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Tänzer außer der Reihe

Dialog 10: Am Bahnhof

EIN KIND VON TRAURIGKEIT

(Der Freier: F; der Stricher: S)

F: Du …, du hast ein gutes Gesicht.

S: Watt hab ick?

F: Ein gutes Gesicht.

S: Komische Art, een anzuquatschen.

F: Stimmt aber.

S: Lass ma, ick wees ooch, wie ick wirke. Willste watt oda nich?

F: Ja.

S: Watt, ja? Über den Mut von dein’ erstn Satz biste wohl so ermattet, dass de nu nich mehr weita weeßt.

F: Is’ meine Art von Anmache.

S: Was bist ’n du für eena? Bist du überhaupt schwul?

F: Ich will was von dir.

S: Wie datt klingt! Soll ick Jesus zu dir sagen?

F: Und wie heißt du?

S: Meen Schwanz kannste haben, meen Namen nich, okay?

F: Du hast Würde.

S: Also, wenn du noch watt losmachen willst, dann würd ick sagn, wir jehn.

F: Warum hast du’s so eilig?

S: Soll datt hier ’ne Verarsche werdn?

F: Nein, wirklich nicht.

S: Na, dann los, Mann! Oder bildest de dir een, ick hätt Bock druff, hiea mit dia Wurzln zu schlagn?

F: Wär doch schön, wenn hier zwei Bäume stünden: du und ich.

S: Scheiße, ooch noch Poesie!

F: Was hast du denn anderes vor?

S: Mensch, watt ick vorhab! Jedenfalls nich mit die Bulln Tango zu schiebn uffm Revier.

F: Ich seh’ niemanden, der uns mitnehmen will.

S: Vielleicht wenn de in ’n Spiegel kuckst.

F: Seh’ ich aus wie ein ... Bulle?

S: Nee, so bei Nacht betrachtet, nich. Du findst die Idee viel zu putzich. Denkst wahrscheinlich, die tragen am Zoo Uniformen wie in der Operette.

F: Ja, sicher. Und sie schmeißen die Beine, wenn das Orchester loslegt.

S: O Scheiße, immer mir passiert dett! Und dann red ick ooch noch mit so watt!

F: ‚So watt‘: Bin ich das?

S: Also, watt is los? Willste et hier im Stehn machn, oda warteste noch uff watt Besseres?

F: Ich würd’s gern hier im Stehen machen.

S: Na, denn geh ick ma lieba.

F: Halt, warte! Ich zahl gut.

S: Dett is relativ.

F: Geld duftet.

S: Ick hab heut schon zwei Herrn jehabt. Der eene roch nach Schweiß, der andere nach Knoblauch. Aber irgend so ’n Nobelwasser hatten se beede über ihre Angst jeplempert.

F: Woran hast du gemerkt, dass es Herren waren? An der Kleidung oder an der Bildung?

S: An der Kohle, reicht dir datt?

F: Aber noch ein bisschen mehr Geld wär auch nicht schlecht?

S: Meesta, watt soll ick dazu sagn? Ick vadiene mia mein Studium mit dett hiea, Soziologie natürlich, und dann muss ick noch sechs jüngere Jeschwista ernährn, die kranke Mutta, der tote Vatta, die leben alle davon, dass ick mia mit Typn wie dia rumschlage. Na, und der Daimler schluckt ja ooch jewaltich.

F: Dein Humor gefällt mir.

S: Na, denn werdn wia ja ordentlich watt zu lachn haben in dett Bett. Wenn et so weit kommen sollte. – Warum biste nich lieba jleich in ’n Varieté jejang?

F: Mit dir hab’ ich mehr Spaß.

S: Watt erwartest ’n du, wenn du so spendabel bist? Datt ick seiltanz?

F: Nichts Ausgefallenes. ’n bisschen Jonglieren reicht schon.

S: Händchen halten und über dein’ letzten Freund flennen, wa? Na mia soll et recht sein.

F: Ich will dich fotografieren.

S: Ach nee! Wichsen tuste dann hinterher besser alleene, wa? Schon wegen die Ansteckungsjefahr.

F: Ich will dein Gesicht fotografieren.

S: Meen Jesichte?

F: Ja.

S: Watt is ’n Besonderet an meen Jesicht?

F: Is’ eben besonders.

S: Komm ick dann in die Zeitung? Dett wär ja direkt jeschäfstschädijend, wär dett.

F: Nein, aber in die Ausstellung vielleicht.

S: Also dett is watt Neues! Ehrlich! Dett soll wohl ’n Buch üba den Hauptstadtdschungl werdn. Jroße, traurije Oogn und ’n hartn Zuch um ’m Mund – Unterschrift: ‚Der Bahnhofsstricher‘.

F: Glaubst du, dass du traurige Augen hast?

S: Also,’n seelijen Kindablick konnt ick in letzta Zeit nich entdeckn, wenn ick in ’n Spiegel jekuckt habe.

F: Warum machst du das hier?

S: Weil ick scharf bin auf Analytiker, wie du eena bist, dett brauch ick einfach, um een hochzukriegn. Jehn wa nu zu dia oda willst de mia unta die rote Laterne knipsn?

F: Ich hab’ meinen Apparat nicht dabei.

S: Dett seh ick. Dia fehlt übahaupt so einijet.

F: Ja. Mir fehlt vieles. Auch zu Hause.

S: Aba ’n Bett haste?

F: Ja. Ich hasse mein Bett, aber es ist sehr komfortabel.

S: Na, denn mach hinne und tu ’n jutet Werk! Direkt an die Bedürftijen zahlt man ja freudijer als an so ’ne Orjanisazjon, wo de nie weeßt, wo dett Jeld bleibt.

F: Du hast keinen harten Zug um den Mund.

S: Dett kann sich aba nur noch um Minuten handeln.

F: In deinem Gesicht passiert was.

S: Aba hier passiert nischt. Ick gloobe, ick nehm doch noch den letzten Zuch. Hart wird der dann ooch sein.

F: Wir gehen gleich. Einen Augenblick noch!

S: Du bist ’n echter Spinner. Dett du meen Jesicht stark findest, dett is ja durchaus schmeichelhaft, die meisten sehen mehr abwärts, aba dett ick hiea so vor dia uffjeflanzt rumstehn soll, um mich von dia begaffn zu lassn, dett find ick ziemlich jeschmacklos, ehrlich. Ick bin nich Lady Gaga oda ’ne Monaco-Prinzessin, die posiert vor ihr Schloss, diesn Scheißbahnhof hier! Dann jenieß ma wen anderet! Ick vapiss mia.

F: Ich will mit dir schlafen.

S: Ach, denk ma an, dett is jenau der Jrund, warum ick hiea stehe.

F: Ich hab’ das auch mal gemacht.

S: Watt jemacht?

F: So wie du.

S: Du meinst, anjeschafft uff ’m Strich? Niemals! Totale Verarsche! ... Echt? Und du bist nich verhungat? Muss ja lange her sein.

F: Neun Jahre.

S: Und jetzt?

F: Jetzt bin ich Fotograf. Der Unterschied ist gar nicht so groß.

S: Sicha nich. Sind beedet Berufe. Speziell, wenn man’s ‚hinter‘ sich hat: Allet für ’n Arsch. Dann kann man dett sozusagn philosophisch sehen und sagn: Wia vakoofn uns doch eener wie der andre. – Warum saachste nischt? Dett war een Witz, Mann! Ick denke, du lachst so jerne ... Jetzt schweigt der ooch noch! – Das mit dem Jonglieren ... war das ernst?

F: Du jonglierst doch schon.

S: Essn wia noch watt?

F: Wenn du willst.

S: Ick will. Aba du bist uff so ’m Trip heute, ick wette, du bist janz geil uff ’ne Currywurscht. Also ich hätte da lieba ’n anständijet Schteek.

F: Das ist es! Deine Augen sind gar nicht traurig, sie sind einfach hungrig.

S: Und mein Magn erst! – Grins nich so!

F: Warum nicht?

S: Ick will dir nich sympathisch finden müssen.

F: Also, gehen wir!

S: Na endlich! Wo wohnst ’n du? Im Jrunewald?

F: In Kreuzberg.

S: Weil du dett schick findest oda weil du keen Jeld hast?

F: Weil ich kein Geld hab’, find’ ich es chic.

S: Bist du politisch oda so?

F: So oder so. Willst du ’ne Partei gründen?

S: Erstma’ will ick ’n Schteek.

F: Das ist ja fast schon eine politische Aussage.

S: Also, wie dett mit dia im Bett werdn soll, is mia ’n Reetzel, aba du musst et ja wissn.

F: Ich habe auch keine Ahnung. Aber so unter Jongleuren ... sag mal, bei mir zu Hause, da hab ich auch noch ’ne Menge zu essen.

S: So jeht et los! Und fürs Pennen zahlst du nachher mit ’m Schnappschuss.

F: Könntest du woanders besser pennen? Ich meine, in so einem Irrsinnsbett, das oben und unten verstellbar ist?

S: Uff meinem Jrabstein wird stehen: ‚Er war zu gutmütig‘. Nehm wia ’ne Taxe?

F: Ich hab’ ein Auto.

S: Mit ’m Motor drin?

F: Von Audi.

S: Reschpekt. So weit kann man et bringn uffm Strich. Jut, dett ick nischt jelernt hab.

F: Warum hast du nichts gelernt?

S: Dett Hirn zu kleen, der Schwanz zu jroß, dett sieht man doch.

F: Ich seh’ ganz was anderes.

S: Jaja, jut ausjeleuchtet in die Ausstellung.

F: Du hast nicht den geringsten Grund, Vertrauen zu mir zu haben. Ich versteh’ das.

S: Mia hat niemand watt beijebracht, jedenfalls nischt Jescheitet. Alles watt ich jelernt hab, war ...

F: Aber ...

S: Is allet meine Schuld. Ick hab jedacht, die Lehrer sind scheiße, dabei bin ick selba ...

F: Ich würde so gern ...

S: Hör bloß uff! Oda fang jar nich erst an! Komm mir mit keene Programme! Da hab ick echt keen Bock druff. Klappt ja doch nie. Und dann steh ick da mit meene Träume. – Ick gloobe dia im Übrijen keen Wort: nich den Stricher und nich den Fotografn.

F: Macht nichts. Misstrauen ist gut. Dann kann man noch überrascht werden.

S: Zwing mia nich zum Denken, sonst werd ick ne Enttäuschung für dich!

F: Dann stehen wir eben beide da mit unseren Träumen.

S: Soll ick vielleicht singen: ‚Die Welt ist schön Mylord‘?

F: Mein Gott, woher kennst du denn das noch?

S: Du kennst die alten Lautsprecher in den Stricher-Kneipen nich mehr. Und die alten Säcke, die das immerzu hörn wolln, die hast du anscheinend nie kennenjelernt. Komisch. Hast dich wohl immer bloß mit Audi-Fahrern einjelassen. ‚Die Welt ist schön, Mylord!‘

F: Nein. Die Welt ist nicht schön. Lass uns lieber ein bisschen traurig sein!

S: Provozier das nich! Sonst flenn ick dia die Hucke voll.

F: Na und?

S: Dafür kann ick keen Geld nehm. Da schäm ick mia.

F: Kennst du das? Man denkt, man müsste was sagen, aber man braucht gar nichts zu sagen. Weder sich noch jemand anderem. – Ob das ‚Glück‘ ist?

S: Hast du ma ’ne Zijarette?

F: Nein, tut mir leid.

S: Datt hätt ick mia gleich denken könn’. Watt hast du überhaupt? – Na ja. Mir ebent.

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VOKABELN

Tak|tik

[ˈtaktɪk], Substantiv, feminin

Fremdwörterdenken bei der Anmache

Tan|go

[ˈtaŋɡo], Substantiv, maskulin

In Lustspielen gern von Männern (einer in Frauenkleidern) vollführter Tanz von ehemals schwül-schwülstigem Image. Der Tango stolperte aber längst in doppeltem Rückwärtsschritt aus den blauen Nächten in die bunten Abende: Schwulenlos.

trau|ri|ge Au|gen

[ˈtʁaʊ̯ʁɪɡə] [ˈaʊ̯ɡŋ̍]/[ˈaʊ̯ɡən], Zusammensetzung aus Adjektiv und Substantiv

Hinweis auf traurige Veranlagung. Aber Vorsicht! Keine Garantie für mehr als Weltschmerz.

Spie|gel

[ˈʃpiːɡl̩], Substantiv, maskulin

Einrichtungsgegenstand, der verhindert, dass alle Schwulen zu Narzissten werden.

Prin|zes|sin|nen von Mo|na|co

[pʀɪnˈʦɛsɪnn̩] [fɔn] [ˈmoːnako]/[moˈnako], Wortgruppe

Gehören nicht zum Lehrstoff

Rät|sel

[ˈʁɛːt͡sl̩], Substantiv, Neutrum

Dem Schwulen ein Synonym für seine Seele

Ta|xe

[ˈtaksə], Substantiv, feminin

Zu zweit steigt man hinten ein, allein vorn: Wenn’s sich lohnt und Corona vorbei ist.

ERLÄUTERUNGEN

Diese Lektion heißt ‚Kennenlernen‘. In den ersten Jahren der Aids-Angst war Schwulen das kein Bedürfnis mehr oder allenfalls noch ein Herzensbedürfnis. Nun hört der Mensch beim Herzen aber nicht auf, sondern geht nach unten hin weiter. Schwule sind da auch nur Menschen.

Wahr ist, dass auch heute noch die Gefahr, Aids zu kriegen, größer ist, wenn man jemanden kennenlernt, als wenn man niemanden kennenlernt. Konsequenz: einfach das Haus nicht verlassen. – Das gilt für die, für die das einfach ist. Über die anderen hören Sie gleich mehr.
Man kann also ‚einfach‘ zu Hause bleiben, aber das ist kein Ersatz, das ist bloß eine Lücke, wenn es einem prekär ist.
Erster vorsichtiger Schritt: Statt sich unter sexomane Homosexuelle zu mischen, kann man ins Bürgerlich-Gemütliche ausweichen. Nächster Schritt: zwar zu den Schwulen gehen, aber mit eindeutigen Absichten – nämlich denen, alles bleiben zu lassen. Noch ein Schritt weiter: Kontakt aufnehmen, aber nichts tun, was gefährlich werden könnte.

Damit dürfte der Wissensdurst der Lehrgangsteilnehmer im Wesentlichen abgedeckt sein. Es ist unwahrscheinlich, dass Sie zum verschwindend kleinen Rest derjenigen gehören, die sich sagen: ‚Also gut – die geben ihren Sex auf, genau wie ich. Die verzichten auf diese Betätigung, genau wie ich, und die können auch auf diese Betätigung verzichten, genau wie ich. Nur: Wie werden die ihre Geilheit los?‘ – Also gut: Die Unverbesserlichen müssen wohl auf die Straßen und in die Kneipen und Opfer finden, auf dass sie selbst zu Opfern werden. Für alle Fleißigen, die darüber noch mehr lernen wollen, geht es jetzt weiter.

Der Anfang ist oft der aufregendste Teil einer Beziehung, manchmal der einzige, das weiß man aber erst hinterher, wenn man gemerkt hat, dass er auch das Ende war. Doch Schwulsein heißt nun mal, Männer zu wollen, nicht, Männer zu kriegen. Wer also auf die Straße geht, um Männerbekanntschaften zu machen, der wird unter Umständen erfolglos bleiben, besonders in Einkaufspassagen nach zehn Uhr abends. Andererseits sind um diese Zeit eigentlich sowieso nur noch Schwule unterwegs, denkt der Schwule. Und geht jemand nicht mit Mantel, sondern mit Jacke und nicht mit Freundin, sondern mit gesenktem Blick, dann wittert er Chancen.

Diese Chancen erzeugen einen – wissenschaftlich ausgedrückt – ‚Prickel‘, und Schwule, die diesen Prickel spüren, entwickeln sportlichen Ehrgeiz oder Suchtsymptome.

Der eine kann an keinem Würstchenstand vorbeigehen, ohne sich einen Riesenknacker zu schnappen, der zweite kann an keinem Bettler vorbeigehen, ohne ihm einen Euro zuzustecken, der Dritte kommt an keinem feschen Mann vorbei, ohne ihn sich oder sich ihm an den Hals zu wünschen. Natürlich kann man seinen Lüsten aus dem Wege gehen, aber ein gutes Gewissen ist da ein hartes Ruhekissen, und so mancher findet sich dann doch, wenn auch zu spät, auf der Straße ein.

Die Begegnung der Blicke bietet oft genügend Ablenkung vom eigentlichen An-Liegen, so dass mehr gar nicht nötig ist. Wer es also bei solch immateriellen Kontakten belässt, gilt nicht als unsportlich, oder doch, aber wer seine Blicke unterhalb fremder Gürtellinien platziert, gilt auch nicht als unsportlich, oder doch: Spielregeln gibt es zwar, nur ändern sie ihre Struktur genauso schnell, wie Viren das tun.

Wenn Blicke nicht reichen: Schwule pfeifen nur in Notfällen Männern hinterher. Besser ist: Vorher ansprechen! Wenn die Zeit zu knapp ist: Lächeln! Wer sich auf ein Lächeln hin nicht umdreht, ist die Anstrengung sowieso nicht wert gewesen und wird nicht weiter beachtet. Schwule auf Jagd gehen ökonomisch um mit ihrem Charme.

Wem der Schwierigkeitsgrad solcher Straßenschlacht zu gering ist, der kapriziert sich darauf, Männer, die für ihn als schwul zu erkennen sind, reizlos zu finden und bloß noch vermeintliche Heteros anzuflirten – als den vermeintlichen Himmel auf Erden. Das ist zwar Quatsch, aber nicht lebensgefährlich. Die Rübe-ab-Zeiten sind vorbei. Unsere heterosexuelle Gesellschaft hat sich daran gewöhnt, Schwule als gutartige Geschwüre einzustufen: eklig, lästig, aber harmlos.

Wem dagegen die freie Wildbahn der Straße bereits zu heikles Terrain ist oder zu zeitaufwändig, der bemüht sich ins Internet oder geht in die aus Lektion 4 bekannte Kneipe. Was er dort allerdings an Zeit aufwenden muss, spottet jeder Beschreibung. Doch was macht das schon?

Wer in eine volle Kneipe tritt, muss tief durchatmen und fühlen: ‚Das ist mein Geschlecht.‘ Dann ist er dort richtig. Aber das kann man höchstens beschreiben, verstehen kann man das als Draußen-Stehender nicht, nicht in dreißig Tagen, nicht in dreißig Jahren. Und wozu auch? Schwule kommen ja auch nicht dahinter, was an Strumpfbändern dran ist.

Meist treibt nicht die Lust sie in Lokalen zusammen, sondern die Sehnsucht. Und dann sucht ‚ER‘ ‚IHN‘, wie früher in den schelmischen Inseraten. Wer nur ein Mal im Jahr ausgeht, schichtet so viele Erwartungen auf, dass er glaubt, es oder ‚ER‘ muss überwältigend werden – ein tiefes Erlebnis. Wer sich den Besuch der jungen Männer häufiger gestattet, weiß, tiefe Begegnungen sind selten, Zufall. Und Begegnungen auf Kopfhöhe sind auch nicht häufig.

Da stehen sie dann rum, das Geheimnis in den Augen, von dem nur Männer wissen. Schachpartien kreuzen einander, und die Gesetze der Figuren bleiben rätselhaft: Der König springt, der Bauer zieht zur Seite. Von irgendwo nach nirgendwo – vielleicht in ewige Erinnerung.

Man kann sich aber auch einfach gegenseitig abfragen. Zweifellos vergrößert es das Wissen um einander, wenn man Einzelheiten über Familie und Haustiere erfährt. Ob das Wissen allerdings bereichert oder verarmt und zum Abbruch der Beziehungen führt – das ist zunächst ungewiss.

Also vielleicht lieber nicht gleich reden. Am Anfang tun es auch Blicke. Überhaupt die Augen: Schwule setzen sich den ‚Ich will dich!‘-Glanz ein wie Kurzsichtige Kontaktlinsen.
Auch hier weiß der Kenner: Die, die bedeutungsvoll gucken, haben sich meist keine Bedeutung für ein Gespräch aufbewahrt, und so stellt sich ihm die Frage, ob ein Gespräch wirklich lohnend wäre. Denn wer allein steht, hätte zwar lieber jemanden, wenigstens zum Reden, aber wer mit jemandem redet, ärgert sich, dass er festhängt, statt zu streunen. Und was macht jemand, der jemand Hübsches angesprochen hat und feststellt, dass der dämlich ist? Er will eigentlich weg, aber erst, nachdem er dem anderen klargemacht hat, warum, was allerdings dessen Intelligenz erforderte, so dass man auch bleiben könnte.
Noch schlimmer ist der dran, der als Einziger mit gar niemandem ins Gespräch kommt, während sich alle anderen ganz wundervoll unterhalten. Wer in dieser Situation lügt, er sei reich und bedeutend, damit die Umstehenden netter zu ihm seien, handelt sich allerdings – neben dem freundlichen Mitgefühl der Anwesenden – auch einige Nachteile ein.

Die meisten beugen sich also lieber dem Modetrend, denn entweder haben sie nicht genug Persönlichkeit (wo soll die auch herkommen?), um unabhängig was auf die Beine zu stellen, oder sie haben sie zwar, wollen aber keinen ebenbürtigen Partner haben. Wer Kampf will oder den Mann mit Instinkt für wahre Qualitäten – schön; aber wer den gängigen Schmetterling will (Ausführung markant oder Ausführung sensibel), der muss so tun, als sei er die Blüte mit dem gängigen Duft – sonst klappt’s halt nicht.

Überall wimmelt es dabei vor optischen Täuschungen: Jemand kann aufregend sein und sich langweilig anziehen. Es kann sich erst recht jemand aufregend anziehen und niederziehend langweilig ausziehen. Fürs Beobachten im Café ist die zweite Gruppe lustiger, für Dialog in Wort und Bett ergibt die erste mehr Sinn. Am beliebtesten sind, wie immer, Mischformen.

Es gibt auch die mit den inneren Werten. Sie legen keinen Wert darauf, zu gefallen und gefallen konsequenterweise tatsächlich niemandem. Elitär sind sie trotzdem: Sie verachten die, die ihr Selbstbewusstsein vom Haarschnitt ableiten und werden von denen verachtet. – Gut so! Es ist bequem, sein Selbstbewusstsein aus der Unabhängigkeit von Haarwaschmitteln speisen zu können. Da nimmt man das bisschen Kopfhautjucken gern in Kauf. Waschen allein ist sowieso zu wenig. Nichts als sauber und einfallslos gilt einfältigen Modetunten als erbärmlich. Und der werfe den ersten Stein, der sicher ist, keine solche Modetunte zu sein, sondern ein Liebhaber von ‚sauber und einfallslos‘. Jeder weiß, schick ist viel spießiger, weil angepasst in adretter Gefallsucht, und jeder sagt sich: ‚Na wenn schon! Man zahlt die Aufmachung mit, und wenn man Glück hat, tröstet sie hinweg über den Inhalt.‘

Wer sich doch lieber gleich trennen will, tauscht rasch die Adressen, um schneller vom anderen loszukommen. Kramt er aber zu diesem Zweck eine Visitenkarte raus, so wirkt das furchtbar affig und ist außerdem unfair. Telefonnummern gehören auf Bierdeckel und Rechnungsblocks. Irgendwann findet dann irgendwer ‚Peter 271139‘ oder ‚Axel 8517323‘ in der Jackentasche und wirft den kleinen Unbekannten mit weit weniger schlechtem Gewissen in den Papierkorb, als wenn es jemand in Stahlstich auf Bütten gewesen wäre.

Wenn nichts mehr hilft und der Laden sich zu leeren beginnt, dann wird todsicher jemand ganz wild nach dem Burschen hinter der Theke. Müßig, in diesem Moment darauf hinzuweisen, dass sich Barkeeper außerhalb ihrer Kneipe mit derselben Eleganz durchs Leben bewegen wie Schwäne auf Landausflug.

Wie bei allen Experimenten gibt es auch bei den zwischenmenschlichen mehr Enttäuschungen als ‚Nicht-Enttäuschungen‘ (für die das Deutsche nicht mal ein Wort hat, allenfalls die neutrale ‚Überraschung‘).

Die Daheimgebliebenen können also schadenfroh feixen. Es ist schon wahr: Wer nicht in schwule Kneipen geht, spart Zeit und Geld. Wer nicht isst, auch. Wer gar nicht erst lebt, spart natürlich am meisten.

Scott Walker: ‚Thanks for Chicago Mr. James‘

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Mr. James hat offenbar, irgendwo in Ohio oder Illinois, die Kaution gestellt, um Scott aus dem Gefängnis zu holen, und ihn dann mitgenommen nach Chicago. Scott hat sich aus Dankbarkeit auf ihn eingelassen: „But you needed more than the smile I wore“, aber danach findet er, dass sie quitt sind: „You have a lot of grace but you ’re an empty place“, und er verlässt ihn wieder: „I move as I began through fields without a plan.“ Scotts Stimme und die vielleicht etwas zu üppige (aber wundervolle) Begleitung heizt diesen Song, dem womöglich die spröde Lässigkeit von Bob Dylan auch nicht schlecht gestanden hätte, zu einem Drama auf, bei dem sich ein Junge bedankt, aber nicht verkauft.

Aus der LP ‚Til The Band Comes In‘, ℗ 1970 Mercury Records Limited, Interpret: Scott Walker, Composer Lyricist: Scott Walker, Ady Semel

36 Kommentare zu “Dialog 10: Am Bahnhof

  1. Anstrengend wird es erst wenn man weder am Würstchenstand, noch am Bettler, noch am feschen Mann vorbeigehen kann. Irgendwann wird die Lust zum Stress.

      1. Es soll ja Fetische für alles geben. Aber poverty porn meint ja dann eigentlich doch etwas anderes.

      2. Also, ich habe schon gut aussehende Bettler gesehen, wenn auch kaum in Deutschland. Das überhaupt auszusprechen, ist wohl bereits ‚pornographisch‘. Trotzdem: ein hübschen Mensch, ein poussierliches Tier – sie haben es leichter beim Betteln. Das wissen auch Spendensammler und Tierschützer.

      1. Ich habe bei der Serie ehrlich gesagt nicht lange durchgehalten. Genau kann ich es also gar nicht sagen.

  2. Scott Walker habe ich erst kennen und auch bis zu einem gewissen Grad lieben gelernt, als seine Musik schon nicht mehr so eingängig war. Ein wunderbarer Liedschatten.

      1. Ich bin durch ‚The Drift‘ noch einmal neu auf ihn aufmerksam geworden. Es hat zwar eine Zeit gedauert, aber dann konnte ich seine Musik doch wertschätzen.

  3. Unter Menschen ist’s natürlich immer gefährlicher als in Isolation. Das lehrt uns Corona ja auch wieder. Gegen HIV gibt es mittlerweile wenigstens die PrEP-Tabletten. Ob wir gegen dieses Virus auch lebenslang kämpfen müssen?

      1. Das es so kommt, das befürchte ich auch. Man wird wohl Wege finden müssen, wie man sich mit dieser Art Virus arrangiert. Zurück zur Unbeschwertheit, das wird nichts werden.

      1. Klar, man kann zumindest die Weichen in die richtige Richtung stellen. Aber was am Ende dabei rauskommt ist ja trotzdem immer ein wenig Glücksspiel. Oder?

      2. In meinem Leben habe ich immer wieder Menschen getroffen, die mir etwas bedeuteten, allerdings inzwischen viele leider auch wieder verloren: die Entfernung, die Zeit, der Tod.

  4. Ermuntert von Ihrem Auszug habe ich mir zum morgendlichen Kaffee nochmal Mr. Walkers Lyrics zum obigen Lied durchgelesen. In der Tat, ein super schöner Text.

  5. Es ist immer wieder eine Herausforderung sich von den vielen Enttäuschungen nicht abschrecken zu lassen. Die Gefahr ist ja, dass man die Nicht-Enttäuschung sonst noch verpasst.

    1. Das kommt bei mir ehrlich gesagt auf den oder die Taxifahrerin an. Bei Sympathie sitze ich auch gerne vorne. Sonst wird so eine Fahrt doch meistens langweilig.

      1. Taxifahrten dürfen bei mir ruhig langweilig sein. Da halte ich es ähnlich wie bei Friseurterminen. Ich nutze die Zeit so gut es geht zur Entspannung.

      2. Ich sitze grundsätzlich gern vorn, auch im Kino. Jetzt, wo ich kaum noch auf die Straße komme, sowieso. Aber wie die Zeiten nun mal sind, darf ich nicht vorn einsteigen, um mich nicht zu einem Restaurant fahren zu lassen, in das ich nicht gehen darf.

      3. Eine kurze Taxifahrt mit FFP2-Maske und antigenem Test, völlig ziellos, wäre ja sogar machbar. Aber da müsste man schon besonderer Liebhaber sein.

  6. So aufregend wie am Anfang einer Beziehung wird es nie wieder. Und trotzdem würde ich eine lange Liebe nie gegen diese Aufregung eintauschen wollen.

      1. Umso besser. Manchmal sind der aufregende Sturm und die lange Liebe aber auch zwei verschiedene, unabhängige Sachen. Auch das muss man respektieren.

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