„Warum sind Sie so misstrauisch?“, fragte er. „Ich hatte Sie ohne böse Absicht ganz harmlos etwas gefragt, ohne zu ahnen, dass Sie darin eine Falle vermuten würden. Aber aus Ihrer Antwort schließe ich, dass Sie sich doch mehr für Menschen interessieren, als es bisher aussah.“
––„Ich interessiere mich nicht für … – ach, es geht nicht um die Person, mehr um das, was sie erschafft, das Allgemeingültige …“
––„Ach Gott!“, rief er fast angewidert, „‚das Allgemeingültige‘!“
––„Na schön“, sagte sie, „das klingt Ihnen zu pathetisch. Mich interessiert das, wovon ich lerne, das, was ich mir aneignen kann, das, was ich selbst auch fühle, ohne es ausdrücken zu können, und das, was mir hilft zu verstehen.“
––„Kunst ist Spiel. Spiel ist Kunst.“
––„Ich glaube nicht, dass die Kunst nur dazu da ist, unseren Spieltrieb zu befriedigen. Sie soll die Wirklichkeit analysieren, in die Zukunft zu weisen, die Menschen weiterbringen. Sie halten das natürlich für einfältig und antiquiert!“
––Er lehnte sich zurück und legte die Hände auf den Tisch. „Das Kennzeichnende an der Kunst ist die Langeweile. Es ist ein Gradmesser für jedes Werk, wie sehr man sich mit ihm langweilt. Hat man gleich seinen Spaß daran und langweilt sich erst nach einer gewissen Zeit, dann war es Kitsch. Ist es zunächst langweilig und wird bei weiterer Beschäftigung interessant, so ist es Kunst, und zwar je länger es langweilig bleibt, desto größer ist die Kunst. Wenn es aber bis zum Schluss nicht interessanter wird, dann ist es nicht Kunst, sondern Avantgarde.“
––Sie sahen einander an. Es war wie ein gemeinsames Lachen.
––„Ich dachte, Sie leben richtungslos“, sagte sie, „aber Sie scheinen ja über ein Arsenal zuverlässiger Faustregeln zu verfügen. Haben Sie etwas Ähnliches auch für andere Bereiche oder sind Sie gerade auf dem Gebiet der Kunst Experte?“
––„Nein“, sagte er, „ich habe noch mehr davon. Man muss alles auf einen einfachen Nenner bringen. Dann kann man die Probleme getrost beiseitelegen und braucht sich nicht mehr um sie zu kümmern. Bis man Lust und Zeit für sie hat. Und in der Zwischenzeit kommt man sich nicht mal verantwortungslos vor.“
––„Haben Sie außerdem noch einen Beruf?“
––„Ja!“, sagte er, „mir blieb nichts anderes übrig.“ Er holte eine Schachtel Zigaretten hervor, bot sie ihr an und steckte, nachdem sie abgelehnt hatte, die Packung, ohne selbst zu rauchen, wieder in die Tasche zurück.
––„Immerhin haben Sie einen Beruf gefunden, der es Ihnen erlaubt, die Nachmittage auf der Straße statt hinter dem Schreibtisch zu verbringen. Das muss, wenn ich Ihre Einstellung nicht missverstehe, schon ein annehmbarer Kompromiss für Sie sein.“
––„Ja“, sagte er. „Ich bin selbstständig, genauer gesagt, ich bin nicht von Vorgesetzten, sondern von Mitarbeitern abhängig. Außerdem habe ich einen Partner.“
––„Ist der gewissenhafter als Sie?“
––„O nein! Das ist unmöglich. Gewissenhafter als ich zu sein heißt, die Pedanterie auf die Spitze zu treiben.“
––„Was deuten Sie damit an? Sie verbinden einen leichtfertigen Lebenswandel mit Zuverlässigkeit und Tüchtigkeit im Beruf?“
––„Halten Sie das für unmöglich?“
––„Nein“, sagte sie, „wenn man sehr ehrgeizig ist und eigentlich nicht weiß, weshalb, dann kann man wohl so werden.“
––„Es wird Sie sicher nicht allzu sehr erstaunen, wenn ich Ihnen sage, dass es auch gewisse Nachmittage und sogar Abende gibt, die ich in meinem Büro verbringe.“
––„Nein“, antwortete sie, „das ist Ihnen zuzutrauen. Sie sind nur ein paar Schritte vor die Tür gegangen, weil Sie Luft schnappen und mich verführen wollten.“ Bei diesen Worten nahm sie die Sonnenbrille ab und sah ihm mit spöttischer Angriffslust ins Gesicht.
––Das dunkle Blau ihrer Augen verwirrte ihn sofort, denn er hatte sich vorgestellt, dass sie braune Augen hätte. Er kippelte auf den hinteren Stuhlbeinen und umschloss sein Glas mit der rechten Hand. „Sind Sie verheiratet?“, fragte er.
––„Nein“, sagte sie, „ich bin verlobt.“ Sie schien das Wort zu genießen.
––„Warum tragen Sie keinen Ring?“
––„Bei der Hitze ist er mir lästig. Heute Abend stecke ich ihn wieder an.“
––Er nickte. „So, Sie sind verlobt“, wiederholte er. „Dann kennen Sie also die große Liebe!“
––„Ja“, sagte sie, „offenbar.“

Die Wärme verlor allmählich das Beizende, Eintrübende. Der Nachmittag wurde klarer, fast durchsichtig. Die Last der Mittagsstunden hatte einer wohligen Schwere Platz gemacht, die den Abend einleitete. Inzwischen waren auch die letzten Tische besetzt.
––„Darf ich mich an Ihren Tisch setzen?“, fragte er. „Dann könnte ich meinen für das verzweifelt suchende Paar da vorne frei machen.“
––Sie nickte leicht und schob ihr Glas etwas dichter zu sich heran, so, als wäre auf dem kleinen Tisch eigentlich gar nicht genügend Platz für beide Gläser.
––Er lächelte über ihre Geste und hatte das befremdende Gefühl, ihre Hand berühren zu müssen.
‚Nur das nicht!‘, dachte er erschrocken, ‚das würde alles verderben.‘
––Sein ehemaliger Tisch war sofort neu belegt. Der Kellner registrierte es und lief gleich eilig an das entgegengesetzte Ende seines Reviers.
––Er saß ihr jetzt genau gegenüber und hatte ihr Gesicht dicht genug vor Augen, um gut darin lesen zu können. Keine Regung würde ihm entgehen.
––Es störte sie nicht, von ihm beobachtet zu werden, denn sie wusste, dass er nur das entdecken würde, was sie ihm zu zeigen bereit war.
––Er zog mit den Zeigefingern kleine Kreise auf der Tischdecke. Sie verengten sich zu einer Spirale und gaben dann ihre rotierende Bewegung auf die Mittelfinger ab, in denen sich der Durchmesser der Kreise wieder vergrößerte, bis sich die Drehung in den Ringfingern erneut ineinander schraubte und schließlich auf die kleinen Finger übertrug, die sich, wie durch ein Gewinde geleitet, in die Tischdecke bohrten. Plötzlich kippten die Hände mit jähem Ruck auf die Daumen. Die Maschine klappte zusammen. Das Triebwerk war stillgelegt.
––„Manchmal habe ich das heftige Bedürfnis zu handeln“, sagte er, „einfach etwas zu tun, egal was, egal was für Folgen es hat. Ich muss etwas unternehmen, um die Bewegung aufrechtzuerhalten – so, als hätte ich irgendeine Verantwortung dafür, als müsste ich dafür sorgen, dass immer etwas geschieht.“ Er sah sie an, um eine Antwort von ihr zu bekommen oder wenigstens ihre Reaktion zu prüfen.
––Es war schwierig zu beurteilen, ob sich seine Worte auf Selbsterkenntnis oder nur auf Beredsamkeit stützten. „Ich bin das genaue Gegenteil“, sagte sie ruhig. „Ich bin so faul, dass ich mich zu jeder Beschäftigung zwingen muss.“
––‚Das stimmt natürlich nicht‘, dachte er. Aber er sagte, ohne darauf einzugehen: „Es gibt vieles, was ich nicht weiß, weniges, was ich mir nicht vorstellen kann, nichts, was ich nicht erfahren möchte.“
––‚Sicher hat er das auswendig gelernt‘, dachte sie. Doch sie fragte ihn freundlich lächelnd: „Wollen Sie mich deshalb verführen?“
––„Ja“, sagte er kurz.
––„Es ist nicht sehr schmeichelhaft für mich, dass ich nur eine von zahlreichen Erfahrungen abgeben soll.“
––„Ich habe Ihnen vorhin schon zu erklären versucht, dass ich Ihnen nicht schmeicheln will. Ich will Sie zu keiner körperlichen, sondern zu einer geistigen Erfahrung von mir machen.“ Er beachtete ihren spöttischen Gesichtsausdruck nicht. „Das Körperliche ist nur der letzte Beweis. Er manifestiert nur Ihre Bereitschaft.“
––„Meine Bereitschaft wozu?“
––Er überlegte einen Augenblick, um die richtigen Worte zu finden. „Ihre Bereitschaft, meinen Willen als Ihren eigenen anzunehmen, die Bereitschaft, allen Widerstand, den Moral, Vernunft und Gesellschaft in Ihnen gezüchtet haben, niederzureißen. Ich biete Ihnen weder Liebe noch Glück, vielleicht nicht einmal Genuss – nur Zerstörung, Erniedrigung und unter Umständen Erkenntnis.“
––Sie lachte kurz auf. „Nicht überkochende Leidenschaft und angestaute Sinnlichkeit – Sie offerieren mir eine Unterwerfungstheorie. Sie wollen mir nicht Ihren Körper, sondern Ihren Willen aufzwingen.“
––„Genauer gesagt: beides.“
––„Die Mischung von Feldherrenallüren und Bettgeraschel finde ich abstoßend!“
––„Oh, ich finde sie äußerst fesselnd! Das Geistige allein ist viel zu abstrakt. Es braucht und sucht das Körperliche, in dem es sich beweisen und austoben kann. Beides verschmilzt, wenn man sich lange genug damit beschäftigt, zu einer untrennbaren Einheit, beides ist Voraussetzung zu beidem und sehnt sich nach einander. Je wilder und fortgeschrittener der Geist, desto weiter und ruheloser die körperlichen Bedürfnisse: Endstation Sucht. Oder Askese. Das Ende der Ekstase.“
––„Aber wozu brauchen Sie dabei die Verführung? Es ginge doch auch im gegenseitigen Einvernehmen.“
––„Zu dem kommt es ja am Ende auch“, sagte er, „aber es ist eines der faszinierendsten Phänomene, die es gibt, jemanden um äußerer Annehmlichkeit willen von einem geistigen Ideal abzubringen.“
––„Sie könnten also auch versuchen, durch Bestechung aus Patrioten Landesverräter zu machen.“
––„Ja“, sagte er, „im Prinzip schon. Das Wesentliche für mich ist es, den zunächst unerschütterlichen Menschen zum Schwanken zu bringen, ihn zu verwirren und dann langsam zu mir herüberzuziehen. Doch ich will ihn nicht betören, sondern dazu veranlassen, bewusst und willentlich den Weg zu gehen, den er vorher aus Furcht oder Überlegung ablehnte. Ich will Sie nicht in einen Taumel stürzen. Sie sollen selber springen. Und da liegt der Grund, warum die sexuelle Verführung der rein geistigen überlegen ist: Sie kettet Verführten und Verführenden enger, deutlicher, körperlicher aneinander. Kein lockender Preis, kein stimmiges Prinzip ist mein Köder, sondern das irrationale Moment der Lust. Dafür lebe ich.“
––„Sie sind also durch und durch schlecht.“ Es war eher eine Frage als eine Feststellung.
––„Ich weiß nicht“, sagte er. „Ich reiße meinen –“, er lächelte, „meinen ‚Opfern‘ zwar den Boden unter den Füßen weg, aber ich lehre sie gleichzeitig zu schwimmen, vielleicht auch unterzugehen. Auf alle Fälle zwinge ich sie, ihre behütete Begrenztheit aufzugeben. Sie müssen sich entweder nach ihren herkömmlichen Anschauungen verurteilen oder einen neuen Platz finden, jenseits starrer Werte.“
––„Können Sie sich nicht gleich Frauen suchen, die diesen Punkt schon erreicht haben?“
––„Nein. Ich will sie ja gerade dahin bringen. Ich will Zeuge dieses Prozesses sein. Deshalb kann ich leichtfertige, dumme oder zu emanzipierte Frauen nicht gebrauchen.“
––„Ich bin eine ziemlich gute Schwimmerin“, sagte sie. „Ich springe gern vom Dreimeterbrett. Rein ins kalte Wasser. Ich habe gelesen, dass während der Petticoat-Zeit mal eine Frau vom Eiffelturm gesprungen ist: Ihr Rock hat wie ein Fallschirm funktioniert, sie schlug auf einem Citroën auf. Das Autodach war hin, sie nicht. Könnte ich gewesen sein. Wenn ich mich vom Turm stürzen würde, stünden unten zehn fesche Feuerwehrmänner mit dem Sprungtuch.“

Titelillustration mit Material von Shutterstock: Nejron Photo (Porträt Mann), Pressmaster (Geschenk), Antonio Guillem (Zeitung), Viktor Gladkov (Frau [li.])

32 Kommentare zu “Boulevard | #3

  1. Hahaha, diese Analyse über den Unterschied zwischen Kunst und Kitsch finde ich großartig. Das werde ich mir definitiv merken 😉

    1. Andauernde gähnende Langeweile wäre demnach Avantgarde. Tja, darüber kann man vielleicht streiten. Die einen können ja gar nichts damit anfange, andere finden es aber auch äußerst spannend.

      1. Das stimmt auch wieder. Der Unterschied mag dann einfach sein, dass Kunst mitunter versucht solche ein Reaktion hervorzurufen. Kitsch hat in dieser Hinsicht aber wohl keine Ambitionen.

    1. Angeblich überlebte auch mal eine Frau den Sprung aus dem 86. Stockwerk des Empire State Building, und zwar weil der Wind sie ein paar Stockwerke tiefer wieder reingeblasen hat.

    2. Gelesen habe ich die Eifelturm-Geschichte in einer Zeit, in der man den Ausdruck ‚fake news‘ noch nicht kannte, der Tatbestand aber bereits mehrfach erfüllt wurde.

      1. Google schreibt sie hat den Besitzer des Autos im Nachhinein auch noch geheiratet. Das macht den Wahrheitsgehalt der Geschichte nicht unbedingt wahrscheinlicher.

      2. In diesem Kapitel wird der Sprung jedenfalls zum ersten Mal positiv bewertet. Vielleicht heiratet SIE ja einen der feschen Feuerwehrmänner.

    1. Ich würde sagen, dass stimmt nur wenn beides zusammen kommt. Ansonsten kann sex genauso belanglos sein wie ein uninteressantes Gespräch.

  2. Er will sie zu keiner körperlichen, sondern zu einer geistigen Erfahrung machen. Trotzdem braucht das Geistige das Körperliche. Und Verführung schließt gegenseitiges Einvernehmen aus. Ich bin von beiden Gesprächspartnern ziemlich verwirrt.

    1. Die Frage nach dem gegenseitigen Einvernehmen hat mich auch irritiert. Aber es geht wohl darum, dass eben gerade der Akt des Verführens spannend ist. Das Einvernehmen kommt ja dann dadurch zustande. Wenn man gleich miteinander und aufeinander Lust hat, dann fällt das Verführen ja quasi weg.

  3. Hmmm, ER ist zwar nach wie vor eine interessante Figur, aber so langsam verliert er schon an Sympathie.

      1. Oh den fand ich damals ganz toll. Und durch ihn habe ich Steve McQueen erstmalig entdeckt.

      1. Jetzt gerade läuft ja jeder mit Maske und obendrein noch mit Wintermütze über die Straße. Da bleibt nicht allzu viel übrig vom Flirten.

  4. Das Angebot für Erkenntnis ohne Sinnlichkeit scheint mir ja eher nicht so reizvoll zu sein. Ob SIE wohl darauf eingehen wird? Eigentlich wäre ich überrascht.

    1. Ich fürchte die Verführung wird erfolgreich sein. ER ist ja schon auf gutem Wege. Und wahrscheinlich wird es auch wieder kein gutes Ende nehmen.

    2. Was hat es denn überhaupt mit diesem betonten ER und SIE zu tun? Habe ich da etwas verpasst? Wird so noch einmal unterstrichen wer sich nicht als genderfluid bezeichnet?

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

siebzehn + acht =