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Denkabfall

Gerechtigkeit

Mit dem nächsten Reisebericht bin ich immer noch nicht durch. Der wird deshalb nicht fertig, weil ich mir dauernd neue Beiträge ausdenken muss, um die Schlupflöcher zu stopfen, die dadurch immer größer werden. Ab heute kommen also eine Woche lang mal wieder die pikanten Weltanschauungseintöpfe auf den Tisch. Wenn das keinen Shitstorm auslöst, weiß ich, kein Mensch liest, was ich schreibe. Der Tag, von dem an mein erstes Pamphlet im Netz steht, ist der 1. Mai. Mit was kann man den besser würdigen als mit dem Thema „Gerechtigkeit“? Mit gar nichts!

Foto: Everett Historical/Shutterstock

Der Ruf nach Gerechtigkeit ist wieder sehr modern. Das Nachdenken über Möglichkeiten des Ausgleichs beschäftigt besonders die, die sich nicht zu den Zukurzgekommenen zählen, denn die wirklich Zukurzgekommenen haben oft weder die Zeit noch die Vorbildung groß rumzudenken – bis das Fass überläuft, und dann rette sich wer kann. Dabei ist es doch ganz einfach: Alle Menschen müssten bloß gleich schön, gleich klug und gleich reich sein. Doch dass das jemals klappen könne, glauben nicht mal mehr die Kommunisten, und die Christen haben einen Zustand solch himmlischer Gleichheit sowieso gleich aufs nächste Leben ausgelagert.

Foto: andrew1998/Shutterstock

Sicher, lieber krank und glücklich als gesund und unglücklich, aber Hauptsache, du bist ein guter Mensch. Dass mit solchen Sprüchen niemandem geholfen ist, hilft nichts: Sie werden trotzdem gesagt.

Foto: Aaron Amat/Shutterstock

Natürlich hat ein Aborigine ein anderes Schönheitsideal als ein Graffiti-Sprayer oder ein Kuckucksuhrenschnitzer. Zu wissen, wer den Zweiten Weltkrieg verlor, halten manche für klug, andere finden es klüger, die Straßenseite zu wechseln, wenn ihnen ein betrunkener Schläger entgegenkommt. Für jemanden, der auf der Parkbank schläft, ist jemand, der ein Konto hat, reich. Investmentbanker halten Hartz-IV-Empfänger für arm, wenn auch überbezahlt. Trotzdem finden sie alle Nofretete schön, Einstein klug und Jeff Bezos reich. Erheblich ist aber nicht der verschwindend kleine Teil von Einsichten, auf den sich alle einigen können, sondern die Unmenge an Auslegungen der Gegebenheiten, die zu Kriegen, Kompromissen und weiter führen.

Foto: Monstar Studio/Shutterstock

Nicht nur Blinde sagen, dass Schönheit keine Vorteile brächte. Die Hässlichen sagen es, weil es für sie Programm ist, die Schönen sagen es, um sich nicht zu verraten – mit so einem Hauch von Koketterie. Denn alle wissen, Schönheit kommt besser an: beim Klassenlehrer, beim Verkaufsgespräch und beim Heiratsantrag. Zum Ärger der Vordenker wissen inzwischen auch die Nachkommen der Hinterwäldler, dass nicht alle hübschen Frauen doof und nicht alle hübschen Männer schwul sind. Wer also in den Spiegel sieht und sieht: schön ist leider nur mein Herz, der kann sich damit trösten, dass Narziss ertrank, und er kann sein eigenes Aussehen ergeben hinnehmen – was zwischen Moskau, Cincinnati und Yokohama nicht mehr üblich ist – oder er kann sagen: „Die Mona Lisa lächelt so blöd und ist trotzdem berühmt.“ Da wird gepierct und tattoot, und es hilft ja auch, sieht allerdings bei schönen Menschen schöner aus, wenn auch nicht ganz so vorteilhaft wie ohne solche Verzierungen. Wenn ich nicht schön sein kann, dann bin ich eben schrill, war schon im Zweistromland und im Rokoko die Alternative. Früher trauten sich solche Extravaganzen nur die, die sich das gesellschaftlich leisten konnten. Heute ist das genauso, also leisten es sich jetzt alle. Unauffällig ist hässlicher als hässlich, behauptet der Geist der Zeit, dem man sich in die Arme werfen, verweigern oder mit ein paar grellen Strähnen im Haar gewachsen fühlen kann. Gruselig Anzusehende können bei 9-Euro-19-Jobs und als Quizkandidaten auf einen Mitleidsbonus hoffen, aber wenn es ernst wird, schon nicht mehr.

Foto: frantic00/Shutterstock

Die ARD hat ihren Bildungsauftrag eines Tages ernst genommen und nach ausgiebigen Vorentscheidungen den klügsten Deutschen küren wollen, selbstredend von Fachleuten: den Zuschauerinnen und ihren männlichen Pendants – Schwarmintelligenz weiß mehr! Der, der mit Abstand die meisten richtigen Antworten blitzschnell gab, war über fünfzig und unattraktiv. Er hatte keine Chance. Obwohl Das Erste überwiegend von alten Leuten gesehen wird, die nicht bei jeder Gelegenheit zwanghaft zum Smartphone greifen, bekam der Vielwisser nicht mal fünfzehn Prozent der Stimmen. Die große Mehrheit entschied sich für einen jungen Hübschen: Dann klappt’s auch mit der Intelligenz … Klugheit sei nichts, was man habe, sondern etwas, das einem zugeschrieben würde, erläuterte der zuständige TV-Wissenschaftler das Phänomen. Ich habe auch immer als meine intelligenteste Leistung angesehen, anderen Leuten vorspielen zu können, dass ich intelligent sei. Die Fähigkeit, seine Umwelt zu blenden, ist bei mangelnder Klugheit das, was bei mangelnder Schönheit die Garderobe ausgleicht. Banken fallen lieber auf gewiefte Großbetrüger herein, als dass sie langweiligen Kleinunternehmern Kredite gewähren. Chic kommt besser an als Wahrheit, darum gibt es immer noch mehr Poster von Che Guevara als von Walter Ulbricht, der wenigstens mal mit 99 Prozent aller Wählerstimmen Regierungschef war und neben seinem Akzent ja wohl auch eine Vision hatte. Nur will kein Mensch blasse Visionäre. Mancher hat Glück, wie Hitler: In den haben die Begeisterten etwas hineingesehen, das sich uns Nachkommen – bis auf einige Wähler in Sachsen Anhalt – nicht mehr erschließt.

Foto: Halfpoint/Shutterstock

Dass Reichtum unabhängig macht, ist Gemeinplatz, aber besitzlos zu sein, macht natürlich mindestens so unabhängig. Was soll noch schief gehen, wenn du sowieso schon im Keller bist? Wie abhängig bin ich von der Meinung anderer, den Aktienkursen, meinem Leibkoch, meinem Laptop, Elektrizität, Wasser? Die Frage nach der gerechten Verteilung der Vermögen stellt sich angesichts der weltweiten Verunsicherung brennender als nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Ostblocks. Umverteilung soll endlich stattfinden, und behauptet wird, von oben nach unten. Heuchelei und Anmaßung halten sich dabei die Waage. Gerecht wäre es, wenn jedem nur das zustände, was er sich erarbeitet hat, wobei Formel-1-Sieger und Fensterputzer den gleichen Lohn erhalten, besonders, wenn sie weiblich sind; Elternschaftsurlaub steht jedem Erziehungsberechtigten zu, auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften mit Kindern, die aus künstlich befruchteten Eizellen hervorgegangen sind, die keiner Präimplantationsdiagnostik unterworfen waren, weil diese Methode eine Herabwürdigung der bereits lebenden Behinderten dargestellt hätte. Außerdem steht jedem Menschen, der sich auf dem Territorium eines Staates befindet, bis zu seiner Ausweisung, die wegen Verstoßes gegen die Menschenwürde unzulässig ist, ein Grundbetrag zur Lebenssicherung zu. Bis zu seiner Volljährigkeit erhält jeder, der nicht von alleine kommt, sondern erst von dafür abgerichteten Beamten aufgespürt werden muss, als Förderungsmaßnahme den doppelten Betrag. Sollte doch jemand übersehen worden sein, kann er sein Recht ein- und seine Eltern verklagen, wobei der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Unzurechnungsfähigkeit geistig behinderter Eltern strafmindernd berücksichtigt.

Foto: Siberia Video and Photo/Shutterstock

Das ist der eine Standpunkt. Der andere: Gerecht wäre es, wenn alle die gleichen Steuern zahlten: jeder 20.000 Euro zum Beispiel. Etwas weniger gerecht, aber noch vertretbar wäre es, wenn alle den gleichen Prozentsatz an Steuern zahlten, etwa 25 Prozent. Wer 1.000 Euro verdient, zahlt 250 Euro, wer 1.000.000 Euro verdient, zahlt 250.000 Euro. Natürlich schlägt sich das im Wahlrecht nieder. Wer keine Steuern zahlt, den Staat und die Gemeinschaft also finanziell nicht unterstützt, der darf folgerichtig auch nicht wählen. Wer bis zu 20.000 Euro zahlt, hat eine Viertelstimme, bis zu 50.000 Euro eine halbe Stimme, bis 100.000 Euro eine ganze Stimme. Danach wird (kein Gesetz ist ganz gerecht) pauschaliert, und es gibt für alle die, die mehr als 100.000 Euro Steuern zahlen, nur zwei Stimmen, egal wie hoch der tatsächliche Betrag ausfällt – eine harte Strafe für Steuerflüchtlinge. Auf der anderen Seite sehr milde, dass mehrfaches RTL-II-Gucken keinen Einfluss auf das aktive Wahlrecht hat. Das Publikum entscheidet (oder lässt es bleiben wie die britischen EU-Befürworter, denen extra zur Brexit-Abstimmung zu laufen überflüssig vorkam). Ja, weil die einen nicht dürfen und die anderen nicht wollen, deshalb hat die Welt es mit Kim Jong-un, Baschar al-Assad, Donald Trump Undsoweiter zu tun. In Deutschland dürfen jetzt auch Entmündigte wählen. Die Bestrebung, schon 16-Jährige an die Wahlurne zu drängen, wird ebenfalls ernst genommen. Nur Abtreibung und Sterbehilfe stehen im Kreuzfeuer der Kritik. Demokratie von der Wiege bis zur Bahre. Jeder Staat muss sich an seinem Rechtssystem messen lassen. Muss er?

Foto: Wikimedia/gemeinfrei

24 Kommentare zu “Gerechtigkeit

  1. ich kann mit ihrer pauschalbesteuerung in kombination der stimmrechtvergabe für mich persönlich nichts negatives abgewinnen. allerdings ändert sich an den machtverhältnissen dadurch schlichtweg wenig. die oberen 1-10% bleiben an der macht. nun durch großzügige parteispenden oder hintertürchen-lobbyarbeit; bei ihnen dann durch klare stimmrechtzuwächse. ob es günstiger oder teurer wird für die wohlbetuchten vermag ich nicht zu sagen.

    1. Und wie soll jemand, der Geringverdiener ist mit dieser Pauschalbesteuerung klarkommen? Das ist doch ein völlig unsinniges Gedankenspiel.

    1. Gerechtigkeit als Selbstbestimmung. Das leuchtet ein. Welche Blüten der daraus entstehende Individualismus-Strauch treibt, das ist erstaunlich. Kein Phänomen, das Gutes bewirken soll, wird nicht nach kürzester Zeit für unmoralische Zwecke eingesetzt. Da hat Gott dem Teufel kaum ins Handwerk gefuscht.

      1. „Die Wissenschaft hat keine moralische Dimension. Sie ist wie ein Messer. Wenn man es einem Chirurgen und einem Mörder gibt, gebraucht es jeder auf seine Weise.“ Wissenschaft kann man so ziemlich gegen jedes beliebige Wort austauschen, das Zitat funktioniert weiterhin.

  2. Oh der Denkabfall gefällt mir gut. Kontroverse ist zumindest nicht langweilig. Einer Meinung sein muss man nicht. Diskutieren sollte man allerdings deutlich mehr.

  3. 16-jährige an der Wahlurne finde ich gut. Je mehr Menschen sich für Politik interessieren desto besser. Und die 16-jährigen müssen schließlich mit den Entscheidungen der älteren Generationen leben.

      1. Ahhh, das passiert wenn man den Artikel erstmal nur auf der Arbeit überfliegt. Danke für den Hinweis.

      2. Als Freiberufler kennt man keine Feiertage 😉 Etwas übertrieben vielleicht, aber den 1. Mai feier ich nun wirklich nicht.

  4. Schlaue Sprüche helfen selten jemandem, aber gesagt werden müssen sie trotzdem. Ein bischen Wahrheit steckt ja doch darin. Was man daraus macht, welche Richtung man für sich wählt, ist ja wieder etwas anderes.

  5. Der Ruf nach Gerechtigkeit ist sehr modern. Und je lauter gerufen wird, desto vehementer wird von der anderen Seite zurückgeschrien. Wer sich am Ende durchsetzen wird, ist momentan wohl noch ziemlich offen.

      1. Nicht in Trumps Sinne, aber jeder denkt ja aus seiner eigenen Perspektive, dass er im Recht ist. Die Aufgabe ist daher ja auch nicht, einer Seite den Mund zu verbieten, sondern in Dialog zu treten. Die anderen davon zu überzeugen, dass sie eben nicht im Recht sind.

  6. Schönheit bringt nur Vorteile, wer etwas anderes behauptet ist entweder ignorant oder schön und kennt die Nachteile des Hässlichseins nicht. Am Ende setzt sich meiner Erfahrung nach aber doch immer die Wahrheit durch. Trotz aller Start-Boni.

  7. Aus einem Tagesspiegel-Artikel zum bedingungslosen Grundeinkommen:
    Was verändert sich mit dem Geld? Wie lebt es sich, wenn die Existenz gesichert ist, ohne dafür etwas tun zu müssen? Werden Menschen tatsächlich faul, wie Skeptiker meinen? Diese Fragen stellte sich Bohmeyer mit seiner Kollegin Claudia Cornelsen und besuchte einige Gewinnerinnen und Gewinner. Am Ende des im Januar erschienenen Buchs schreibt Bohmeyer, er habe ganz unterschiedliche Begegnungen gehabt, mit einem Obdachlosen, mit gewöhnlichen Angestellten bis hin zu einem Millionärssohn. Nicht nur Vorzeigemenschen seien es gewesen, sondern auch solche, „die ein Deutschland in den Grenzen von 1937 proklamieren, die für ihre Kinder keinen Unterhalt bezahlen, die das Sozialamt betrügen, die Steuern hinterziehen, die schwarzarbeiten und Drogen nehmen“. Entgegen allen Befürchtungen zeige sein Experiment trotzdem keine Hinweise auf „soziale Katastrophen“. Das Grundeinkommen habe das Leben der Menschen aus seiner Sicht im guten Sinne geprägt – und zwar nicht nur wegen der 12.000 Euro, sondern vor allem wegen der Bedingungslosigkeit. Manche lernten ihren Job wieder neu lieben. Einige verloren ein lang andauerndes Bauchweh aus Sorgen. Andere bildeten sich fort, gründeten eigene Firmen. „Sie kommen nicht mehr irgendwie zurecht, sondern spüren Unternehmenslust und Wirkungsdrang“, schreibt Bohmeyer. Seine Schlüsse decken sich mit den Ergebnissen einer Online-Umfrage des Vereins. Nur drei von 43 Gewinnern haben demnach ihren Job gewechselt. Einer kündigte ohne neuen Plan. Neun nahmen sich eine Auszeit. Die Mehrheit lebt fast wie zuvor, aber mit weniger Existenzängsten. Stattdessen sind sie entspannter, gesünder und mutiger.

    1. Ich verstehe immer noch nicht genau, wofür man dieses Geld bekommen soll? Warum arbeitet man nicht einfach um Geld zu verdienen?

      1. Es geht ja gerade darum Geringverdienern eine Perspektive zu geben – oder Menschen, die keinen Job finden – oder Menschen, die bereits drei Jobs ausüben um über die Runden zu kommen.

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