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Religion

Das Ärgerliche an Glücksgefühlen

(Die Bebilderung habe ich nach facebook-Kriterien durchgeführt)

Samenerguss fühlt sich im Allgemeinen schön an. Im Westen teilen Männer ab dem vierzehnten Lebensjahr ihre Lust oft mit willigen oder vergewaltigten Partner(inne)n, und sie hoffen während der Ekstase, diese angenehme Empfindung allein oder in Gesellschaft bis ins Rentenalter wiederholen zu können, immer wieder. Im Osten ist das anders, aber nicht besser, falls man „Gut“ und „Böse“ unterscheiden möchte. Westen und Osten sind hier rein ideologisch gemeint, beziehen sich also bloß auf die etwas aus der Mode gekommene Madonna und den wieder recht aktuellen Mohammed, nicht etwa auf den salzigen Atlantik oder das felsige Afghanistan.

Das „Schöne“, das „Gute“ und das „Wahre“, sie werden deshalb mit unterschiedlichen Wörtern bezeichnet, weil sie alles andere als dasselbe sind, auch wenn sie häufig in einen Tiegel geworfen werden und dort den Eintopf des Erstrebenswerten bilden.

Der Orgasmus ist für den, der ihn erlebt, gut, schön und wahr, wenn’s gut läuft. Beschnittene Frauen erleben ihn gar nicht, jedenfalls nicht dort, wo er hingehört; den Bürgerfrauen des 19. Jahrhunderts ist er auch eher abzusprechen, bis auf Anna Karenina, Madame Bovary und Effie Briest. Männer brauchen ihn für die Fortpflanzung, weshalb ihre Beschneidung milder ausfällt.

Unserer demokratischen Gesellschaft ist es wichtig, sämtliche Standpunkte zu beleuchten, was bisweilen ins Grelle führt. So beklagte sich vor kurzem ein Beschnittener nordafrikanischer Herkunft in den „Tagesthemen“, dass er wegen mangelnden Eichelschutzes sexuell nicht genügend empfinde.

Wer das Glück hatte, erst mit Mitte zwanzig beschnitten zu werden, kann selbst bei ziemlicher Enthaltsamkeit das Vorher-Nachher-Erlebnis recht gut einstufen. Pubertärer Orgasmus, der von einer unverhofft ins Kinderzimmer tretenden Mutter begleitet wird, ist mit oder ohne Vorhaut ruiniert, stelle ich mir unerlebt vor. Aber sonst? Je weniger desto besser. Denn das Unerfreuliche an Höhepunkten ist, dass man sie im Allgemeinen überlebt. Und dann? Mein Offiziers-Großvater meinte noch allen Ernstes, jeder Mann habe nur eine bestimmte Anzahl von „Schüssen“ zur Verfügung, dabei weiß die Wissenschaft inzwischen, dass Übung, also Wiederholung, den Meister macht, ein Problem, das die Meisterin ohnehin nicht hat. Meinem Vater wurde noch Rückenmarkstuberkulose als Folge von Masturbation eingeredet. Mir reichte schon die Behauptung des Vikars, Gott hätte das nicht gern. Die Aussicht auf Hölle hat neben der Furcht vor Gewöhnung und Tuberkulose für zimperliche Gemüter etwas Abschreckendes, im Heer werden solche Sorgen oft nicht geteilt:

Foto: Sebastian Kaulitzki/Shutterstock

Ist man Soldat im Krieg, kann man sich gleich die nächste Bäuerin vornehmen, doch selbst das wird vielleicht von Mal zu Mal weniger lustig. Ist man Physiker, fällt einem nach e=mc² nicht sofort die nächste Formel ein.

Gipfel muss man anstreben und erwarten, dass man sie erreichen wird. Dabei gibt es durchaus Unterschiede: Nach biologischer Pflichterfüllung gemeinsam verliebt einzuschlafen, fühlt sich anders an, als nach vollbrachter Tat jemandem im Hinterhof die ausgemachten zwei Scheine zuzustecken. Doch: Vom Traum zurück in die Wirklichkeit muss jeder, der sein Hochgefühl überlebt. Er landet auf Daunen oder auf blutigem Pflaster.

Dass Religionen mit großer Vorliebe den Sex unter Strafe stellen, hat viel damit zu tun, dass Religionserfinder wissen: Befriedigung befriedigt nicht. Im Gegenteil. Sie weckt den Wunsch nach ‚Mehr‘. Aber wie viel? Dauerorgasmus als Vorstellung irritiert eher. Wechselnde Partner und Körperöffnungen sind ein gern gegangener Ausweg, doch wohin führt er? Glück geht anders. Deshalb ist die Gleichzeitigkeit von gebratenen Tauben vor dem Mund und erwünschten Fremdschleimhäuten vor dem Unterleib erst für das Paradies vorgesehen, in dem man keine Augen mehr hat, um zu weinen, keinen Mund, um zu reden, kein Hirn, um zu grübeln und keine Bestellung mehr aufgeben kann, ob man es lieber ‚durch‘ oder ‚blutig‘ hätte.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Den Höhepunkt anzustreben heißt, den Abstieg in Kauf zu nehmen. Vom Mount Everest ist es schwieriger herunterzukommen als vom Olympia-Treppchen, meint man. Aber Boris Becker zeigt, dass der Weg vom Sieger-Podest zur Normalität auch schwierige C- und D-Promi-Kurven hat, die beim Aufstieg gar nicht zu sehen waren.

Foto: C. Schüßler/Fotolia

Im Theater schon immer und im Film, seit es ihn gibt, konnte der jeweilige Autor den Höhepunkt knapp vor den Schluss setzen: Tod des Hauptdarstellers oder Verhaftung des bis dahin unverdächtigen Täters gelten neben Eheschließung zweier von Anfang an verfeindeter Protagonisten als publikumswirksame Möglichkeiten, eine Fiktion aufhören zu lassen.

Foto oben: ReeldealHD images/Fotolia | Foto unten links: Elnur/Shutterstock | Foto unten rechts: Kzenon/Shutterstock

Die Wirklichkeit ist rabiater: Seite an Seite zu liegen, ohne ganz sicher zu sein, ob es die Person nebenan genauso nett fand wie man selbst, oder, wenn es doch nicht so doll war, ob der Trost reicht, dass der Partner das nicht gemerkt oder zumindest weniger Haare im Sperma gefunden hat: Das ist es, was vom Orgasmus übrigbleibt – und wenn man Glück oder Pech hat, eine befruchtete Eizelle.

Wie viel erstrebenswerter ist dagegen eine lange Verlobungszeit, deren einziger Nachteil darin besteht, dass die hochgesteckten Hoffnungen keiner der beiden zukünftigen Partner zu erfüllen vermag: Die Erwartung verspricht einen Rausch von Seligkeit, und dann kleckert es da bloß so raus.

Der Weg sei das Ziel, behaupten wir zwischen Joggen und Büffeln und hoffen, dass das nicht stimmt, sondern dass uns das Schicksal am Ende unserer Mühen eine triumphale Tracht Glücksgülle mitten ins Gesicht klatschen wird. Mein berechtigterweise gestorbener Freund Pali sagte immer: „Zum Park hin konnte ich mit federndem Schritt kilometerweit laufen, aber auf dem Rückweg, nach dem Abspritzen, hatte ich Blei unter den Sohlen.“

Der Höhepunkt duldet kein Danach. Deshalb verschiebt jede Religion als allererstes den Höhepunkt ins „Jenseits“. Über dessen Beschaffenheit macht das Judentum, die weiseste aller Religionen, keinerlei Aussagen. Denn: Aus was bestehen wir dann überhaupt? Erkenne ich dort meine Großmutter an ihrer Stola, an ihrer Aura oder gar nicht? Wer bin ich, wenn ich nicht mehr ich bin?

Foto: H. R./Privatarchiv

Es ist berechtigt, vor dem Höhepunkt genauso viel Angst zu haben, wie sie der Torwart vorm Elfmeter hat und der Pianist vor der Kadenz. Ist nach der Kommunion die Oblate erst runtergewürgt, bleibt nichts anderes mehr als Feierlichkeit, und die hält gerade noch so lange vor, bis der Reißverschluss wieder oben ist. Der Höhepunkt ist das Gift, das die Lust zerstört. Dieses Gift macht den Sieger trunken, es führt direkt ins Fiasko. Ja, und je nach den Umständen kommt es dann zu Stalingrad oder einem Werbevertrag für Turnschuhe. Pech wird immer fließfähiger und schmilzt ab 90°. Glück schmilzt schon im Lauen, vor allem, wenn es ständig auf Höhepunkte wartet.

Foto links: Fotofuchs/Fotolia | Foto Mitte: ben bryant/Shutterstock | Foto rechts: Narith Thongphasuk/Shutterstock

Ansonsten ist er natürlich herrlich, der Höhepunkt. Solange er einer ist.

Foto: PlusONE/Shutterstock

19 Kommentare zu “Das Ärgerliche an Glücksgefühlen

  1. Völlig auf den Punkt Herr Rinke. Scharf beobachtet, analysiert und beschrieben. Zwischen all den (mir von Ihnen nicht unbekannten) Spitzen sticht nur ein einziger Satz als verstörend heraus: „Mein berechtigterweise gestorbener Freund Pali sagte immer…“!

    1. Das Schicksal Ihres Freundes tut mir leid. Inhaltlich stimme ich ihm bei. Nach dem Sex möchte man doch nur noch seine Ruhe haben. Ob spontanes Date im Park oder romantisches Spiel im eigenen Bett. Nach dem Höhepunkt ist meine Aufmerksamkeit erschöpft. Vielleicht bitter, aber wahr.

    1. Das wäre tatsächlich endlich mal ein guter Grund an ein Leben nach dem Tod zu glauben. Wenn dann wenigstens der Sex stimmt, lasse ich mich gern von der Kirche überzeugen 😉

  2. Tauchen die Artikel denn ebenfalls auf Facebook auf? Bei dem Thema muss man der strengen amerikanischen Zensur vielleicht dankbar sein 😉

    1. Oder anders herum: „Ich will keine Zensur, weil ich nicht für Dummheiten verantwortlich sein will, die man drucken darf.“ Angeblich war das der alte Napoleon.

    2. Zensur ist doch jetzt wieder in. Ob bei Facebook, in Trump’s Amerika oder bei der AfD. Back to the roots sag ich da. Warum denn auch Fortschritt? Früher war doch sowieso alles besser.

  3. „Im Theater schon immer und im Film, seit es ihn gibt, konnte der jeweilige Autor den Höhepunkt knapp vor den Schluss setzen: Tod des Hauptdarstellers oder Verhaftung des bis dahin unverdächtigen Täters gelten neben Eheschließung zweier von Anfang an verfeindeter Protagonisten als publikumswirksame Möglichkeiten, eine Fiktion aufhören zu lassen.“
    Sehr spannend zu lesen. Im Theater oder im Film scheint manchmal auch ein Mord erst die Möglichkeit eine Fiktion beginnen zu lassen, ist das dann ein vorzeitiger Höhepunkt oder eher ein langer?
    Erich Kästner hat es sehr auf den Punkt gebracht:
    „Die Liebe dient dem Zeitvertreib man nimmt dafür den Unterleib“

    Immer spannend hier zu stöbern.

    1. Anfänge sind ziemlich einfach: Alles ist normal, und nach sieben Minuten beginnt die durch zwei, drei merkwürdige Großaufnahmen vorbereitete und durch zum Bild konträr verlaufende Musik vorweggenommene Katastrophe. Der Schluss muss ein Clou sein, Glaubwürdigkeit schadet nicht. Schwieriger sind Mitten: Die Mitte ist der Sinn der Demokratie und der Prüfstein der Damaturgie, der am einfachsten mit ein paar Explosionen zugeballert wird. Zur Not helfen auch Nachdenklichkeiten, die die Mimik der Darsteller herausfordern. Komödien laufen anders, sie hängen von der Qualität des Popcorns ab.

    1. Das Stimmt zwar, nur, dass man ohne das Ziel den Weg nicht einschagen würde. Der Esel braucht die Möhre vor der Nase, um zu traben. Beim Fressen vergisst er dann den steinigen Weg. (Der Esel?)

    2. Genau richtig. Der Weg ist das Ziel sagt nur der Hobby-Buddhist bei einer Tasse Chai Latte. Das Ziel bleibt immer das Ziel. Und je ambitionierter das Ziel ist, und je schöner und vielversprechender die Aussicht, desto spannender und vergnüglicher der Weg dorthin. Falls man dann doch mal irgendwo ankommt, folgt ja auch gleich die nächste Herausforderung. Am Ziel sein ist ja immer langweilig.

    3. „Es ist nichts als die Tätigkeit nach einem bestimmten Ziel, was das Leben erträglich macht.“
      (Schiller)

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