Mein Beruf macht mir viel Freude. Ich komme mit den verschiedenartigsten Menschen zusammen, ich sehe große Teile der Welt und trage Verantwortung. Ich bin Pilot. Es ist der ideale Beruf für mich. Aufzusteigen aus dem kleinkarierten Muster der Städte, durch eine dumpfe Wolkendecke in jenes Blau, alles zurückzulassen, sich loszureißen von dem eng begrenzten Viereck der eigenen Wände, einer Ferne entgegen, die anderen Gesetzen gehorcht und andere Maßstäbe setzt.
––Mit mir führe ich eine Anzahl von Menschen, die bereit sind, mir in diese Weite zu folgen, die sich mir anvertraut haben in der Erwartung, ich werde sie sicher geleiten. Herrscher über die Technik mit all ihren weitverzweigten Einzelheiten, denen ich überlegen bin, weil ich sie verstehe.
––Ich unterwerfe mir das, was ich in seinem Aufbau, in seinem Ineinander von Einzelfunktionen und -mechanismen erkenne. Was ich durchschaue, besiege ich. Ich komme weiter, indem ich forsche, erkenne, nutze. Es wäre, glaube ich, der einzige Beruf gewesen, der mich erfüllt hätte. Und wäre nicht mein Herzfehler gewesen – ich bin sicher, dass nichts mich hätte davon abhalten können, ihn auszuüben.
––Dieses Blau macht mich krank. Es bannt mich. Ich bin nicht mehr in der Lage, einen Entschluss zu fassen. Manchmal versuche ich, die Hand zu heben. Ich will ein Zeichen geben, irgendwem, vielleicht nur mir selbst. Aber ich kann es nicht.
––Wie versteinert sitze ich am Fenster und starre unverwandt auf die Formen, Linien und Schattierungen, aus denen die Landschaft vor meinen Augen besteht. Kaum ein Gedanke, den ich nicht denke in jener toten halben Stunde. Doch nichts hat Bestand oder Konsequenz vor der unerträglichen Last dieser Minuten. Ich sitze mit Freunden. Wir trinken Tee, reden. Die Sonne geht unter. Der Himmel verfärbt sich. Es zieht mich magisch, magnetisch. Ich schiebe die Gardine beiseite.
––„Was hast du?“
––Ich antworte nicht.
––„Lass ihn! Der Weltschmerz hat ihn gepackt!“
––Sie lachen.
––Ich warte umsonst auf ein Zeichen. Oder ist die Stille das Signal? Nein. Es gibt keinen Wink. Ich selbst bestimme. Gut. Morgen soll es geschehen. Die leidige Sicherheit meiner Existenz, die scheinbare Sorglosigkeit meiner Zukunft, all die Griffe und Worte, die mir mühelos zufallen und die jedes Mal zum Ziel führen, dieser Erfolg, der mich nicht weiterbringt, weil er schon zu meinem Charakter gehört – all das geht jetzt zu Ende.
––Ich werde es nur deshalb tun, weil ich es tun will, und ich will es nur deshalb tun, weil es gegen alle Vernunft ist, weil es mein Leben zerstören und mich zwingen wird zu leiden, zu verzichten und zu verstehen. Alles wird abfallen von mir, was nicht mein innerstes Wesen ist. Verstrickung und Verzweiflung werden aus mir den Menschen machen, der ich, losgelöst von allen Ordnungen und Gliederungen, wirklich bin. Ich erhebe mich über mich selbst und schaffe mir mein eigenes System. Ich allein werde über mich richten und mich verurteilen zu der grauenhaften Strafe der Einsicht, zu Reue und Buße, doch nur ich. Kein weltliches Gericht soll mich von meiner Bürde befreien, indem es mir das genormte Strafmaß zubilligt, mich abfertigt, katalogisiert und zu den Akten legt.
––Ich muss geschickt vorgehen, meine Spuren verwischen, nicht wie ein übergeschnappter Amokläufer, sondern wie ein berufsmäßiger Mörder: kaltblütig, bedächtig.
––Der Wind zerpflückt eine flauschige Wolke. Die Lichter auf der Straße nehmen an Kraft zu. Es ist Abend.
––Ich wende mich ab vom Fenster. Als hätte ich eine Fliege an der Scheibe zerquetscht und ekle mich nun vor dem blutigen Fleck, der dort klebt. Sein Summen hatte mich gereizt. Jetzt bin ich bloßgestellt.
––Hirngespinste! Wer würde eine solche Idee ausführen und wozu? Muss ich wirklich beweisen, dass ich den Mut habe, mir zu schaden? Ich setze mich wieder zu meinen Freunden und gieße mir Rum in den Tee. Er schmeckt schal und bitter. Er ist kalt geworden.

Sie winkt noch ein paar Mal, und ich schwenke meinen Arm im Rahmen des Verdecks hin und her. In der Biegung lasse ich den Arm schließlich sinken und umfasse das Steuerrad mit beiden Händen.
––Brigitte geht ins Haus zurück.
––Zu beiden Seiten beginnen die Getreidefelder. Das Korn wuchert aus der graubraunen Erde. Wind und Regen haben es zerzaust und an einigen Stellen niedergedrückt. Die Wiesen gilben. Reglos verharren die Kühe. Gatter ziehen vorbei. Wieder Felder. Die Chaussee neigt sich sanft. Dicht wie die Latten eines Zaunes stehen Buchen am Rande der Straße und verschränken die Äste miteinander. Vogelschwärme rufen den Abend. Die Luft dampft.
––Im Rückspiegel sehe ich die Sonne sinken. Die Straße vor mir liegt leer und staubig. Jenseits der Buchen zu beiden Seiten ein sandiger Weg, unbegangen. Im Graben kullert ein Bach. Ich liebe diese Strecke, diese Landschaft. Aber sie täuscht. In der Ferne ragen die Häuser der Stadt.
––Vielleicht werde ich Brigitte heiraten. Der Gedanke kommt mir zum ersten Mal. Ich lächle. Sicher hat sie schon häufiger darüber nachgedacht. Kinder und regelmäßiges Mittagessen.
––Ein Mann kommt aus einer halbverfallenen Scheune. Sein Hund springt vor ihm her. Der Mann hebt einen Stock auf, wirft ihn in weitem Bogen. Kläffend verschwindet der Hund im Gehölz.
––Die Sonne ist inzwischen untergetaucht. Vor mir steigt das Blau auf, in feinen, durchsichtigen Schwaden. Im Rückspiegel verblasst der rote Himmel.
––Unter den Bäumen lärmen plötzlich zwei Kinder hervor, winken.
––Ich winke zurück, hupe freundschaftlich.
––Ein Bauernhof liegt am Wege. Alle Fenster stehen weit offen. Zwischen Schornstein und Himmel hängt ein Streifen Rauch. Ich bremse ab. Hinter mir gleitet eine Katze über die Straße. Ein Huhn flattert zur Seite.
––An ihrem blumengeschmückten Stand dämmert eine alte Frau. Sanft halte ich den Wagen. Die Alte erhebt sich schwerfällig. Wir wechseln ein paar Worte. Ich kaufe ihr einen Strauß ab und lege ihn behutsam neben mich auf den Sitz. Im Anfahren nicke ich ihr noch einmal zu. Sie beginnt gemächlich ihre Sachen zusammenzupacken.
––In der Zwischenzeit sind die Vögel zur Ruhe gekommen. Die Luft hat sich verfärbt. Sie ist gesättigt. Sie trieft vor Bläue. Sträucher, Bäume, Häuser treiben auf und ab. Himmel und Erde werden ineinandergeschwemmt von diesem schläfrigen Blau, das jede Lücke ausfüllt mit seiner seichten Ebbe.

Vor mir taucht glühend rot das Schlusslicht eines Fahrrades auf.
––„Jetzt!“, durchfährt es mich. „Jetzt!“ Das ist mein letzter Gedanke. Ich fahre ganz langsam. Schon höre ich das Surren des Dynamos.
––Das Mädchen spürt die Gefahr, wendet erschreckt den Kopf. Sie schreit entsetzt, ihr Fahrrad wird erfasst. Sie stürzt, schreit lauter. Eine Hand ragt vor mir auf.
––Ich werde hin und her geworfen, verliere die Gewalt über den Wagen. Im letzten Augenblick reiße ich das Steuer herum, um nicht gegen einen Baum zu prallen. Dann halte ich das Steuer wieder fest zwischen meinen Händen.
––Allmählich erklimmt mein Wagen die Steigung und gleitet wie von selbst in die Kurve. Der Motor arbeitet ruhig.
––So ist das also! Ich spüre, dass ich zittere. Mein Atem geht unregelmäßig. Ich fröstele. Hastig schließe ich das Verdeck und zünde mir eine Zigarette an.

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Quality Stock Arts (Uhr), Just Dance (Mann), arturnichiporenko (Fahrradfahrerin)

26 Kommentare zu “Blaue Stunde | #2

  1. Diese Idee etwas zu tun, dass gegen die eigenen Vernunft geht, ist hier ja ein wiederkehrendes Motiv. Der Vater hatte doch schon ähnliche Gedanken geäußert…

    1. Ich habe das Gefühl vorsätzlich gegen sein eigenes Interesse zu handeln ist eher ein Gedankenspiel. Im echten Leben kann ich mir das nicht so richtig vorstellen.

      1. Grundsätzlich kenne ich ziemlich viele Fälle wo jemand gegen sein eigenes Interesse handelt. Die große Frage ist natrüclih ob jemand so etwas absichtlich macht. Und dann schließt sich direkt die Frage an: warum?

  2. Diese Nähe zu anderen Menschen verwirrt wenn es um Gewaltverbrecher geht. Man stellt sich ja eher vor, dass so jemand isoliert als EInzelgänger seine Triebe auslebt. Nicht eingebettet in ein Familienleben oder Nachbarschaftsbeziehungen.

    1. Na das Fernsehen lehrt uns aber doch, dass oft die unauffälligsten Menschen diejenigen sind, die die tiefsten Abgründe haben.

    2. Man kann Killer sicher nicht durch das Klischee verstehen. Man will sich das Schreckliche immer leicht erklärlich machen, aber in Wahrheit ist wohl auch das sehr vielschichtig und kompliziert.

      1. So habe ich das auch gelesen. Da scheint ja quasi schon der Wahnsinn durch, den dieser Mann durchmacht.

      1. Stimme zu. In diesem bestimmten Fall könnte man romantisch aber auch durch psychopathisch ersetzen.

  3. Weltschmerz ist so ein großes, aber auch so ein tolles Wort. Manchmal finde ich die deutsche Sprache wirklich ungeheuer treffend.

  4. Interessant, dass er spezifisch das Urteil durch ein weltliches Gericht ablehnt. Gegenüber Gott würde er dagegen ein Urteil akzeptieren? Oder sich (größenwahnsinnig wie er zu sein scheint) zu rechtfertigen wissen?

  5. Fast abstoßend, die Gedanken dieses Mannes. Und doch fasziniert mich wohin uns diese Geschichte nach der Vater-Einleitung geführt hat.

    1. Man ahnt auf alle Fälle, dass noch weitere schlimme Dinge passieren werden. Der Schuss auf den Vater, dieser wahnsinnige Angriff auf die Fahrradfahrerin… all das scheint trotzdem nur der Aufbau für ein noch böseres Ende zu sein.

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