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Tänzer außer der Reihe

Dialog 13: Im Beichtstuhl

VON GANZEM HERZEN

(Der Priester: P; der Gläubige: G)

G: Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen. Meine letzte Beichte war vor vier Monaten. In Demut und Reue bekenne ich meine Sünden: Ich habe die heilige Messe an einem Sonntag versäumt. Ich habe zweimal die Unwahrheit gesagt. Ich bin ein paar Mal unkeusch gewesen. Dies sind meine Sünden, ich bereue sie von Herzen.

P: Vier Monate sind eine lange Zeit. Warum hast du dein Gewissen nicht eher erleichtert?

G: Ich habe nicht die Zeit gefunden.

P: Du hast nicht die Zeit gefunden, Gott um Vergebung für deine Sünden zu bitten?

G: Es war – Ich werde mich bemühen, wieder häufiger zur Beichte zu kommen.

P: Ist es vielleicht, dass du dich geschämt hast vor Gott? – Willst du mir nicht antworten?

G: Ja, ich schäme mich meiner Sünden.

P: Du schämst dich, weil du weißt, dass du schuldig geworden bist. Gott will aber, dass du deine Schuld bekennst, damit er dich wieder in den Stand der Gnade setzen kann.

G: Ja.

P: Worin bestand deine Unkeuschheit?

G: Ich habe mich selbst befriedigt.

P: Gott erwartet von dir, dass du deine Triebe beherrschst. Du musst lernen, der Versuchung zu widerstehen. Wenn du alle deine Kräfte einsetzt, dann wird auch Gott dir zu Hilfe kommen. Und der Sieg über die Versuchung wird dich stark machen gegen die Sünde, für ein Leben in Gott.

G: Ja.

P: Willst du also versuchen, gegen die Versuchung anzukämpfen?

G: Ja …

P: Ich merke, dass du zögerst.

G: Es ist nicht nur, dass ich mich selbst befriedigt habe. Einmal hab’ ich auch nicht allein gesündigt.

P: Du bist bei einer Frau gewesen?

G: Nein.

P: Was dann?

G: Bei einem Mann.

P: Bei einem Mann. Darüber müssen wir sprechen. – Du bist der Letzte heute Abend, nicht wahr?

G: Ja.

P: Es wartet vorne niemand mehr auf die Beichte?

G: Nein.

P: Hast du diese … Neigung schon früher in dir gespürt?

G: Ich weiß nicht. Ich habe gehofft, dass ich sie nicht haben würde. Ich habe darum gebetet. Ich habe gebetet, dass ich mich irre. Dass es vorübergeht.

P: Kennst du diesen Mann gut?

G: Nein, eigentlich nicht. Ich ..., ich bin ihm aus dem Wege gegangen, solange ich konnte.

P: Wie alt ist er?

G: Anfang dreißig, glaub’ ich.

P: Wie oft hast du ihn gesehen?

G: Ich weiß nicht. Immer mal wieder.

P: Und ist es häufiger zu geschlechtlichen Handlungen zwischen euch gekommen?

G: Nein, nein, nur einmal.

P: Wann war das?

G: Vor vier Monaten.

P: Ist das der Grund, warum du dem Sakrament der Beichte so lange ferngeblieben bist?

G: Ja.

P: Und du siehst ihn noch?

G: Ja, immer mal wieder.

P: Du musst diese Beziehung aufgeben.

G: Ich ..., ich kann nicht.

P: Ist er gläubig?

G: Nein. Er will, dass ich mich entscheide – zwischen ihm und der Kirche. Er will das nicht mehr mitmachen. Ich halt’ es auch nicht mehr aus.

P: Du zweifelst, ob du dich für Gott entscheiden sollst?

G: Ich zweifle, ob ich es kann.

P: Du weißt doch, dass es eine Todsünde ist, wenn ein Mann mit einem Mann Geschlechtsverkehr hat. Gott hat Mann und Frau geschaffen –

G: Mit einer Frau Geschlechtsverkehr zu haben, ist doch auch Todsünde, wenn man nicht verheiratet ist.

P: Gott hat uns den Geschlechtstrieb zur Fortpflanzung gegeben, nicht zur Lust. Aber mit einem Mann zu sündigen, wiegt weitaus schwerer.

G: Das weiß ich doch. Und ich habe mir auch geschworen, dass ich es nicht wieder tun werde. Ich war mir ekelhaft, widerwärtig. ‚Nie wieder‘, habe ich gedacht, ‚nie wieder!‘ Ich bin von ihm davongerannt. Mein einziger Trost war, wie deutlich ich erkannte, dass es falsch gewesen war, dass es schlecht war. Ich habe es bereut und Gott um Vergebung gebeten. Ich schämte mich so! Aber trotzdem war ich erleichtert, denn ich war geheilt. Und ich dankte Gott, dass er diesen Drang von mir genommen hatte. Aber dann kamen die Träume, nachts – die Gedanken folgten, auch am Tag. Und dann kamen die Wünsche zurück. Ich erkannte sie wieder. Ich habe mich gewehrt, aber sie waren wie vertraute Gesichter, abstoßend, ja, aber doch auch unwiderstehlich. Ich habe versucht, sie hinwegzuleugnen, aber sie kamen wieder, immer wieder, und alle die Gefühle, die ich vorher unbestimmt hatte lassen können, sie wurden plötzlich so klar, so überdeutlich. Seit es ihn gab, ließen sie sich nicht mehr zurückdrängen in unfassbare Tiefen. Da war ja jemand, an dem alle Träume und alle Wünsche erlebbar wären. Plötzlich ließen sich Regungen, die mich erschreckt hatten, mit Namen nennen, und die Namen klangen nach Zärtlichkeit, nach Glück, einem rauschhaften, verbotenen Glück, dessen Abwesenheit nur Leere bedeutet. Es gibt ihn in meinem Leben. Er ist da. Und nichts kann mehr sein wie vorher, selbst dann nicht, wenn ich verzichte. Er sieht, wie ich leide, ich sehe, er leidet auch, und es macht mich ungerecht und bitter gegen alle, dass ich ihn nicht haben darf. Das kann Gott doch nicht wollen.

P: Gott kennt dich genau. Er kennt deinen Seelenkampf. Er weiß um deine Qualen, und er wird dir helfen. Gott schickt uns Prüfungen, aber er gibt uns auch die Kraft, sie zu bestehen. Und wenn wir sie bestanden haben, dann leben wir in größerer Gnade und freudiger als zuvor. Ich spreche nicht nur so zu dir, weil ich Gottes Wort glaube, sondern weil ich Gottes Hilfe selbst erfahren habe im Kampf gegen das Böse.

G: Ich komme mir so schlecht vor, so krank und unrein – aber auch so schwach.

P: Du bist nicht schwach.

G: Er ist da. Gott ist so fern.

P: Gott ist dir näher als jeder Mensch. Was hättest du davon, diesem Trieb nachzugeben und Gott zu verlieren? Du wärst noch viel verzweifelter. Der Mann kann dich verlassen, vielleicht schon bald. Gott verlässt dich nie. Doch wer hilft dir, wenn du dich von Gott losgesagt hast? Worauf kannst du bauen? Was wird dann aus deinem Leben hier auf dieser Welt und vor allem: Was wird dann aus deinem späteren Leben? Du weißt, was mit denen geschieht, die sich gegen Gott entscheiden.

G: Ja, ich weiß es. Darum kämpfe ich an gegen diesen Trieb.

P: Wissen deine Eltern von deiner Beziehung?

G: Nein. Niemand weiß etwas davon.

P: Du bist dir also sehr wohl bewusst, dass nicht nur Gott diese Beziehung missbilligt, sondern auch die Menschen. Sie können sehr hart sein. Sie haben nicht so viel Erbarmen wie Gott.

G: Meine Eltern haben sowieso kein Verständnis, für nichts.

P: So darfst du nicht –

G: Er versteht alles. Manchmal begreife ich nicht, warum es Sünde sein soll. Und dann wieder wird mir übel vor meinen Gefühlen und mich packt Grauen vor dem, was in mir steckt. Etwas in mir ist faul, ich spüre, dass es in mir weiterfault, dass es an die Oberfläche drängt, und ich habe Angst, dass es austritt durch die Haut. Als Eiter, als Gestank, dass die Menschen es sehen und riechen und mich verstoßen – wie die Aussätzigen in der Bibel.

P: Du hast Angst vor den Menschen, weil du sie siehst. Noch mehr solltest du Gott und sein Urteil fürchten.

G: Aber ich kann doch nicht nur in Angst leben: vor Gott und vor den Menschen und vor ihm – Wie lange er noch Geduld mit mir hat?

P: Du meinst, bis du dich ihm hingibst.

G: Das sind alles so schreckliche Ausdrücke. Manchmal denke ich, dass nur die Ausdrücke es schmutzig machen. Wenn wir uns berühren, dann ist das wie ein warmer Schauer, aber nichts kommt mir klebrig vor. – Und wenn ich dann denke: ‚Gleichgeschlechtliche Unzucht‘, dann bin ich abgestoßen, von den Worten bin ich abgestoßen, aber ich weiß nicht, ob diese Worte wirklich etwas zu tun haben mit der Berührung, die ich fühle.

P: Wo hast du diesen Mann kennengelernt?

G: Er war plötzlich da. Und seither begegne ich ihm überall. Wenn ich es nicht mehr aushalte, dann ist er bei mir. Manchmal versuche ich auch, ihm aus dem Weg zu gehen, aber wenn ich ihn verliere, dann verliere ich alles.

P: Kann es nicht sein, dass es dein Widerstand ist, der ihn reizt? Wenn du deinen Widerstand aufgibst, verlierst du kurz darauf auch ihn. Dann hättest du Gott betrogen und nichts gewonnen. Stündest du dann nicht schlimmer da als jetzt?

G: Aber wenn ich ihn nun liebe?

P: Du musst aufhören, ihn zu sehen. Es vergrößert deinen Zwiespalt, wenn du ihn triffst.

G: Aber Liebe ist doch etwas Göttliches!

P: Die geistige Liebe ja, nicht die irdische.

G: Aber wenn ich die irdische aufgebe, verliere ich auch die geistige.

P: Nein, ganz sicher nicht. Ich verstehe deinen Schmerz und deine Qual. Aber ich kann dir versichern, so ist es nicht. Wenn du das Böse in dir bekämpft hast, wachsen dir neue Kräfte zu, von denen du nichts geahnt hast. Sie zeigen dir einen neuen Weg, den du mit größerer Zuversicht gehen kannst, als du dir auf dem alten Weg je zugetraut hättest.

G: Verlangt Gott denn von mir, dass ich nie mehr liebe?

P: Gott will, dass du dich für das Gute entscheidest, und er belohnt dich reichlich dafür, wenn du es tust. Die Kirche mit ihrer Jahrtausende alten Erfahrung hilft dir. Sie hat zu allen Zeiten Menschen Zuflucht gewährt, die in ebensolcher Not waren wie du jetzt. Die Gemeinschaft der Heiligen, die mit sich gerungen haben, die für Gott gekämpft haben – sie alle bitten für dich. Und die Gemeinschaft der Gläubigen steht dir zur Seite. Sie geben dir Stärke. Im Verzicht liegt auch Verheißung.

G: Aber warum ich?

P: Gott liebt die, die er prüft. Gott hat dir die Begabung verliehen, mehr zu begreifen als andere, das fordert seinen Preis. Gott hat dir Schönheit gegeben. Das erhöht die Versuchung. Vielleicht hat Gott dich auserwählt. Vielleicht will Gott, dass du sein Diener wirst, so wie ich Gottes Diener geworden bin. Glaub mir, Verzicht auf fleischliche Lüste wird tausendfach entlohnt durch das Bewusstsein, das Richtige zu tun, durch das Bewusstsein, von der Gemeinde gebraucht zu werden und in Gottes Gnade zu stehen. Was hat dein Freund dem entgegenzusetzen – selbst dann, wenn seine Gefühle aufrichtig sind?

G: Nichts. Nicht genug. Wahrscheinlich zu wenig. Aber ich will nichts versprechen, was ich nicht halten kann: Ja sagen und Nein meinen. Das ist auch eine Versuchung, ich kenne sie. Ganz genau kenne ich sie. Und ich frage mich: Ist da ein wildes Tier in mir? Wilde Tiere kommen nicht in den Himmel. Bin ich ein wildes Tier für die Kirche, über dessen Seligkeit sie sich keine Gedanken machen muss? – Oder bin ich ein Mensch, der seine Fehler machen muss, auch wenn er sie später bereuen wird?

P: Du bist gekommen, damit ich dir sage, was du hören willst, aber ich werde es dir nicht sagen. Ich biete dir die Vergebung Gottes an und die Gnade seiner Kirche, wenn du entsagst und umkehrst.

G: Ich will nicht freigesprochen werden, bevor ich sicher bin, dass ich leisten kann, was die Kirche von mir fordert. Geben Sie mir keine Absolution! Ich habe Angst, dass ich wieder sündige, wenn ich den Beichtstuhl erleichtert verlasse.

P: Du solltest dich Gottes Sakrament nicht verschließen.

G: Wenn ich aber nicht sicher bin, ob ich umkehren kann, dann bin ich Gottes Segen nicht würdig.

P: Dein Bemühen und deine Reue machen dich würdig. Und dein Wissen, dass du nicht leben kannst ohne Gott, macht dich stark. Ich werde für dich beten. Denk daran, dass ich um Kraft für dich beten werde, jeden Tag. Es gibt nur einen Weg für dich – alles andere wäre der Abgrund. Versprichst du mir, dass du mit Gottes Hilfe stark sein wirst?

G: Ja, mit Gottes Hilfe.

P: Dann werde ich dich jetzt im Namen Gottes freisprechen von deinen Sünden, wie es mein Amt ist. Und du sollst diese Gnade in Demut und Zuversicht empfangen.

G: Amen.

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VOKABELN

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Gibt es von jetzt an nicht mehr. Nach zwölf Lektionen wird erwartet, dass Sie den Wortschatz beherrschen.

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ERLÄUTERUNGEN

Es ist klar: Wenn Sie hier nicht, wie es bisher scheint, die reichlich banale Philosophie des Sich-Auslebens aufgetischt bekämen, sondern Ihnen Entsagungen gepredigt würde, dann hätten Sie es viel einfacher, diesen Lehrgang als seriös einzustufen, und sich selbst gleich mit. Enthaltsamkeit wirkt nun mal gediegen, fast religiös. Man kann sich sogar hinter ihr verstecken, wenn man sie als Ausrede benutzt, um nicht über den eigenen Schatten hinein ins Menschenleben springen zu müssen. Trotzdem ist Selbstverwirklichung durch Entsagung tatsächlich möglich, und Selbstverwirklichung ist ja ein sehr fashionables Lebensziel.
Verzicht aus Rücksicht, nicht aus Selbst-Rücksicht, ist ebenfalls denkbar und ein Opfer, das in bestimmten Situationen geleistet werden muss. Entsagung dagegen, um die eigene faule Haut keiner Gefahr auszusetzen, ist wohl gesund, aber ob solches Verhalten auch klug ist, steht erst in der Biografie – die wird aber gar nicht erst geschrieben, wenn Erlebnislosigkeit das Hauptereignis war.

Was also tun? Sich austoben oder sich bewahren? – So ein kerniger Leitsatz, etwa ‚Glaub an was und kämpf dafür!‘ war stets eine gute Maxime, allerdings nicht nur für alte Griechen und junge Grüne, sondern auch für Präsidentenmörder und Judenschlächter.
Die Umkehrung ‚Kämpf für was und glaub daran!‘ (wenn’s geht) ist zynisch, also auch nicht hilfreich.
Die Ausschmückung ‚Glaub an was Edles und kämpf dafür friedlich!‘ klingt schön und schwammig. Auf der Definition, was als ‚edel‘ und was als ‚friedlich‘ zu gelten hat, lassen sich ganze Religionen gründen.

So kompliziert ist das also? – Na ja. Die letzten, tiefsten Werte sind etwas ganz Einfaches. Kompliziert ist nur das Oberflächliche, umgekehrt allerdings die Einschätzung im Bewusstsein der Menschen. Ein etwas primitives Beispiel aus dem Bereich Amt und Würde: Von einem Computerfachmann sagt man, er sei Technokrat, nur aufs Funktionieren ausgerichtet. Aber ein Priester, der behauptet, er hätte eine Oblate, bevor sie einem am Gaumen kleben blieb, kraft seines Amtes in Christi Fleisch verwandelt, dem unterstellt man Erkenntnisse, Erspürnisse um Menschen und Himmel. Gehen wir ruhig davon aus, dass er es geschafft hat und wirklich der Leib des Herrn in unserer Mundhöhle haftet – das ist für ihn doch viel einfacher, nämlich durch ein Gebet, zu bewerkstelligen, als Computersprachen zu lernen. Trotzdem: Glauben kommt aus der Tiefe der Seele. Wissen ist angelernt, also zweitklassig. So ist das Image. Und die Wahrheit? Die kennt keiner. Aber manche denken, dass sie sie kennen oder halten es jedenfalls für geschickt, das zu behaupten.

Sich die Sehnsüchte der Menschen zunutze zu machen, ist nicht allzu schwer, wenn man genügend Einfälle hat und genügend unverschämt ist. Mit der Sehnsucht nach Glauben ist das besonders einfach, weil Opferbereitschaft als Teil dieses Glaubens gilt und deshalb vom Religionsstifter geradezu gefordert wird, dass er sie fordert, damit die Glaubensopfer ihren Opferglauben dankbar darbieten können.

Mit Verzicht lässt sich also eine Gemeinschaft gut in Schach und sogar bei Laune halten. Die hehren Motive solchen Vorgehens sollen hier auch gar nicht in Abrede gestellt werden, zumal es allseitige Genugtuung verschaffen kann: Zu der Befriedigung, den Verzicht geleistet zu haben, gesellt sich die Befriedigung, alle die zu strafen – und sei es nur mit Verachtung –, die den Verzicht nicht geleistet haben. Wer die Macht dazu hat, straft natürlich lieber mit Daumenschrauben.

Worauf soll verzichtet werden? – Praktisch eignet sich jedes Grundbedürfnis: Gegen das Essen steht das Fasten, gegen Zärtlichkeit steht Zucht, gegen Freiheitsdrang Ordnungsprinzip, gegen Sex selbstverständlich Keuschheit, gegen Schlaf (‚Müßiggang‘) Leistungsanspruch. Dass Leistung, Zucht und Ordnung bis zu einem gewissen Grade unerlässlich sind, wenn man den Fortbestand der Menschheit für ein sinnvolles Ziel hält, leuchtet ein. Auch Fasten schönt ja Geist und Körper. Die Keuschheit erscheint in diesem Zusammenhang am nutzlosesten, deshalb wird sie auch am emotionsgeladensten gefordert und darüber hinaus noch durch Tabus geschützt. Gewiss, sexuelle Betätigung bietet die Gefahr der Ansteckung mit todbringenden Krankheiten, aber sexuelles Fasten bietet die Gefahr des Aussterbens einer Sippe. Gesundheitlich-biologische Erwägungen reichen also eigentlich nicht aus, um ein Verbot sinnvoll zu machen. Es muss mehr die Angst sein, dass die Gemeinde ausufert, sich verliert und dem Vorbeter entgleitet.

Stimmt ja auch: Menschen, die nicht unterdrückt werden, verhalten sich schädlich. Sie onanieren als Jugendliche, wenn man sie nicht rechtzeitig aus dem Bett jagt, und wählen als Erwachsene die verkehrte Partei. Um solche Entgleisungen zu verhindern, hat die christliche Kirche – neben anderen Institutionen – Großes geleistet, wobei sie sich von Anfang an ins gemachte Bett jüdischer Moralvorstellungen legen konnte. O Gott, war es da hart! Das ließ sich aber noch peinigender gestalten.

Ein sportlicher Schwuler hat folgende Hürden zu überspringen:

– Keuschheit ist an sich schon ein Wert.
– Der Geschlechtsakt an sich ist schon sündig.
– Der Geschlechtsakt darf nur in der Ehe (notabene mit dem Ehepartner) zum Zwecke der Fortpflanzung vollzogen werden. Die Frucht dieses Treibens trägt die Erbschuld (durch Taufe abwaschbar).
– Homosexualität ist Sünde. Das ist nach den ersten drei Postulaten nur noch Pleonasmus.

Fest steht, dass keine Gemeinschaft ohne einen gewissen Kult auskommt und dass die Strenge ihrer Riten und die Disziplin ihrer Mitglieder häufig fürs Überleben entscheidend sind. Es soll hier auch kein Kult, kein Ritus lächerlich gemacht werden – das wäre ja wohl zu kindisch: ein paar Blütenblätter trotzig bespucken und dabei wissen, dass die unsichtbaren, unausrottbaren Wurzeln der Pflanze das Geheimnis von Leben und Unendlichkeit aus dem Boden saugen.

Verlassen wir also ehrfürchtig die große Welt, und begeben wir uns zurück in unsere kleine Halbwelt, um die Halbwahrheiten des schwulen Gegenkults zu studieren! Hoffentlich ist klar geworden, dass hier keine Pseudophilosophie der Unmoral aufgemalt werden sollte, sondern ein wenig vom strahlenden Hintergrund der Kulisse, vor dem wir zwergenhaften Schatten unser Recht auf Eigenleben abreagieren.

Was ist Kult? – Dazu sagt ‚Meyers Konversations-Lexikon‘ von 1897 – gar nichts, der ‚Duden‘ von 1957 immerhin schon ‚Pflege, Gottesdienst, Verehrung, Hingabe‘ und der ‚Brockhaus‘ von 1970: ‚siehe Kultus‘ – und dort: ‚die äußere Form der Verehrung der Heiligen, der Gottheit in Opfer und Gebet‘. Dann geht es zweispaltig weiter. Offensichtlich ist der ‚Kult‘ als Schlagwort weiterhin im Kommen – als selbstverständliche Ausübung religiöser Inhalte scheint er eher auf dem Rückzug. Hätten wir selbst kulturkritische Ambitionen, so könnten wir darüber Betrachtungen anstellen, ob die sonntägliche Waschung des eigenen Kraftfahrzeuges in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bei vielen Zeitgenossen bereits damals Gottesdienst und Weihwasser zu ersetzen begann. Doch da das Raster, mit dem wir fahnden, die Homosexuellen aussondert und nicht die Kleinbürger, wenden wir uns anderen Gewohnheiten zu. Und wenn Sie sich nach diesem Ausflug nur ungern wieder zurückbegeben auf den schwulen Boden der Realität, dann ist das nur zu verständlich: Es ist absurd, die Welt durch eine schwule Brille zu sehen.

Sie durch die katholische oder vegetarische oder ostasiatische zu sehen, auch. Dieser Kursus zeigt also nur eine von vielen absurden Möglichkeiten auf, sein Leben – mehr oder weniger unfreiwillig – zu gestalten. Kosmos ist Kosmos. Lassen Sie sich also nicht irritieren! Wer sagt Ihnen, dass eine der Massenideologien ein interessanteres Studium böte? Die müssen doch alles über einen noch gröber gezinkten Kamm scheren als Minderheitenideologien, die eine spezialisiertere Klientel zufriedenstellen wollen. Als Anreiz mag Ihnen dienen, dass Schwulenlokale zu den wenigen Versammlungsorten zählen, in denen noch auf der ganzen Welt die gleichen Riten zelebriert werden, besonders seit die katholische Kirche Latein als erdumfassende Sprache der Liturgie aufgegeben hat. Befassen wir uns also noch einmal mit diesen Kultstätten, ohne die Nase zu rümpfen! Was ist kultisch an ihnen? Die Antwort: alles. Die Blicke, die Bewegungen, die Wortversatzstücke, die Poster, die Erwartungen. Doch nutzt das nur der Theorie. Wenn es zur Praxis kommt, sind sie nämlich alle gleich, die Heteros und die Homos, die Schwärmer und die Grübler. Der Mensch, faustisch, wie er nun mal ist, möchte außer sich geraten vor Weh und Wonne und kommt dann doch beim schlechtesten Willen nicht über das kitzelnde Schamhaar am Gaumen weg. Weil das so ist, gibt es Kulte. Die Aufgabe von Kulten besteht darin, das Außer-sich-Geraten nach innen zu verlegen, also einzudämmen und doch Befriedigung, wenn auch nicht Befreiung, zu verschaffen. Die einen finden Bestätigung in der Messe, die anderen in der Masse. Die einen versetzt das Hochamt in erhabene Stimmung, die anderen kommen weniger mit der Geistlichkeit zurecht und versuchen, in der Arbeitsagentur das Passende zu finden.

Berufung oder Beruf – Messgewand oder Bauarbeiterkluft: Kultisch ausschlachten lässt sich beides, und die Neigungen der Schwulen gehen denn auch gleichermaßen in beide Richtungen. Alles strotzt dabei vor verinnerlichten Symbolen. Nicht umsonst sind gute Schwule gute Wagnerianer.

Da gibt es den profanisierten Peniskult, bei dem die Qualität ‚Mann‘ mit der Quantität ‚Schwellkörperlänge‘ gleichgesetzt wird.
Es gibt den Lederkult, bei dem die Qualität ‚Männlichkeit‘ verdinglicht wird.
In Tom of Finland hat die schwule Epoche ihren Trivial-Künstler gefunden, in den Pornoschreibern ihre Trivial-Chronisten, in den Village People ihre Trivial-Musik. Ja, damals. Inzwischen hält man sich wieder an Cocteau.

Die Symbolfigur blieb James Dean: einsam, sexy, unverstanden. Aber weibliche Sex-Stars der Vierziger- und Fünfzigerjahre sind auch nach wie vor beliebt: Der Wirklichkeit entrückt bieten sie sich an zur Identifikation (nicht etwa als obskures Objekt der Begierde). Marlene Dietrich dient immer noch als Ziel kultischer Verehrung der Älteren, Zarah Leander allmählich nicht mehr. Marilyn Monroe, bekannt aus den Siebdrucken, behauptet ihren Platz, Rita Hayworth nicht. Ein plötzlicher Selbstmord unter rätselhaften Umständen eignet sich nun mal besser zum Mythos als allmähliche Verblödung. Grausames Schicksal.

Welch andere Prominente von Leinwand und Lautsprecher schwule Fantasie beschäftigen, entnahm man vor Corona den Rosenmontagsauftritten amüsierentschlossen Herausgeputzter in den Szenelokalen: So weit das Auge reichte, Liza Minnellis, Shirley Basseys und was sonst noch überdrehtes Pathos verspricht. Abgeblätterter Ulk, mag sein. Aber heute? Da müssen die Vorbilder von gestern reichen.

Manche ziehen sich statt Flitter immer noch die abgewetzte Jeans und das karierte ‚Arbeitshemd‘ an, aber vergessen dann doch, auf drei Spritzer Eau de Toilette an Achsel- und Schamhaar zu verzichten, wodurch halt der rustikale Einschlag bei näherem Hinriechen wieder flöten ist (Das soll kein Tipp sein. Hier geht es um Grundsätzliches.)

In diesem Panoptikum kann jeder als Symbol für das stehen, was er darstellt, gleich ob Kerlin oder Tunterich. Isoldes Liebestod oder der Superfick. Anbeten und sich anbeten lassen. Vielleicht ist beides ein Vorgeschmack auf Erlösung. Vielleicht ist es das längste, was Ewigkeit dauern kann. Vielleicht ist es Quatsch.

Also wirklich kompliziert? – Ja. Weil es nicht weiterführt, Mythen, Symbole und Riten zu durchschauen: Die Sehnsucht nach Geheimnissen bleibt unstillbar. Und so gesehen hat dann die Kirche eben doch den längeren Atem als die, die fleischlicheren Leitbildern hinterherlechzen.

Man muss sich was trauen. Tu’ ich. Hier stelle ich zwei Arten von Anbetung nebeneinander, beide ganz unhymnisch im Dreivierteltakt.

Pérez Prado und Shorty Rogers: ‚Voodoo-Suite‘

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Meine Mutter brachte diese Sensation 1955 aus New York mit, und noch heute ist mir ganz klar, wie das Fremdartige, Triebhafte, Bedrohliche und Verlockende damals auf mich als Neunjährigen gewirkt hat. Der narkotisierende Dreivierteltakt und eine Ahnung von wildesten Exzessen: Hier wurde geschrien, gestampft, alles war Rausch. Eine Art Messe, die mir genauso einleuchtete wie das von mir sonntags besuchte Hochamt.

ⓒ RCA Victor, USA 1954, Komposition: Pérez Prado, Interpreten: Pérez Prado und sein Orchester, Trompete: Shorty Rogers

Giuseppe Verdi: ‚I Lombardi‘

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Der Chor erzählt Gott, wie gern er dessen Ruf, das steinige Heilige Land zu befreien, gefolgt sei. Trotzdem hört man den Kreuzfahrern an: Es ist alles ziemlich mühsam. Dann aber schwingt sich der Chor auf zu einer fast walzerartigen Erinnerung an die viel hübschere Lombardei. Die Flöte fiepst zu der verheißungsvollen Wahnvorstellung wie ein närrischer Vogel, bis sie am Ende, wenn die Realität die Beflügelung wieder lahmlegt, in ihrer tiefsten Lage abschließend ein halb mahnendes, halb beschwörendes Motiv anstimmt. Ganz früher Verdi, gewiss, aber ich liebe es.

Aus dem Album ‚Opernchöre‘, Deutsche Grammophon, ersch. 1985, 415283-2, ℗ Phonogram International B.V. (Baarn), Darbietung: Chor und Orchester der Deutschen Oper Berlin, Dirigent: Giuseppe Sinopoli

38 Kommentare zu “Dialog 13: Im Beichtstuhl

  1. Ich lache immer noch, wenn ich daran denke, dass Mr. Trump seinen kompletten Wahlkampf mit den Village People bestritten hat.

      1. Einer ihrer vielen Doppelgänger(innen) könnte zumindest trans sein. Man müsste mal fragen.

  2. Wird etwas zum Kult erklärt, also eher popkulturell gedacht, muss man immer vorsichtig sein. Meistens fällt das dann in die Rubrik „muss man nicht kennen / sehen / wissen“. Die zahlreichen Dokumentationen über verschiedene Kulte und ihre Gurus auf Netflix sind hingegen hochinteressant.

  3. Perez Prado ist mir auf den Schallplatten meiner Eltern auch noch begegnet. Allerdings etwas später als in den 50ern und eher mit Guaglione als Voodoo.

    1. ‚Cherry pink …`‘ und ‚Patricia‘ waren in meinem Elternhaus das, was bei den Eltern mancher meiner Mitschüler ‚Weißer Holunder‘ und ‚Köhlerliedel‘ waren.

  4. Die Beichte ist ja etwas aus der Mode gekommen, vielleicht wie die Religion ganz allgemein. Aber wenn jeder, der sich selbst befriedigt, gleich zum Pastor müsste um um Vergebung zu bitten, dann käme der arme Mann wohl auch zu nichts anderem mehr.

  5. ach nein! also wer regelmäßig mitliest, ist ganz bestimmt im thema angekommen. die vokabeln vermisse ich aber trotzdem.

    1. Die haben mich auch immer amüsiert. Aber es kommt ja bestimmt auch noch viel anderer witziger Content. Darauf ist doch eigentlich verlass.

      1. Die Tatsache, dass sie nur in den ersten Blogbeiträgen vorkommen erhöht auf alle Fälle die Chance, haha! 🙂

  6. Menschen, die nicht unterdrückt werden, verhalten sich schädlich. In mehr oder weniger abgeschwächter Form funktioniert unsere Gesellschaft ja tatsächlich. Ob das wirklich stimmt, haben wir immer noch nicht richtig ausprobiert.

  7. Menschen, die unterdrückt werden, verhalten sich natürlich auch schädlich. Schön wäre es, in der Charakter- und in der Öko-Bilanz mehr Positives als Negatives auf die Waagschale zu bringen.

    1. Laut Oscar Wilde geht es darum „das eigene Wesen völlig zur Entfaltung zu bringen“. Man kann aber sicherlich auch man selbst sein ohne alle Ziele, Wünsche, Bedürfnisse zu erfüllen.

  8. Selbst in „Schwulenlokalen“ findet man nicht überall die selben Riten. Da gibt es durchaus Orte in denen man sich sofort zuhause und dazugehörig fühlt und anderen, wo man kaum versteht was los ist.

    1. das liegt wohl an dem wohlgemeinten irrtum, dass wir menschen alle gleich sind. oder dass wir zumindest innerhalb der gleichen schublade gleich zu sein haben.

  9. Worauf soll verzichtet werden? Hmm, am besten auf alles. Jedenfalls ist das oft die Devise derjenigen, die sich die Regeln ausdenken.

      1. Nach dem Karneval kommt die Fastenzeit und dann das Osterlamm. Menschen fügen sich leichter in das, was für sie als richtig erkannt scheint, wenn Priester ihnen weismachen, ihr Gott wolle es von ihnen.

      2. Und jetzt im Mai, kommen die zahlreichen Feiertage. Das ist eines der wenigen Dinge, die ich an der Religion mag 😉

      1. Selbst quer denkt es sich am liebsten in großer unmaskierter Gemeinschaft.

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