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Tänzer außer der Reihe

Dialog 11: In der Kneipe

DRAUFGÄNGER 1988

(Der Wassertrinker: W; der Biertrinker: B)

B: Kann ich mein Glas hier mal abstellen?

W: Klar.

B: Danke!

W: Ist voll heute.

B: Ja, um diese Zeit immer.

W: Das hab’ ich gar nicht erwartet.

B: Dachtest du, wir sind schon ausgestorben?

W: Na ja. Ich geh’ eben nicht mehr so viel weg.

B: Und was treibt dich heute vor die Tür?

W: Tja, was? Die Hoffnung.

B: Die Hoffnung?

W: Ja, die Hoffnung, mit jemandem wie dir zu reden.

B: Jemand wie mir? Wie bin ich denn?

W: So, dass ich neugierig werde.

B: Oh, schände meinen Friedhof nicht!

W: Bist du so enthaltsam?

B: Geworden! Aber ich trink’ immerhin noch Bier.

W: Mein Wasser sprudelt auch.

B: Aber es schäumt nicht.

W: Nicht schäumt mehr. Das Bier ist schal.

B: Wie das Leben, mein Lieber, wie das Leben. Entschuldige mich, ich muss da drüben –

W: Nein.

B: Was: nein?

W: Ich entschuldige dich nicht. Ich will, dass du hierbleibst.

B: Na hör mal! Also so was! Du hast doch hier genug Leute.

W: Aber alle bloß Minderheit.

B: Das ist ja grade das Tolle. Auf diese Weise bilden sie eine richtige Gemeinschaft. Sehen sie nicht wunderhübsch aus, so miteinander?

W: Ja, ein wunderhübscher Mannblick. Aber ich will die Gemeinschaft mit dir.

B: Mir wird ganz schwindlig davon, wie du redest. Bist du erst seit Kurzem schwul?

W: Nein, seit ich acht bin.

B: Ach, was ist da passiert?

W: Der Minirock kam in Mode.

B: Und jetzt hast du erst dein Coming-out, armer Junge?

W: Mein Coming-out hatt’ ich schon vor Jahren. Früher war ich häuslich und spießig. Jetzt lass’ ich alle Welt dran teilhaben, wie spießig ich bin.

B: Ja, das könnt’ ich mir denken. Den Mund hast du wohl nur zum Reden.

W: Andere Vorschläge?

B: Iss doch was Nettes!

W: Dann müsst’ ich hier ja weggeh’n von dir.

B: Der Bert da hinten schmiert berühmte Schmalzstullen.

W: Ich hab’ keinen Hunger.

B: Ja, dann …, dann kann ich dir auch nicht helfen.

W: Doch.

B: Ja, vielleicht doch. – Ich bin nicht allein hier.

W: Nein?

B: Nein.

W: Warum wolltest du eigentlich dein Bier hier abstellen?

B: Na ja, nur so.

W: Und warum hast du mich dann vorher die ganze Zeit beobachtet?

B: Du bist mir ein bisschen fix. Außerdem: Ich kann ihn nicht so lange allein lassen.

W: Warum nicht? Hat er Angst? Oder epileptische Anfälle?

B: Nein, Ansprüche.

W: Soweit ich sehen kann, unterhält er sich gut. So gut, dass er sicher noch gar nicht gemerkt hat, dass du weg bist.

B: Woher weißt du denn, welcher es ist?

W: Ich hab’ euch zusammen reinkommen sehen. Ihr seid mir aufgefallen, weil ihr so gar nicht zusammenpasst. – Warum lachst du? Ist er dein Freund?

B: Nein, genauso wenig wie du. Er schläft nur grad bei mir. Er wohnt in Düsseldorf.

W: Gib mir nicht seine Adresse! Ich bin nicht interessiert.

B: Ich wollt’s dir bloß sagen.

W: Du hast also eine große Wohnung.

B: Ja. Es passen mindestens vier Luftmatratzen rein.

W: Aufgeblasen?

B: Wie ’ne Horde Tunten.

W: Schwulenfeindliche Sprüche gehen eigentlich nicht mehr.

B: Nein? Wer sagt das?

W: Ich.

B: Und das ist dann so?

W: Ja. Alle, die nicht meiner Meinung sind, sollen ausgerottet werden oder mich überzeugen.

B: Das ist also dein Coming-out! Klingt gut. Mich überzeugt es.

W: Ich freu’ mich …

B: Mich freust du auch.

W: Das freut mich.

B: Jetzt möchte ich mit dir zusammen sein, auch wenn es nicht vernünftig ist.

W: Vernünftig. Na, hoffentlich ist es nicht vernünftig! Was ist schon vernünftig?

B: Dein spießiges Coming-out war mal vernünftig, vor zehn Jahren.

W: Und wem hat’s geholfen? Mir nicht. Die ganze Weltliteratur ließe sich stark zusammenstreichen, wenn die Menschen vernünftig reagieren würden. Othello hätte zu Desdemona gesagt: ‚Hör mal, hast du etwa wirklich was mit Cassio?‘ Und sie hätte geantwortet: ‚Spinnst du? Hat dir das Iago, dieser Schleimer, eingeredet?‘ – Der Fall wäre erledigt gewesen, aber die europäische Kultur wäre um eine Tragödie und eine Oper ärmer.

B: Klingt überzeugend. Wann bist du drauf gekommen?

W: Als ich mich gefragt hab’, warum vernünftige Geschichten so langweilig sind. Na ja. Leben und Lesen sind eben zweierlei.

B: Für dich auch? Du bist doch ein Kämpfer.

W: Ein schüchterner Kämpfer.

B: Wirklich? Auf mich wirkst du wie ein Draufgänger.

W: Du wühlst Dinge auf, die ich fast schon begraben hatte.

B: Wir können uns alle bald begraben lassen, wenn wir nicht kämpfen.

W: Wir sind schon vergiftet.

B: Alle?

W: Bei den einen das Blut, bei den anderen die Gefühle. Wenn da jemals welche waren.

B: Gehörst du etwa auch zu denen, die sagen, Aids ist Gottes Antwort auf uns?

W: Auf uns und unsere bedeutsamen Fragen ‚Wer bin ich?‘, ‚Wer bist du?‘ und ‚Wie oft kannst du hintereinander?‘ – Vielleicht ist es auch die Antwort darauf, dass wir aufgehört haben zu fragen.

B: Das ist doch alles Blödsinn. „Am siebten Tag schuf Gott das Virus, und er sah, dass es gut war.“ – Denkst du so?

W: Nein. Ich weiß, die Seuche ist ein Labsal für alle, die sich nie was getraut haben. Jetzt haben sie ihre Bestätigung, dass ihre miese, kleine Feigheit in Wirklichkeit berechtigte Vorsicht war.

B: Ob sie nun zufrieden sind?

W: Nein, aber weniger neidisch.

B: Ja, es ist alles anders geworden, aber nicht komischer.

W: Nein, komischer nicht. Aber safer. Früher hatte man nach dem Sex bloß ein schlechtes Gewissen, heute hat man gleich Angst.

B: Früher hab’ ich unter meinen Kerlen gelitten. Heute leide ich darunter, dass ich kaum noch welche habe. Früher war schöner.

W: Wir hatten Angst vor Hepatitis, selige Zeiten.

B: Viel schöner.

W: Früher malten sich die Menschen das Schlaraffenland aus mit gebratenen Tauben und Schinken, die an den Bäumen hingen. Für mich ist das Paradies: Männer – jeden Tag andere, ohne dass man davon krank wird.

B: Männer, die in den Bäumen sitzen, Männer, die einem in den Mund fliegen …

W: Mit ihnen würde ich, wenn es sein müsste, auch im Chor singen und Gott preisen. Das ist das Paradies. Alles andere übersteigt meine Fantasie.

B: Und nun steht der Engel mit dem Flammenschwert vor deinem Dunkelraum.

W: Und das Kainsmal hinter meiner Stirn stimmt ihn auch nicht gnädiger. Wir dachten, erbärmliche Hoffnungen und flaue Abenteuer wären schon Strafe genug gewesen, aber nein, es musste als große Zusammenfassung der vielen unbedeutenden Enttäuschungen noch der riesige Rachefeldzug einer Pandemie kommen.

B: Hast du es mal mit Frauen versucht?

W: Ich hab’ nichts gegen Frauen, aber sie regen mich nicht auf.

B: Man kann sich nicht für alles interessieren.

W: Es hat mich nie etwas so interessiert wie Männer, ich bin krank nach ihnen. Sie auf mich aufmerksam zu machen, sie zu erobern, das erste Mal mit ihnen zu schlafen. Es ist so ein Irrsinnserlebnis, wenn zwei miteinander die Jungfräulichkeit in ihrer Beziehung verlieren.

B: Ach ja … mit jemandem frisch verliebt in der Taxe nach Hause fahren: Ein bisschen albern, ein bisschen verlegen, ein bisschen betrunken – wenn man sich das noch so vorstellt!

W: Ich stell’ mir lieber Sex vor in einer viel benutzten Toilette, wo schon die äußere Umgebung deutlich macht, dass man einem körperlichen Bedürfnis nachkommt.

B: Du bist pervers. Und ich dachte, du wärst romantisch.

W: Sowohl als auch.

B: Wir haben beide unsere Heimat verloren.

W: Manchmal möchte ich tot sein.

B: Das ist doch nur eine Frage der Zeit.

W: Es gibt Sekunden, da wäre es ganz einfach, Schluss zu machen. Man kann glücklich sein oder unglücklich oder keins von beidem. Kennst du das? Man fühlt, wenn es jetzt vorbei wäre, könnte ich Abschied nehmen, ohne Schmerz. – Und dann möcht’ ich wieder überleben.

B: Wen?

W: Ja, wen? Es ist irgendwie so, wie es früher im Krieg gewesen sein muss. Die einen sterben, die anderen nicht. Und manchmal überleben grade die, von denen man es am wenigsten erwartet hat.

B: Du hast Angst.

W: Natürlich. – Aber ich gewöhn’ mich dran. Noch vor Kurzem geriet ich in Panik, wenn es mir nicht gut ging. ‚Um Gottes willen, warum geht es mir schlecht?‘ Heute frag’ ich mich: ‚Warum soll es ausgerechnet mir gut gehen?‘

B: Wenn ich meine Leistendrüsen an einer bestimmten Stelle reindrücke, tut es weh.

W: Dann drück doch nicht!

B: Das nutzt auch nichts.

W: Nein, ich weiß. Es ist wie mit dem Wetter. Man sieht eine Wolke fern am Horizont und denkt, das muss nichts bedeuten. Eine Stunde später regnet es.

B: Ist doch eigentlich ein beschissenes Leben. Alles ist kompliziert.

W: Ich hasse das Unkomplizierte.

B: Alles ist schwierig oder teuer. Und da gab es so ein bisschen schwierigen Spaß umsonst – und schon musste man büßen. Das ist erbarmungslos.

W: Du wirst ernst?

B: Du doch auch.

W: Die Natur hat keinen Grund, uns am Leben zu lassen. Wir passen in diese Welt nicht mehr hinein. Wir sind Dinosaurier. – Warum sollten wir nicht ausgerottet werden?

B: Es sei denn, wir passen uns an. Safer Sex, Safer Life.

W: Wir lügen uns vor, irgendeines unserer Erlebnisse sei die große Liebe.

B: Wir passen uns an.

W: Wir geben uns auf.

B: Siehst du es so krass?

W: Es gibt so weniges auf der Welt, das neben dem Sex nicht verblasst. – Philosophie, Politik, Kunst, der Beruf, die Familie: Das ist doch bloß Zeitvertreib dagegen.

B: Es braucht ja nicht Sex mit anderen zu sein.

W: Fremde Partner sind natürlich abwechslungsreicher als die eigene Hand.

B: Aber auch unsicherer.

W: Eben, wir reden ja übers Aufgeben.

B: Man muss sich halt vorsehen.

W: Ja, den ‚Austausch von Körperflüssigkeiten‘ vermeiden. Körperflüssigkeiten auszutauschen, das macht doch den Sex überhaupt erst aus. Das zu vermeiden ist ausgesprochen lieblos. Das ist Dosierung statt Hingabe, Onanie in Gegenwart anderer, lustlos wie das Kinderzeugen in gutchristlicher Ehe. – Ich kann mir schon die Fernsehspots vorstellen: Hübsche, junge Sympathieträger sagen lässig in die Kamera: ‚Ich steh’ auf Treue. Ist doch klar. Ich weiß, was ich will. Und vor allem – ich weiß, was ich nicht will: Aids!‘ – Makaber. Ich will das alles ganz anders.

B: Aber ist das andere dir wert, daran zu sterben?

W: Du verstehst mich nicht. Aber um deine Frage so zu beantworten, wie sie gemeint ist: Wenn ich schon an meinen Exzessen sterben müsste, dann möchte ich auch im Exzess sterben und nicht im Krankenhaus.

B: Uijuijui! Was für ein Wort! Ich hab’ höchstens mal Spaß. Du hast gleich ‚Exzesse‘ und stirbst daran.

W: O nein! Das wird nicht passieren.

B: Hältst du dich für immun?

W: Ich hab’ Instinkt.

B: Das sagt jeder.

W: Wenn ich auf jemanden fliege, so dass es mir die Füße wegzieht, dann denk’ ich: ‚Der hat’s vielleicht. Und er will es mir weitergeben, weil er es auch so bekommen hat, als es ihm die Füße weggezogen hat, als ihm alles egal war bis auf diese Berührungen.‘

B: Und ich?

W: Du?

B: Ja, ich. Bin ich auch so ein Todesengel?

W: Ein Racheengel.

B: Rache wofür? Du hast mich ja nicht angesteckt, noch nicht.

W: Du hast mich angesteckt, aber das geschieht mir recht.

B: Jetzt versteh’ ich dich nicht.

W: Es ist die Strafe. Die Strafe für diese schräge Veranlagung, die Gefahr zu brauchen, um auf Touren zu kommen.

B: Da wirst du doch für etwas bestraft, wofür du nichts kannst.

W: Ja und? Das passiert doch dauernd.

B: Aber das ist unmenschlich.

W: Sicher. Du sollst deinen Nächsten hassen wie dich selbst, dann passiert dir nichts.

B: Ich wette, du bist ein Einzelkind gewesen: verwöhnt, immer alles gehabt. Schöne Mutter, reicher Vater.

W: Mein Vater war schön und meine Mutter ist reich. In der Art, wie sie mit Trinkgeldern um sich schmeißt, trägt sie zur Umverteilung des Volksvermögens bei. – Ich bin nicht wie meine Eltern. Und an mir kannst du nichts über sie ablesen. Nicht ihren Charakter und nicht ihre Umgebung. Ich bin ohne Wurzeln.

B: Dann werd’ ich dich ausreißen – und umpflanzen.

W: Wohin?

B: In mein Treibhaus.

W: Gut. Ich mag es feuchtwarm. Aber überall herrscht nur noch trockene Kälte.

B: Ich hab’ schon mal gedacht, wenn man nach spätestens sechs Stunden trinken muss, nach zwölf Stunden essen und nach sechzehn Stunden schlafen – wie lange dauert es eigentlich, bis man nicht mehr ohne Sex auskommt?

W: Ich hab’ noch ganz andere Gedanken. Ich sehe einen Mann auf der Straße, den ich toll finde, und ich denke: ‚Mein Gott – fünf, sechs Mal am Tag macht er den Reißverschluss auf und holt seinen Schwanz raus, zum Pissen. Dann guckt er gleichgültig runter auf das Ding vor sich, das er auswendig kennt – aber ich krieg’ es nie zu sehen, nie.

B: Warum gibt es keine Ohrenschützer gegen die innere Stimme?

W: Damit wir leiden.

B: Leidest du?

W: Die Tage sind manchmal schlimm. Nachts bin ich immer noch relativ gut beisammen, wie alle, die das Leben nicht aushalten können.

B: Ich dachte, es sei umgekehrt. Nachts wird es schlimm.

W: Ich lauf’ so durch die Straßen. Ich will nirgendwo reingehen. Und dann seh’ ich in eine Bar, voll von Männern, ich seh’ durchs Fenster und ich seh’ sie zusammensteh’n, ich hör’ ihre Stimmen, ihr Lachen, und ich fühl’ mich wie Carmen im vierten Akt, wenn sie Escamillos Lied hört. Ich fühl’ mich wie Don Giovanni, der lieber dem Komtur die Hand gibt, als dass er sich dem gängigen Sexualverhalten anpasst. – Ach ja, zu Hause hab’ ich Zucht und Ordnung gelernt, aber ich glaube, Unzucht und Unordnung lägen mir mehr.

B: Lass uns rausgeh’n! Da ist es feuchtwarm. Es ist Sommer, es regnet.

W: Im April ist ein sehr enger Freund von mir gestorben, gerade als der Frühling anfing. Die Knospen platzten auf wie Eiterbeulen, es war obszön.

B: Lass uns gehen!

W: Ich würde mich so schämen, wenn ich es hätte.

B: Lass uns gehen!

W: Es war einmal ein Mann, der stand jeden Morgen um sieben Uhr auf, ging ins Bad, entließ seine trockenen, fast geruchlosen Exkremente ins Klobecken, bürstete erst seine Zähne, dann seinen Körper, dann seine Haare, er rasierte sich – nass, weil das gründlicher ist – frühstückte, fuhr zur Arbeit, verrichtete seinen Dienst, fuhr wieder nach Hause, aß, las, schlief, sonntags trank er vor dem Insbettgehen einen Schnaps und spülte damit die Woche runter. Fünfundvierzig Jahre lang tat er das, bis er fünfundsechzig war. Dann starb er, um der Gesellschaft nicht durch seine Rentenansprüche zur Last zu fallen.

B: War der Mann schwul?

W: Er war ganz normal. – Ich bin dieser Mann.

B: Du rasierst dich also nass?

W: Ich werde jetzt gehen. Ich werde versuchen, einen Film zu sehen und dabei zu lesen oder einfach zu schlafen. Einfach! Ich werde versuchen, mich mit Nachdenken zu betäuben, und wenn das alles nichts hilft, dann muss ich auch noch versuchen, die Welt zu erobern.

B: Ich komm’ mit zu dir.

W: Nein. – Das geht nicht.

B: Warum nicht?

W: Ich kann nicht.

B: Lebst du nicht allein?

W: Doch, aber …

B: Aber? – Bist du krank?

W: Nein, nein. Ich meine, ich weiß es nicht.

B: Also dann: mein Risiko!

W: Nein.

B: Was ist los mit dir?

W: Nichts. Gar nichts ist los mit mir. Überhaupt nichts.

B: Was willst du eigentlich?

W: Was ich will? Ich möchte wunderbare Gespräche führen mit bedeutenden Menschen in einem wunderbaren Garten mit blühenden Sträuchern, ein Tisch ist wunderbar gedeckt mit duftenden Speisen, serviert wird von wunderbaren Kellnern mit Aids-Test von heute Morgen.

B: Du machst dich verrückt.

W: Ich bin verrückt.

B: Komm, lass uns gehen!

W: Nein, ich bin nicht bereit dazu.

B: Aber warum nicht?

W: Ich bin … in Wirklichkeit nicht interessiert.

B: Was sagst du?

W: Pass auf: Mein Sex war mein Ich. Mein Sex, das war ein Teil meiner Kraft, meiner Lebensfreude, meiner Bestätigungssucht. Ich wollte das nicht aufgeben. Ich wollte es gar nicht schaffen können, das aufzugeben. Aber das war alles Quatsch. Kindische Schwärmerei, pervertierte kindische Schwärmerei. Die Wirklichkeit sah anders aus. Es ging nicht so, wie ich wollte. Meine Angst war größer als mein Trotz. Erbärmlich. Und so hab’ ich dann meine Vollzugswünsche aus mir rausgerissen. Nicht sehr bewundernswert, was danach noch von mir übrig geblieben ist, aber es lebt.

B: Ich glaub’ dir kein Wort. Du spinnst bloß rum.

W: Es geht nicht gegen dich.

B: Du bist scheiße.

W: Wahrscheinlich. Aber wir hatten eine schöne halbe Stunde, nicht wahr?

B: Du hast dich nie getraut, auch früher nicht. Du bist feige und du spielst. Du bist scheiße.

W: Geh jetzt zurück zu deinem Freund! Du wirst mir fehlen.

B: Scheiße.

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VOKABELN

Min|der|heit

[ˈmɪndɐhaɪ̯t], Substantiv, feminin

Gruppe, der von der Mehrheit nahegelegt wird, das mit Minderwertigkeit zu verwechseln

Co|ming-out

[ˌkamɪŋˈʔaʊ̯t], Substantiv, Neutrum

Die öffentliche Klarstellung, dass Minderheit keineswegs mit Minderwertigkeit gleichzusetzen ist bzw. promiskuitiver Sex nach anfänglichem Zögern

Na|tur

[naˈtuːɐ̯], Substantiv, feminin

Blume im Knopfloch

Po|l|itik

[poliˈtɪk], [poliˈtiːk], Substantiv, feminin

Knopf im Knopfloch

Kunst

[kʊnst], Substantiv, feminin

Finger im Knopfloch

In|s|tinkt

[ɪnˈstɪŋkt], Substantiv, maskulin

Knopf offen

Treib|haus

[ˈtʁaɪ̯pˌhaʊ̯s], Substantiv, Neutrum

Hose offen

ERLÄUTERUNGEN

Es gibt viele Wege, sich alles zu verderben. Besonders beliebt ist der, ein guter Mensch sein zu wollen und damit sich und anderen das Leben zur Hölle zu machen.
Das Drama beginnt, wenn man Laster und Vorurteile ablegt und das auch von anderen erwartet oder gar fordert. Laster aufzugeben ist schon kritisch genug, weil sich der Selbstzerstörungsdrang dann meist abgefeimtere Schleichwege sucht als Alkohol, Sex und andere harmlose Leidenschaften. Ein Laster ist wie ein Stein, der jahrelang auf dem Weg lag und wenig störte. Entfernt man ihn aber, so gibt es ein Loch, aus dem Asseln und Würmer krabbeln.

Noch fataler wird es, wenn Sie an Ihren Vorurteilen rütteln. Die anderen wissen schon, warum sie sich an sie klammern. Vorurteile dienen dazu, die eigene Position zu stärken und abzustützen: Schwarze stinken! (Ich muss es ja wissen. Ich rieche gut.) Heteros haben keine Lebensart und verstehen Frauen nicht! (Ich Schwuler bin in aller Welt und im weiblichen Seelenleben gleichermaßen zu Hause.)

Wer schwach ist, braucht seine Vorurteile. Will man sie ihm nehmen, reagiert er aggressiv. Schwulen, die sich noch nicht selbst akzeptiert haben, dürfen gar nicht erst den Versuch machen, Heteros in ihrer Gunst Chancengleichheit einzuräumen. Toleranz kann man sich nur leisten aus einer Position der Stärke, und die Schwulen sehen ja, diese Position haben sogar nicht mal alle Heteros ihnen gegenüber erreicht. Wie kommen sie dazu, den Anfang zu machen? Bewaffnen müssen sie sich und abschrecken! Als ehemals ‚warme Brüder‘ brauchen sie den Kalten Krieg weniger zu fürchten als die Verlogenheit eines nur als Geste gemeinten liberalen Tauwetters: Kaum friert der Matsch wieder, rutschen sie erst recht aus.

Also bleiben sie sich lieber treu und wiederholen sich ständig und inständig: Heten kennen sich nicht aus, nicht in der Welt und schon gar nicht in der weiblichen Psyche. – So steigt jeder Allerweltsschwule, Individualtourist und guter Kamerad unverstandener Frauen allmählich in seiner Selbstachtung. Er ist wer! Das Leben in seiner verfeinerten Form ist ihm zugänglich. Schließlich kann er sogar Estragon von Popelin unterscheiden. Welcher normale Mann kann das schon?
Na ja, aber eben jeder schwule. Also landet niemand mit solchen Fertigkeiten in Schwulenkreisen einen Erfolg. Genau da aber wäre es am wichtigsten.

Zur Sache: Wie die sein müssen, die der Normalschwule wollen soll, lernen Sie im nächsten Kapitel. Hier geht es darum, wie der Normalschwule selber ist. Und wie er ist, entscheidet darüber, wen er und ob er wen abkriegt.
Abhängig sind seine Aussichten davon, wie er wirkt – das wurde in der Lektion ‚Kleidung‘ behandelt – und wie er spricht: Darum geht es jetzt.

Ohne fundierte Opernkenntnisse wird es Ihnen kaum möglich sein, ein Gespräch anzuknüpfen, behaupten Zyniker und Depressive aus den eigenen Reihen. Zumindest sprechen Schwule nicht vom Wetter. Sie erweisen sich im Park als wasserscheu und gehen lieber auf die Sonnenbank.
Zugegeben, es gibt noch andere. Und auch nicht alle haken die Schaufenster der Boutiquen ab und huschen gierig durch die Büsche, Morgenröte in Herz und Hoden, aber Götterdämmerung im Kopf. Niemand mag Schablonen. Und Vorurteile mag man auch nicht, man hat sie. Man lernt halt nur mit Schablonen und Lehrsätzen besser als ohne solche Formeln. Wir werden schon noch differenzieren. Und dass es Schwule gibt, die scheu und schutzlos sind, die Hilfe und Ermutigung brauchen, ohne dass sie eine ausbeutbare Figur für einen süffigen Dialog abgeben – dahin kommen wir bald. Bloß dass dieser Kursus altmodisch vorgeht: Vom Simplen zum Komplizierten, so prägt’s sich besser ein.
Sie, der Sie nur Zaungast sind: Denken Sie erst mal um! Umfühlen werden Sie dann von allein.
Wichtiger als das Gefühl ist ohnehin die Formulierung, wenn Sie reden wollen.
Eine gute Formulierung ist deshalb so schwer, weil sie einen guten Gedanken voraussetzt. Und wer hat den schon. Sprachlich hübsch gefasster Quatsch bleibt Quatsch. Was die Ungerechtigkeit verschlimmert: Ein guter Gedanke wird erst durch die richtige Formulierung allgemeinverständlich und damit wertvoll. Also: Das Unbedeutende bleibt, nett gefasst, unbedeutend. Das Bedeutende bleibt, schlecht gefasst, unverständlich.
Und nun?
Es klingt vielleicht nicht sehr fortschrittlich, aber unterhalten zu können, ist Begabungssache: übbar, wo Talent ist, unlernbar, wo keins ist.
Natürlich können Sie wie die meisten humorlosen Menschen ausweichen aufs Witze-Erzählen. Beliebt sind vor allem Witze, die von einer anderen Art Sex handeln, als man selbst ausübt. ‚Schwulenwitze‘ zum Beispiel werden von Heten erzählt und gehen davon aus, dass Homos wie närrisch mit den Hüften wackeln und ‚Huch!‘ schreien, wenn die Straßenbahn kommt. Das ist zwar lächerlich, aber nicht witzig. Man könnte sich überhaupt kringeliglachen über die Heten, wenn die Sache nicht so schmerzhaft wäre.

‚Herrenwitze‘ hingegen gehen davon aus, dass die Frau ein Geschlechtsorgan einschließlich angrenzender Körperteile ist, für einen Schwulen gibt es da nichts zu lachen. Aber es muss ja auch nicht alles komisch sein. Die Amüsierwut ist ein Trugschluss unserer Zeit. Man kann eine Unterhaltung genauso gut ernst beginnen. Überhaupt kommt es vor allem darauf an, wo man was wie sagt. ‚Na, lebst du noch?‘ als Begrüßung hat auf der Straße einen anderen Zungenschlag als auf der Intensivstation.

In konservativen Zirkeln reichen oft gut gekämmte Freundlichkeiten. Sollte Ihnen dennoch an einer wertenden Aussage liegen, so genügt es im Allgemeinen, die Angela Merkel hausbacken und die Meryl Streep sympathisch zu finden.

Sozialistische Anschauungen bürgen allerdings auch nicht immer für fesselnde Gespräche, zumal die Verstaatlichung der Produktionsmittel kein tolles Thema für einen Flirt abwirft. Da gibt es dann die Mutigen, die Abwechslung in ihr Leben bringen, indem sie sich einen Morgen von rechts nach links und den nächsten von links nach rechts rasieren, und die im Übrigen finden, man muss nicht leben, wie man denkt. Und es gibt die Ängstlichen. Die haben ihren Freund noch nie ‚betrogen‘ und sehen für den Fall, dass die Konservativen allein regieren sollten, Pogrome apokalyptischen Ausmaßes auf sich zu galoppieren.
Kopfnicken ersetzt in solchen Fällen meist die Antwort. Sie dürfen nur nicht vergessen, damit aufzuhören, wenn Sie gefragt werden: ‚Kommst du mit?‘
Meist sind sowieso Politik, Philosophie und Religion schlechtere Themen als schlichtere Themen: Die warme persönliche Ansprache verfehlt als Einstieg fast nie ihre Wirkung.
Davon dann mehr in der nächsten Lektion.

Chad Mitchell: ‚The Life That We Lead‘

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Gleich zu Anfang wird uns ein Dreier-Takt vorgegaukelt, der uns aber kurz darauf wie eine Ohrfeige als martialischer Vierer ins Gehör knallt. „The life that we lead is a short one and I hope I will lead it with you [...] but if it’s a case of survival [...] don’t you count on me counting on you.“ Ist das purer Nihilismus oder ist das Verzweiflung? So mag sich jemand fühlen, der im Rinnstein liegt und von einem Samariter eine Flasche Wermut geschenkt bekommt. Oder jemand, der am Verdursten ist und in der Wüste eine Flasche Wodka findet. Ein Veganer zwischen den Rinderfilets im Schlachthaus. Ein Fleischliebhaber, der in seinem Keller sitzt und den Verstärker aufdreht, damit er das Lied vom Salat etwas lauter hören kann.

Aus LP ‚Love, a Feeling of‘, ℗ 1967 Warner Records Inc., Writer: W. Holt, Interpret: Chad Mitchell

32 Kommentare zu “Dialog 11: In der Kneipe

  1. Vorurteile und Aggression sind ein Resultat von Schwäche und Unsicherheit. Man weiss über diesen Zusammenhang gut Bescheid und trotzdem hilft diese Einsicht oft nicht weiter.

      1. Und aus der anderen Sicht wird es sicher auch nicht einfacher mit solcher Aggression umzugehen, nur weil man die Gründe zu kennen glaubt.

  2. Eine wertende Aussage ist meistens ja auch noch gar keine Meinung. Das Nachplappern von irgendwo Gehörtem reicht dafür schon.

  3. Schwulenwitze funktionieren genauso gut, wie diejenigen wo ein Pole ein Fahrrad klaut. Sowas mag vor einem halben Jahrhundert vielleicht witzig gewesen sein. Die meisten haben das ja zum Glück auch verstanden.

    1. Wenn Witze aus Boshaftigkeit entstehen, dann gibt es da nicht viel zu lachen. Trotzdem denke ich oft, dass wir es ein wenig verlernt haben miteinander zu lachen.

  4. Oh diese Definition gefällt mir sehr: Minderheit ist nicht gleich Minderwertigkeit! Knapp, aber auf den Punkt.

  5. Hahaha, diese Dialoge amüsieren mich wirklich. Die sind zwar für die Geschichte artifiziell oder eben theatralisch geschrieben, aber trotzdem bringen die für mich die Essenz solcher Small Talks genau auf den Punkt.

      1. Und noch viel ernüchternder! Ich würde solche Unterhaltungen gar nicht revue passieren lassen. Nicht mal unbedingt meinen eigenen Beitrag zu solchen Gesprächen 🙈

  6. Der Normalschwule ist ja vor allem genau das: normal. Sämtliche Extreme sind natürlich ebenfalls möglich, werden mitunter erwünscht oder zumindest toleriert. Aber die oben genannte Schablone gibt es jedenfalls wirklich nicht. Und oft stechen die „Normalen“ eben nicht aus der Masse heraus.

    1. Aber was genau ist denn nun „normal“? Unauffällig und langweilig? Oder gibt es da noch andere typische Eigenschaften?

  7. Meine Opernkenntnisse halten sich ehrlich gesagt in Grenzen. Ich komme aber trotzdem recht gut zurecht 😉 Allerdings muss man heutzutage schon eine ordentliche Portion ‚wokeness‘ mitbringen, sonst ist man auch schnell unten durch.

      1. Gerade die LGBTQ+ Community ist allerdings sehr progressiv und woke. Da stößt man schon schnell an, wenn man nicht genügend Vorwissen über Gendertheorien mitbringt.

  8. Haha treffender Einstieg! Da merkt ja so mancher Gutmensch nicht, dass seine Taten bei den Mitmenschen gar nicht immer so gut ankommen. Dabei wäre doch die naheliegendste Art und Weise gut durchs Leben zu kommen, darauf zu achten wie man mit anderen umgeht.

      1. Das wusste Kinski schon genauso gut wie heute Trump. Bei vielen wird dadurch leider trotzdem kein Nachdenken ausgelöst. Das merkt man gerade auch wieder bzgl. der „alles dichtmachen“ Diskussion. Da wird jetzt wochenlang eine platte Aktion noch viel platter ausdiskutiert.

      2. Dass das immer noch in den Medien ist wundert mich auch. Daran merkt man wohl, dass wir alle momentan sonst ziemlich wenig zu tun und zu erleben haben.

      3. Dass sich Schauspierer, denen man eigenes Denken zutraut, so ungekonnt in Szene setzen, hat mich erstaunt. Aber ein gutes Drehbuch ist halt besser als dilettantisch improvisiert.

  9. Die Apokalypse kommt so schnell nicht. Selbst wenn die Konservativen noch so lange regieren. Aber so richtig verstehe ich die Einstellung doch nicht. Konservativ kommt halt von konservieren, progressiv von fortschreitend. Warum man Konservierung statt Fortschritt will, nu ja…

    1. Wenn man in die verkehrte Richtung fortschreitet, ist das schlechter als etwas Gutes zu bewahren. Ein Jugendstilhaus zu renorieren, erscheint uns schöner, als es abzureißen und einen Plattenbau an die leere Stelle zu setzen.

      1. Da ist sicherlich etwas dran. Aber impliziert Fortschritt nicht auch, dass etwas zumindest subjektiv besser wird als vorher? Und ist renovieren nicht schon progressiv?

  10. Beim Lesen des Kneipendialogs fällt einem ja richtig auf, dass man tatsächlich seit einem ganzen Jahr keine Neubegegnung mehr hatte. Jedenfalls geht mir das so. Schon schräge Zeiten, in denen wir leben.

      1. Oder so. Und dann auch gleichermaßen ereignisreich wie unereignisreich.

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