Aufnahme gehört hat. Im schlimmsten Fall produziere ich Überflüssiges, nie Schädliches, im besten Fall Glorreiches. Aber vielleicht springt ja auch jemand nach dem Genuss einer Tondichtung, die ich zu verantworten habe, aus dem Fenster. Das würde mich schwer enttäuschen, doch ich würde trotzdem nicht ruhen, bis ich den Zyklus habe vollenden lassen.

Foto links: LightField Studios/Shutterstock | Foto rechts: lassedesignen/Shutterstock

Bernstein will auch, wie jeder unvernünftige Mensch, die Quadratur des Kreises: Seine Einspielungen sind Liveaufnahmen von Konzerten (für die Unmittelbarkeit der Gestaltung) mit anschließenden Retakes (für die fehlerfreie Darbietung). Dann gibt es erstens das umjubelte Konzert, zweitens die mehr oder weniger gut rezensierte Aufnahme und drittens, dank Leo Kirchs ‚UNITEL‘, die (meist außerhalb der Prime Time ausgestrahlte) Fernsehproduktion für den besonderen TV-Geschmack, die wäre dann in Zukunft auch noch auf Laserdisc verwertbar: So toll lassen sich ein oder zwei Konzertauftritte ausbeuten! Ich halte das nicht für Geldgier, sondern für missionarischen Eifer. Gidon Kremer zum Beispiel kann sich einfach nicht vorstellen, dass die Welt nicht alles auf Schallplatten haben will, was er auf seinem Festival in Lockenhaus zum Besten gibt. Es gehört zum Beruf des Medienkünstlers, alles, was er öffentlich tut, zu vermarkten. Es gehört zu meinem Beruf, manches davon zu verhindern.

Foto: PrinceOfLove/Shutterstock

Im Restaurant am Abend ließ ich zunächst den Wein zurückgehen, bitteres Wasser, das man mir als „texanischen Chardonnay“ hatte andrehen wollen; dann legte ich Hand an Bills Seelenleben. Dass er sich immer die Verkehrten aussuche, dass verkrampftes Wollen abschrecke und dass zu lange Zeit der Idealisierung den Blick für die realen Möglichkeiten nähme. Er sagte, das sei alles wahr, und nun wolle er es nicht mehr hören. Das war entwaffnend bis beschämend, aber die noch entwaffnendere Glätte amerikanischer Gastlichkeit, die Gidon Kremer schlimmer findet als russische Pampigkeit, ebnete dann doch alles ein, was noch am Abend zuvor zerklüftet und unbehaust erschienen war. Mit welcher Genugtuung war ich vor wenigen Stunden durch die lichte, weite Ebene der texanischen Landschaft gefahren, zurück aus der drückenden Bergigkeit einer fremden Welt, und hatte doch in Bills Gesicht schrille Freudlosigkeit wahrgenommen, während er den Wagen auf sein Haus zulenkte.

Foto: Privatarchiv H. R.

27 Kommentare zu “#20 – Houston (3)

  1. Meine Lebensziele umkrempeln ist eines meiner liebsten Hobbys. Warum soll man auch länger an etwas festhalten als wie es sich richtig anfühlt. In alten Idealen und Ansichten Feststecken ist doch das schlimmste, das einem passieren kann.

    1. Ich finde Lebensziele eh ganz schwierig. Oder zumindest bin ich neidisch auf Menschen, die ihre Ziele ganz klar definieren können. Gerade langfristig tappe ich da eher im Dunkeln.

      1. Wer all seine Ziele erreicht hat, hat sie sich als zu niedrig ausgewählt. (Herr Rinke, Sie wissen bestimmt von wem der Satz stammt.)

    1. Ach ja, die Zeit wo man nur deutsche Weissweine trinken konnte ist aber wirklich vorbei. Auch in Amerika gibt’s den ein oder anderen trinkbaren.

      1. Komisch, ich sehe es umgekehrt. Als wir jung waren, tranken wir nie deutsche Weine: galt als spießig. Heute gibt es interessante deutsche Weine, die andere Etiketten haben als diese verschnörkerten Wappen von damals. Wie bei alles sinnlichen Eindrücken macht die Erwartung Teil der Bewunderung und der Enttäuschung aus.

      2. Ich habe auch erst kürzlich die Deutschen für mich entdeckt. Es gibt soviele tolle Weissweine!

  2. Warum ist Überflüssiges produzieren eigentlich so verschrien? Selbst in heutigen Zeiten wo man sich auf Facebook oder Instagram verwirklicht. Klar interessiert man sich für 90% der Sachen nicht, aber ist es nicht viel besser sich auszuleben als sich selbst zu unterdrücken?!

      1. Vielleicht. Aber ich bin auch dafür, dass man die Leute einfach machen lassen soll worauf sie Lust haben.

      2. Alle sollen machen, worauf sie Lust haben? Das klingt sehr tolerant. Aber:
        Wenn meine Wohnungsnachbarn nachts Demmidemmi machen, während ich schlafen will, strapaziert das meine Gutmütigkeit gewaltig.
        Zäher Einsatz ist zwar nicht „lust“ig, aber für jeden Sportler, jeden Künstler, jeden Chef vernünftig.

      3. Klar, so tolerant war das auch nicht gemeint 😉 Aber wenn man beim Beispiel der Insta-Selfies bleibt, tut das ja wirklich niemandem weh. Man kann sich’s anschauen, wenn man Lust hat, man kann’s aber auch einfach bleiben lassen.

  3. Interessante These, dass Künstler möglichst viel Output sehen wollen. Ich dachte immer, dass die in der Regel viel zu kritisch sind, um alles auf den Markt zu lassen.

      1. Auch die größten Genies produzieren nicht nur Meisterwerke. Da sind die beiden sicher keine Ausnahme.

      2. Als ich ein doofes Stück nicht spielen wollte, empörte sich meine Klavierlehrerin „Aber das ist doch M O Z A R T !“
        Ich fragte: „Na und?“

  4. Bleibendes zu erschaffen ist doch völlig überschätzt. Natürlich will man immer irgendwie einen Beweis hinterlassen, dass man gelebt hat, aber wen kümmert es letztendlich?! Carpe diem people.

  5. Zu überdauern ist ein alter Menschheitstraum. Wenn’s zu Lebzeiten nicht geklappt hat, kann es ja mit dem Nachruhm noch was werden. Bei der Uraufführung war „Carmen“ ein Misserfolg. Dann starb Bizet. Dass sein Werk die meistgespielte Oper der Welt wurde, hat er nicht mehr erlebt.

  6. Gut, dass man heute alle Reiseunterlagen in seinen Emails findet. Alles was mit Zetteln, Notizen, Unterlagen zu tun hat, geht mir früher oder später verloren.

      1. Bei Emails gibt es doch selbst wenn man etwas löscht noch einmal den Papierkorb. Wer also nicht mehrfach „aus Versehen“ löscht, sollte abgesichert sein.

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