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Tänzer außer der Reihe

Dialog 15: In der Küche

NEUE WEGE

(Ein Zahnarzt: Z; ein kaufmännischer Angestellter: A)

A: Ist das alles?

Z: Du weißt doch, abends soll man nicht mehr so viel essen.

A: Ich hab’ aber den ganzen Tag nichts Richtiges gehabt.

Z: Und warum nicht?

A: Es war so viel zu tun mit dem Jahresabschluss, darum komm’ ich auch jetzt erst.

Z: O ja, es ist schon acht. Hab’ ich gar nicht gemerkt.

A: Da freut man sich aufs Essen – und dann so’n Pamps.

Z: Du, ich bin nicht in der Stimmung, mir von dir Vorwürfe machen zu lassen – wegen nichts.

A: Schrei doch nicht gleich! Was ist denn los?

Z: Ach, Roswita, dieses Trampel, hat den Oberkieferabdruck einer Patientin fallen gelassen, und so ein widerliches Kind hat mir in den Finger gebissen.

A: Warum willst du dich dafür an mir rächen?

Z: Will ich doch gar nicht.

A: Aber was du da anrührst, das sieht aus wie Stubenarrest im Topf. Oder willst du uns beide bestrafen?

Z: Mein Gott, ich hab’ auch nicht immer Zeit, wer weiß was zu besorgen und mich stundenlang hinzustellen, um dir noch was Großartiges zu kochen. Die zwei Stunden am Mittag brauch’ ich für andere Dinge.

A: Was ist denn das überhaupt?

Z: Das ist Hirse.

A: Wer frisst denn so was?

Z: Du, wenn du nicht essen gehen willst.

A: Breichen, wie für die Greise.

Z: Wir sind doch fast wie Greise.

A: Müssen das deine Patienten nach der Behandlung essen?

Z: Hirse ist sehr gesund.

A: Auch das noch!

Z: Wir tun überhaupt nichts für unsere Gesundheit.

A: Also, ich hab’ mich körperlich ziemlich verausgabt, letzte Nacht. Und du warst auch nicht träge.

Z: Ach, du weißt genau, was ich meine. Früher sind wir wenigstens noch jeden Morgen um den Block gejoggt.

A: Das war eine Modeerscheinung.

Z: Im Fitnesscenter waren wir nur einmal zur Probe und nie wieder.

A: Weil du mir eine Szene hinterher gemacht hast.

Z: Ich hab’ dir keine Szene gemacht, ich hab’ bloß gesagt, dass es unfair von dir ist, jedes Mal hysterisch zu lachen, wenn ich an eines dieser Geräte gegangen bin. Wer kann sich denn dabei konzentrieren?

A: Gesagt hast du das? Geschrien hast du es.

Z: Ich kann es eben nicht leiden, wenn man sich öffentlich lustig macht über mich, hier ist mir das egal.

A: Es sah so komisch aus, wie du da hingst.

Z: Fang nicht schon wieder an! Außerdem bin ich nur dir zuliebe mitgegangen.

A: Wieso? Es war doch deine Idee.

Z: Aber deinetwegen.

A: Ach.

Z: Ja. Du bist vielleicht sportlicher als ich, aber du wiegst zu viel.

A: Alles Muskeln.

Z: Nicht mehr lange.

A: Was heißt das?

Z: Dass wir physisch verfallen, wenn wir nicht etwas mehr auf uns achten.

A: Verfallen! Wie das Römische Reich? Ich pass immer noch in die blaue Hose, die wir vor drei Jahren zusammen gekauft haben.

Z: Warum trägst du sie dann nie?

A: Weil sie völlig aus der Mode gekommen ist.

Z: Nein, weil du völlig aus dem Leim gegangen bist.

A: Was sagst du?

Z: Gott, was warst du drahtig, als wir uns kennengelernt haben!

A: Ich erinnere mich an die Zeit. Du hattest noch Haare damals.

Z: Kein Mensch trägt die Haare noch so lang.

A: Aber es gibt noch Menschen, die sie dicht tragen.

Z: Was willst du eigentlich?

A: Ein Steak.

Z: Man braucht nicht jeden Tag tierisches Eiweiß.

A: Und menschliches?

Z: Schwein!

A: Meinetwegen auch Schwein.

Z: Geht es dir denn nur ums Fressen?

A: Nein, im Gegenteil. Ich würde, ohne drüber zu reden, mein Steak essen – und Schluss. Dein Hirsebrei ist grässlich prätentiös.

Z: Du hättest dir ja ein Steak kaufen und in die Pfanne hauen können.

A: Während du Hirsebrei isst.

Z: Na und? Vielleicht hätt’ ich auch eins mitgegessen.

A: Ich kann Steaks nicht so braten wie du.

Z: Das ist doch ganz einfach. Man muss bloß …

A: Ich will es gar nicht wissen. Allein mach’ ich mir ja doch keins.

Z: Dann wirst du eben Hirse essen.

A: Woher hast du denn das Zeug? Aus dem Märchenbuch?

Z: Ich war im Naturkost-Laden.

A: Ach! Die Zeit hattest du?!

Z: Ich kam da grad vorbei, und ich wollte mal sehen, wie die das so aufziehen. Außerdem kriegst du Hirse inzwischen auch bei Rewe.

A: Ich ja, aber du bloß in der Dritten Welt.

Z: Man kann doch nicht einfach so weitermachen.

A: O mein Gott, jetzt werd nicht auch noch engagiert, tu mir das nicht an!

Z: Weißt du, dass 270 Millionen Menschen hungern?

A: Natürlich weiß ich das. Es geht doch ständig durch die Medien.

Z: Und?

A: Pass auf: Wenn du willst, geh’ ich ab jetzt jede Woche ins Fitnesscenter mit dir, ich versprech’ dir auch, dass ich nicht lachen werde, wenn du dich im Fahrrad verhedderst und über die Gewichte fällst, ich lauf’ sogar morgens um sieben völlig blödsinnig mit dir durch die Abgase, lass uns meinetwegen mit den alten Frauen um die Wette ins Hallenbad pinkeln – aber bitte, bitte, fang nicht an, ein Gewissen zu bekommen, das steht dir einfach nicht!

Z: Es beschäftigt mich wirklich.

A: Willst du im Ernst zur Rotkreuzschwester transvestieren?

Z: Irgendwas muss man doch tun.

A: Findest du das ein besonders gutes Argument, um die Welt zu erobern?

Z: Ich will die Welt nicht erobern. Ich führ’ doch keinen Krieg.

A: Nein, aber vielleicht willst du sie plötzlich verbessern, aus Langeweile.

Z: Oder aus Einsicht. Traust du mir das nicht zu?

A: Ich trau’ dir jede Einsicht zu: vor allem in die Münder deiner Patienten, aber warum müssen wir deshalb den Eingeborenen ihre Hirse wegessen?

Z: Sieh mal, wir haben keine Nachkommen.

A: Bist du schwanger?

Z: Wir können unsere Wünsche und Hoffnungen nicht übertragen. Alles muss hier und jetzt passieren. Wir sind das Ende, die letzte Generation unserer Familien. Das schafft Druck. Aber es ist auch eine Chance. Immer noch gelten wir vielen als unnatürlich, aber wir könnten spontaner und natürlicher reagieren als die Heteros, die in ihr Rollenschema eingezwängt sind.

A: Was ist bloß los mit dir? Da hat dir wahrscheinlich jemand ein Flugblatt in die Hand gedrückt, als du die Straße langgetrippelt bist, und schon fängst du an, dich auf progressiv zu schminken.

Z: Ist das alles wirklich so lächerlich?

A: Ja.

Z: Bin ich schuld daran, dass du so geworden bist, wie du bist?

A: Was soll das?

Z: Ich weiß noch genau, was für ein Gefühl ich hatte, als du mich auf diese Demonstration damals mitgeschleppt hast. Du hast gemerkt, dass ich da völlig verkehrt war, aber ich wollte es nicht zugeben, und ich hab’ gesagt: ‚Das ist doch kein Weg, durch die Straßen zu laufen mit Leuten, mit denen einen nichts weiter verbindet als der Ärger über irgendwas. Transparente sind keine Argumente‘, hab ich gesagt. Vielleicht war nur mein Ärger nicht groß genug. Na ja, ich hab’ eben immer alles gekriegt, ohne dass ich wütend werden musste. Sogar dich. Aber anstrengend war es. Anstrengend war es immer. – Ich kam mir so blöd vor, wenn ich beim Bowling keinen Kegel traf und wenn ich beim Segeln allen im Weg stand. Und wenn du mich dann so angeguckt hast, liebevoll, aber auch mitleidig, dann kam ich mir noch blöder vor. Ich frag’ mich wirklich, warum du das alles aufgegeben hast und nicht mich.

A: Du kannst es dir leisten, dich als Trottel hinzustellen. Du weißt ja, dass du viel geschickter bist als ich und viel erfolgreicher. Alle wissen es.

Z: Ich glaube, du hast es sogar gern aufgegeben. Seither kannst du uns beide bemitleiden, und du bleibst dabei immer noch der Stärkere.

A: Ach, hör auf!

Z: Ja, ich habe ein Gewissen, und zwar ein schlechtes. Ich habe ein schlechtes Gewissen dir gegenüber und mir gegenüber und allen gegenüber. Aber man kann damit leben. Stell dir vor, ich habe sogar ein schlechtes Gewissen, wenn ich einmal alle zwei Jahre mit einem andern Mann schlafe. Trotzdem macht es mir natürlich Spaß.

A: Wir können doch nicht dauernd ein schlechtes Gewissen haben, weil es uns gut geht. Wenn’s uns schlecht geht, geht’s uns sowieso schlecht, und wenn’s uns gut geht, geht es uns auch schlecht, weil wir darunter leiden, dass es uns nicht schlechter geht. Als wir nach Bangkok geflogen sind, haben wir noch über dem hungernden Indien hoch in den Wolken Lachs gefressen. Na und? Was sollten wir sonst tun? Runterspringen? Es geht uns gut, ja. Mein Gott!

Z: Wieso geht es uns gut? Nur weil wir nicht arm und krank sind? Geht es uns deshalb schon gut?

A: Ja, es geht uns gut, ganz egal, wie du dich dabei fühlst.

Z: Das ist Verschwendung. Bevorzugt sein und es nicht genießen können, das ist Verschwendung.

A: Stört dich das so sehr?

Z: Vielleicht sind wir auserwählt. Aber zu was? Ich möchte so gern neue Wege gehen.

A: Früher wolltest du bloß etwas Besonderes sein, jetzt willst du auch noch gut sein. Du wirst immer anspruchsvoller.

Z: War noch viel Verkehr?

A: Willst du das Gespräch abbrechen?

Z: Ich hatte einen Stau auf der Liebknecht-Straße. Da war entweder ein Unfall oder eine Kundgebung. Aber als ich hinkam, gab’s nichts mehr zu sehen, bloß noch ein Verkehrschaos.

A: Sieh mal, du machst doch aus allem was Besonderes, selbst aus der Art, wie du ein Ei aufschlägst. Du hast das Talent, alles deinen Stimmungen zu unterwerfen, vor allem natürlich mich. Dabei bist du selbst nie launisch. Du drückst dich eben anders aus: durch das, was du dir vornimmst, was du anziehst, was du kochst.

Z: Siehst du, und deshalb gibt es heut’ Hirse.

A: Wie schmeckt denn das Zeug eigentlich?

Z: Widerlich. Dabei hab’ ich Butter und Sahne drangetan. Ich wollt’ es einfach mal ausprobieren.

A: Also komm, wir gehen ins Steakhouse!

Z: Na schön. Aber ich lad’ dich ein.

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ERLÄUTERUNGEN

Fünfzehn von dreißig Lektionen liegen jetzt hinter Ihnen. Wenn man sich bis zur Mitte durchgearbeitet hat, findet man manchmal, dass sich die ganze Angelegenheit nicht gelohnt hat – das gilt beim Lernen genauso wie beim Sex. ‚Spiel und Sport‘, das klingt besonders banal, obwohl oder weil es neben Arbeiten und Schlafen die Hauptbeschäftigung der meisten Menschen ist.

Zugegeben: Unser Thema ist nicht das Wichtigste auf der Welt, und sofort, wenn Sie mit diesem Kurs durch sind, werden Sie sich natürlich wieder der Abrüstung und dem Umweltschutz oder – pessimistischer – dem Leben nach dem Tode zuwenden. Ab morgen werden Sie sich wieder für die ausgebeuteten Völker der Dritten Welt einsetzen, aber verachten Sie sich nicht, weil Sie sich heute mal mit Menschen beschäftigen, die weniger weit weg sind, selbst wenn sie Ihnen weniger liegen sollten. Verständnis macht freundlich, auch sich selbst gegenüber, und gerade Freundlichkeit schändet nicht. Wer sich dagegen selber schlecht behandelt, ist meistens noch viel scheußlicher zu anderen. Viele Menschen leiten sogar eine Rechtfertigung, andere schlecht zu behandeln, daraus ab, dass sie sich selbst nicht leiden können und sich deshalb nichts gönnen. Das geschieht nach dem Grundsatz: Woran man Spaß hat, das kann doch nichts taugen. Diese Hetero-Maxime hat eine große Anzahl von Schwulen bis zum Selbsthass verinnerlicht. Wenn Sie sich aber zum Beispiel von der Bedeutungslosigkeit unseres Themas deprimieren lassen, dann ist das genauso, als ob Sie während eines Französisch-Kurses dauernd nur an die Milliarde Menschen denken, die nichts als Chinesisch sprechen. Denken Sie lieber ans Wetter, das ist noch banaler und wird noch häufiger diskutiert als die Homosexualität. Wichtig ist das, womit Sie sich beschäftigen. Und wenn Ihnen die Blockflötensonate, die sie gerade beim Hauskonzert vortragen, nicht wichtig ist, dann wird man das Ihrem Spiel anhören. Einsatz lohnt immer, ob als Triangel oder als erste Geige. Na ja, die erste Geige ist natürlich aufregender – wenn man sie beherrscht.

Im Thema ‚Kultur‘ sind Schwule, wie wir gelernt haben, beschlagen. Im Thema ‚Sport‘ reagieren sie eher bekloppt. Meist sind sie die 0,5 Prozent Einschaltquote der Festspielübertragung aus Darmstadt, wenn im anderen Programm ein Qualifikationsspiel zum UEFA-Pokal übertragen wird. Concordia ist für sie die Göttin der Eintracht und Olympia die Puppe aus Hoffmanns Erzählungen. Als Schlachtenbummler trifft man sie allenfalls in der Arena di Verona, wenn ‚Aida‘ auf dem Programm steht. Die Verachtung zwischen Sport-Fans und Männer-Fans ist so ungeheuer, wie das unter Besessenen, die unterschiedliche Wertvorstellungen haben, üblich ist.

Dabei sind Schwule gar nicht in allem anders als Heteros, nur im Wesentlichen.
Jemand kann gleichermaßen Golfspieler und Whisky-Trinker sein. Schwule sind erst mal schwul und dann erst alles Weitere. Es gibt keine schwulen Briefträger, sondern nur Briefe austragende Schwule. Zwar gibt es Schwule jüdischer Abstammung, aber nie hat eine jiddische Mamme ein schwules Junges zur Welt gebracht. Das hat also nicht so viel mit der Triebstärke zu tun wie mit der Umwelt. Dass jemand anders ist, das geht ja noch, aber dass jemand anders fühlt – nein, das stößt ab, und das stößt aus.

Um diese Abneigung ertragen zu können, müssen Schwule einen süßen Trotz entwickeln, der sie daran hindert, die unerreichbare, gleichmacherische Gleichgültigkeit der anderen allzu heftig zu wollen, weil sonst ja ihr Außenseitertum zur Selbstverständlichkeit degradiert würde: bloß noch Briefträger, egal, ob schlank oder schnell oder schwul.

Da Schwule befürchten, dass Erwachsenwerden alt macht, bleiben sie lieber ihr eigener Nachwuchs und verspielt. Das bringt einen Mangel an Ernsthaftigkeit und ein Plus an Fantasie mit sich: spielerisch im Denken und Leben und in der Art, das Leben hinzuwerfen.

Dass der schwule Lieblingssport Häkeln sei, gilt nicht mehr, seit alternative Heteros das auch tun. Verlass ist sowieso auf wenig, wenn man Menschen aus ihren Schubladen rauslässt. Bestimmt gibt es schwule Schach- und Handballspieler, schwule Hürden- und Amokläufer, nur vermutet man eben – ganz zu Unrecht – Schwule mehr am Teetisch als am Billardtisch.

Schwule sind nicht sportlich, um einen Gegner im Wettkampf zu bezwingen, sondern um ihren Körper zur Raison zu bringen – aus zwei Gründen: erstens, damit ihr Körper attraktiver wird für weitere sexuelle Begegnungen, zweitens, damit ihr Körper sich weitere sexuelle Begegnungen ersparen kann – die Lust durch die Rippen geschwitzt. Das permanent schlechte Gewissen ortet die Sünde im Körper (natürlich liegt sie im Kopf) und lässt den Körper büßen, mit Sprungseil und Hanteln. Der so gestählte Körper wird Idol, Ideal, Gottesersatz, und da ja in einem gesunden Körper ein gesunder Geist haust, muss man sich keine weiteren Gedanken machen, sondern bezwingt lästige Zweifel muskelspielend.

Wie auf der Tanzfläche so ist auch auf dem Sportplatz Alleinsein schöner als Mannschaft sein. Nicht Tango und Tennis, sondern Nightclub-Solo und Solo-Dauerlauf schaffen das Wir-Gefühl mit dem Körper. – Gut so! Der Kampf Mann gegen Mann könnte – das berücksichtigen auch die Richtlinien der militärischen Grundausbildung – bei Schwulen leicht zum Liebesspiel führen, und dann wäre die Selbstverwirklichung im, na, sagen wir, Eimer.
So kann man das natürlich auch sehen. Und warum sollen Schwule sich ein eigenes Urteil über sich bilden, wenn sie die Vorurteile der anderen gegen sich ganz bequem übernehmen können?

Es ist sicher keine Übertreibung zu sagen, dass die Fitnesscenter im Wochenrhythmus von vielen Schwulen die Sexstätten abgelöst haben. Die schweißtreibende Gefühlskälte ist in beiden Einrichtungen ähnlich, und jeder ist an beiden Orten vorwiegend mit sich selbst beschäftigt, bloß dass die Männer im Fitnesscenter stolzer darauf sind. Dem Nachbarn wird höchstens neidisch auf den Bizeps und nicht begehrlich auf die Boxershorts geschaut. Der Ehrgeiz richtet sich auf Ertüchtigung, nicht auf Eroberung. Das Ergebnis, nachher auf der Straße, ist dasselbe: Man ist erschöpft und (un-)glücklich – nur hat man sich eben nicht angesteckt. – Weiß man’s? Empfindsame Homophile bringen vom Bodenturnen eine Gürtelrose mit nach Hause, da holen sich andere dann doch nach wie vor von woanders lieber was anderes.

Da es nun mal nur eine Gesundheit gibt, aber Tausende von Krankheiten, ist das Thema als Gesprächsstoff ebenso unerschöpflich wie das Wetter und das Wer-mit-wem. Schwule tuscheln über ihre Krankheiten und Liebschaften und sie brüllen von ihrer Gesundheit. Eine Zeit lang gab es ja keinen einzigen Krankheitsherd, kaum noch einen Mückenstich, der nicht auf Aids hinweisen konnte, und da die meisten Schwulen genauso sehr fürchteten, als aidskrank ins Gerede zu kommen, wie sich Heteros davor fürchten, als schwul zu gelten, deshalb erlaubte sich kaum noch ein Schwuler, fix und fertig zu sein, jeder zwang sich, fit zu scheinen, selbst dann, wenn er schon aussah wie das blühende Sterben. – Besser natürlich: wirklich fit sein. Heute ist die Aidsangst passé und hinter der Corona-Maske sehen alle gleich aus. Ob der Kerl dahinter schwul ist, interessiert in Afrika fast überall die Polizei (Todesstrafe nicht ausgeschlossen), in Ahrensburg nur die Besucher des ‚Men’s Heaven‘.

Die Fitnesscenter sind wunderbare Einrichtungen, denn dort tun Sportbegeisterte etwas Sinnvolles und belästigen ihre Mitmenschen nicht. Außerhalb der Fitnesscenter geht es schlimmer und grundsätzlicher zu, wie immer in der Diaspora. Da hat man dann nicht nur Belehrungen darüber zu ertragen, dass das Rauchen, Trinken, Essen und an die frisch verseuchte Luft zu gehen schädlich seien, weil das alles das Immunsystem schwächt – nein, man muss ja auch noch aushalten, dass diese verantwortungsbewussten Menschen keine Heuchler sind wie die konservativen Abgeordneten mit der verheimlichten Freundin, sondern, dass sie konsequent und mühelos nach diesen Maximen leben.

Altmodische Schwule, die ihre ersten Flirts schon in den Siebzigerjahren oder früher absolvierten, haben Mühe, sich in erotische Stimmung zu schaukeln, wenn ihr Gegenüber keine weiteren leiblichen Interessen signalisiert als Eisbergsalat und Mineralwasser. Aber knistern soll eben weder die Spannung noch die Zigarettenpackung, ach, eigentlich soll gar nichts knistern, und wer sich daran nicht gewöhnen mag, ist halt überholt: vom Geist der neuen Zeit, der den Körper neu definiert, um ihn zu erhalten. Außerdem: Ob man Strapse aufreizender findet oder blanke Brüste, das ist eine Frage der Gewohnheit, wenn die Richtung als solche stimmt. Und Umstellung ist machbar. Von den Corona-Mutanten in der Herrensauna zu den Kaffeetanten in der Konditorei vielleicht nicht gleich, aber sogar ein Vielficker kann wieder von einem scheuen Lächeln gerührt werden, täglich sogar. Wer aber nie wen braucht, will und kriegt, dem bleibt immer noch die Schadenfreude, denn meist geht es ja doch schief.
Die selbstbefriedigungslose Beschäftigung mit dem eigenen Körper als Befriedigung empfinden zu können, ist ein Glück, weil alles ein Glück ist, was hilft. Ob es Ersatzbefriedigung ist – was macht das schon? Vielleicht war ja der Sex der Zweitausenderjahre Ersatzbefriedigung für Liebe (viele glaubten, beides nebeneinanderher konsumieren zu müssen).

Schwule Zyniker und kirchliche Dogmatiker meinen dagegen, Liebe und Zärtlichkeit seien für Homosexuelle seit jeher nur Ersatzbefriedigung für den zwar triebhaften, aber trotzdem nicht artausrottenden Sex. Kondome oder Frauen brauchen keine Alternative zu sein.

Wen solche Gedanken nicht in die Kneipe oder in die Verzweiflung treiben, den treiben sie rund um die Aschenbahn in die keuchende Einsamkeit – oder eben in die Geselligkeit der Fitnesscenter. Das Wort ‚Geselligkeit‘ ist nur leicht übertrieben. Es ist nämlich nicht so, dass die Sportler unter den Schwulen anderen gegenüber völlig abweisend sind, sie sind bloß ihrem eigenen Ideal entsprechend ‚cool‘, und cool ist so unterschiedlich von kühl wie schwul von schwül. Trotzdem bleiben sie meist auf Distanz. Nicht dass sie den anderen misstrauen, aber sich selbst. Sie sehen in ihrem Körper einen treuen Vasallen, der wie ein Rennpferd Zielvorgaben braucht. Hat er die nicht, dann spielt er womöglich verrückt. Austoben aber soll er sich gefälligst im Liegestütz und nicht im Lotterbett, das ist gesünder für alle (Un-)Beteiligten. Die sportversessenen Schwulen sublimieren also nicht mittels Geist, sondern verdrängen mittels Leib. Sie stufen sich als ganz normale Männer ein – mit Recht, falls sie nicht schizophren sind, das sind sie allerdings meistens, denn ihr kühner Blick bedeutet: ‚Ich bin doch keiner von diesen Schwulen, ich schlafe bloß mit ihnen.‘

Die Unsportlichen gehen lieber auf die Jagd. Sie wollen einfach gesund sein, um sich verausgaben zu können.

Wenn es mehr Striptease und Kopulation auf schwulen Bühnen gäbe, vergleichbar den ‚Oh-là-làs‘ für Hetero-Herden, gäbe es dann auch mehr Kundschaft für solche Darbietungen? Vielleicht nicht. Vielleicht ließen sich Schwule doch weniger leicht vom Jagdsport abbringen als Schürzenjäger. My wishful thinking. Denn das ist Hypothese. Fest steht: Selbst unsportliche Tunten laufen kilometerweit, wenn sie eine Fährte oder einen Treffpunkt wittern. Meist war’s ja doch nichts, und dann können sie auf dem Rückweg ihre Charakterschwäche beklagen und ihre Fehler zusammenzählen. Denksport trainiert auch.

André-Heller-Medley

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Wir gehen jetzt nicht wie im Dialog ins Steakhaus, sondern zum Italiener, oder eigentlich zu André Heller, der ihn spielt. Ein Mini-Drama mit dick aufgetragener Bildung. Wer weiß heutzutage noch, was ein Äquilibrist ist? Ein weiterer Seiltanz außer der Reihe: „Und wenn ein Mann einen Mann liebt“ zu singen galt 1973 noch als halbwegs kühn. Die Zeile „Ich will, dass es alles das gibt, was es gibt“ ist unvergänglich, obwohl sicher keiner so real existierende Phänomene wie Klimakatastrophen und Kriegstote will. Aber gesungen klingt das eben so schön aufmüpfig. ‚Mein Herr‘ ist noch einen Tick ‚gewagter‘ in seiner Mischung aus Unerhörtem und Altmodischem. Vom Filou zu den schönen Madeln, die es noch geben wird, wenn es uns nicht mehr geben wird. Banal, gewiss, aber sie müssen einem halt einfallen: diese Sätze, die scheinbar auf der Gassn liegn.

Auszüge aus: ‚Der Italiener‘ (Musik: Jacques Datin) / ‚Mein Herr‘ (Musik: André Heller, Ingfried Hoffmann) aus LP ‚Abendland‘, erschienen 1976 bei Angelo, ℗ EMI Electrola GmbH, Texte und Interpret: André Heller | ‚Denn ich will‘ (für Erika Pluhar und Hubert Aratym) aus LP ‚Neue Lieder‘, erschienen 1973 bei Intercord, Musik und Arrangement: Manuel Rigoni, Richard Schönherz, Text und Interpret: André Heller | ‚Es wird a Wein sein‘ aus LP ‚A Musi! A Musi!‘, © ℗ 1974 Intercord, Text: A. Heller, J. Hornig, L. Gruber, T. Stricker, Interpret: André Heller

35 Kommentare zu “Dialog 15: In der Küche

  1. Ersatzbefriedigung, was für ein seltsamer Begriff. Wer sagt denn eigentlich, dass es zu zweit grundsätzlich befriedigender sein muss als alleine?

  2. Für ein permanent schlechtes Gewissen muss man allerdings sehr gläubig sein. Und auch da wird sich ja vielleicht mal etwas in Richtung Toleranz tun.

      1. Dass die Kirche uns einredet, dass das nötig sei, ist doch unglaublich. Selbst oder gerade wer wirklich an die Botschaft Jesus glaubt, kann das doch eigentlich nicht gutheißen.

  3. Das meiste im und am Leben ist vielleicht viel banaler als man manchmal meinen möchte. Ist das nun eine tiefe Einsicht?

    1. man muss doch letztendlich auch selbst entscheiden was man als banal und was man als bedeutend betrachtet. da nützt keine allgemein festgelegte regel.

      1. Wie bei den meisten Fragen, wird man auch den Konsenz einer Mehrheit darüber finden, was banal ist, einschließlich des Fernsehprogramms von RTL2 und Hannah Arendts Begriff der Banalität des Bösen. Aber bei den Liedtexten der Helene Fischer gibt es womöglich bereits eine Spaltung der Gesellschaft.

      2. Es soll ja auch Menschen geben, die das RTL-Dschungelcamp als großen philosophischen Kommentar sehen.

  4. Kommen Homosexuelle denn nun besser mit der Situation um das Coronavirus zurecht? Also zumindest die, die die Aidsepidemie in den 80ern miterleben mussten? Das soll gar nicht sarkastisch gefragt sein.

    1. Also was hat das eine denn mit dem anderen zu tun? Nur weil es um ein Virus geht? Die Situation momentan kann man doch überhaupt nicht vergleichen!

      1. Doch. Die Angst vor Ansteckung mit einem bösartigen Virus ist Schwulen, die in den Achtziger Jahren über 20 waren vertraut. Daraus resultierende Einschränkungen ebenfalls. Die Furcht vor Stigmatisierung kam damals hinzu. Ein Kondom greift allerdings weniger ins Leben ein als Maske.

      2. Auch die Maske ist meines Erachtens nach aushaltbar. Hinzu kommt für mich persönlich, dass ich den ersten Winter seit Jahren keine Erkältung hatte und mein leidiger Heuschnupfen auch nicht so schlimm ausfällt wie in manch anderem Jahr. Die Maske hat wohl sein Gutes.

      1. Populisten nutzen das ja leider in negativster Weise aus, aber ich finde ja grundsätzlich auch immer, dass sich Übertreibungen und radikale Aussagen sehr zum Nachdenken und zur Diskussion eignen.

  5. Auch Heterosexuelle sind nicht immer darauf aus ihre Gegner im Wettkampf zu bezwingen. Da geht es auch oft um das Sixpack. Außer vielleicht im Fussball, aber man munkelt ja, dass es dort eh mehr Schwule gibt als weithin angenommen.

    1. … um mit dem Sixpack das Gegenüber (Mensch oder Spiegel) zu beeindrucken. Beim Fussball reicht es, ein Tor zu schießen, zu verhindern oder zu halten, um homophobe Fans zu besänftigen. Hoffe ich.

    2. Teamsport vs. Intimsport. Man redet sich ja immer gerne ein, dass man sich nur für die eigene Gesundheit und das eigene Glücksgefühl fit hält. Aber wenn man nicht wenigstens ab und zu mal ein Kompliment abstauben kann, macht es doch nur halb so viel Spaß.

      1. Da ist sicher was dran, aber das Glücksgefühl nach einem erhaltenen Kompliment ist ja letztendlich auch wieder Eigennutz.

      2. Wer unempfänglich für Komplimente ist, verteilt auch keine, ist also allenfalls für radikale Weltverschlecherer zu gebrauchen …

      3. Wer weder Komplimente annehmen kann noch welche verteilen mag, der gehört wahrscheinlich zu denen, die am besten eh nicht unter die Leute gehen.

  6. Ich mag die Art und Weise wie Heller seine Geschichten erzählt. Man hört ihm sofort zu, man ist interessiert und gebannt. Ob da die ein oder andere Banalität vorkommt, macht mir dann auch nichts aus.

  7. Fitnesswahnsinniger oder Vernissagenliebhaber, solange man mit seinem Treiben nicht die Mitmenschen belästigt, also auch mich nicht, soll doch jeder fanatisch sein wo er oder sie will.

      1. Ha! Keine Stellung beziehen, ist eine klare Entscheidung und ein ebenso klares Statement für den Status Quo. Man muss wohl nur entscheiden welche Kämpfe man wirklich kämpfen will. Man kann sich ja nicht in jedem gesellschaftlichen oder politischen Thema engagieren.

      2. Es gibt Themen, die sind zu wichtig um keine Meinung zu haben. Bei vielem anderen ist es Geschmack- bzw. Prioritätensache.

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