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0705
Tänzer außer der Reihe

Dialog 16: Im Büro

VOR DIE HUNDE

(Der Vorstandsvorsitzende: V; der Buchhalter: B)

V: Oh, guten Abend! – Ich dachte, ich sei der Letzte. Ich wollte nur das Licht ausmachen.

B: Nein, ich bin der Letzte.

V: Ich sah das Licht von oben, von meinem Fenster aus, aber ich hab’ nicht gesehen, dass noch jemand da ist.

B: Ich bin noch da.

V: Ja, jetzt seh’ ich das auch. Was – was machst du denn noch?

B: Ich strenge mich an. Denn wenn ich mich nicht anstrenge, flieg’ ich. Ich bin ‚zur besonderen Verfügung‘. Weißt du das gar nicht?

V: Nein, das – das hab’ ich nicht gewusst.

B: Na ja, du kannst ja nicht alles wissen. Aber du erinnerst dich vielleicht noch, dass du rationalisiert hast in der Buchhaltung.

V: Das Gutachten des Wirtschaftsprüfers hat eindeutig ergeben –

B: Das ist völlig in Ordnung. Auch, dass es mich getroffen hat. Ich hatte kaum was zu tun, und ich hab’ mir das wohl anmerken lassen. Aus Dummheit oder aus Stolz.

V: Und wie geht es dir sonst?

B: ‚Sonst‘? Was heißt ‚sonst‘? ‚Zur besonderen Verfügung‘, das ist im Beruf das Stadium, in dem bei Krebs Chemotherapie gemacht wird.

V: Jetzt übertreibst du.

B: Ja, vielleicht.

V: Was würde dir denn gefallen, ich meine, was glaubst du, dass du tun könntest?

B: Ist doch völlig egal. Du weißt ja, ich bin ein Besessener, und hier muss ich jeden Tag mit einem Job schlafen, auf den ich nicht geil bin. Besessene passen nicht ins Berufsleben.

V: Sie passen überhaupt schlecht ins Leben.

B: Du kannst es noch allgemeiner sehen: Jeder passt schlecht ins Leben, darum stirbt ja wohl auch jeder.

V: Du hast mich um eine Arbeit gebeten. Du hast gesagt, egal, was. Ich hab’ gesehen, dass du Hilfe brauchtest, und ich hab’ dir geholfen. Aber ich hab’ immer wieder gehört, dass es nicht einfach war mit dir.

B: Es wird schön für dich sein, wenn du mich mit Anstand wieder los bist.

V: Ach, komm!

B: Nein, nein, ich seh’ deine Situation ganz genau. Jeder Mensch hier weiß, dass ich schwul bin. Wieso bringst du mich in die Firma, wieso duzen wir uns? Das bringt Gerede. Aber ich hab’ dir angeboten, wir sollen wieder ‚Sie‘ sagen.

V: So kleinkariert bin ich nicht geworden.

B: Nein. Lieber vermeidest du jeden Kontakt. Dann kann es auch nicht zu Intimitäten kommen.

V: Also, wenn wir schon drüber sprechen, du hättest mit deiner Veranlagung ja auch nicht hausieren gehen müssen. So was schafft Unruhe.

B: Hätt’ ich es abstreiten sollen, das, was du jetzt mit spitzen Fingern als ‚deine Veranlagung‘ bezeichnest?

V: Was heißt ‚abstreiten‘!

B: So wie du es abstreitest.

V: Ich hab’ es abgestreift!

B: Wie einen Fummel? Und stattdessen hast du dir Frau und Kind und Heim und Herd angezogen?

V: Ich glaube nicht, dass du mir etwas vorwerfen kannst. Ich habe dir eine Stellung verschafft, in der du dich hättest bewähren können.

B: ‚Bewähren‘! Wie auf Bewährung, so kam’s mir auch vor. Und dabei bin ich nie das Gefühl losgeworden, du hattest Angst, ich könnte dich erpressen.

V: Womit?

B: Mit deiner Vergangenheit. Mit unserer Vergangenheit.

V: So was spielt doch heute keine Rolle mehr.

B: Es sei denn, jemand geht damit hausieren.

V: Was willst du? Geld?

B: Natürlich will ich Geld. Immer. Aber nicht von dir. Nicht ich bin zu dir gekommen, sondern du zu mir, wenn auch nur aus Versehen. Weil das Licht noch brennt. Und ich bin froh, dass ich mir wenigstens die Freiheit bewahrt habe, Menschen nicht unterstellen zu müssen, dass sie mich erpressen wollen, nur weil ich mich erpressbar fühle.

V: Welche Freiheit hast du denn? Du zitterst um deinen Job.

B: Du nicht?

V: Nein. Und wenn du mir jetzt doch drohen willst, dann kann ich nur sagen: Ich habe etwas aufgebaut, das bleibt. Ich habe etwas geleistet.

B: Ich auch. Ich habe gelebt.

V: Denkst du, ich habe nicht gelebt? Du hast dich ausgetobt, und als du Schiffbruch erlitten hattest, mit allem, da bist du zu mir gekommen. Vorher nicht. Vorher hast du mich doch verachtet.

B: Ich habe dich nicht verachtet, ich habe dich bedauert.

V: Das war überflüssig. Ich habe mir etwas geschaffen.

B: Du hast gegen dich angelebt.

V: Überhaupt nicht. Ich habe mich entwickelt.

B: Du hast dich unterdrückt.

V: Ich habe mich in den Griff bekommen.

B: Und ist das ein schönes Gefühl? Ich habe das nämlich nie geschafft. Wie heißt es: ‚Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.‘ – Ich habe alles gewagt und nichts gewonnen.

V: Du hast gar nichts gewagt, du hast dich nur aufs Spiel gesetzt.

B: Ist das kein Wagnis? Du setzt mit deinen Unternehmungen doch auch etwas aufs Spiel, zum Beispiel die Arbeitsplätze deiner Mitarbeiter.

V: Du meinst das Marokko-Geschäft.

B: Genau.

V: Das war kalkuliertes Risiko.

B: Das ist mein Leben auch.

V: Ich will nicht untergehen.

B: So wie ich, meinst du.

V: Ich will nicht untergehen und ich brauche dazu auch meinen ganzen Mut, einen anderen Mut als deinen natürlich.

B: Den Mut, in einem stagnierenden Markt deiner Konkurrenz Marktanteile wegzuschnappen, um selbst zu wachsen. Um jeden Preis.

V: Pflanzen müssen wachsen, Unternehmen müssen wachsen. Das ist überlebenswichtig, und wahrscheinlich ist es gut, dass es so ist. Ich trage da Verantwortung nicht nur für mich, sondern für Hunderte von Menschen, das weiß ich, und so handle ich.

B: Ja, so handelst du. Ich tauge nichts mehr für die Weltgeschichte. Das ist was für Cäsar, Napoleon, Churchill und dich. Großes erreichen werd’ ich nicht mehr, aber ein bisschen Spaß haben, das möcht’ ich noch. Ich möcht’ noch ein bisschen was fühlen und lernen.

V: Denkst du, ich nicht? Ich fühle und lerne täglich Neues.

B: Ich möchte mal wogende Kornfelder sehen und dazu Bäume im Schnee.

V: Das ist Quatsch.

B: Das Außerordentliche ist immer Quatsch für die, die das Ordentliche wollen.

V: Ich will auch das Außerordentliche, aber mich regt das Machbare auf, nicht das Verstiegene.

B: Das ist ein guter Satz. Mich regt immer das Unmögliche auf. Die Suche nach dem Unmöglichen hat mich nach San Francisco und nach Indien und in die Anstalt gebracht. – Irgendwie auch ’ne Karriere. Du warst sicher schon im ‚Hyatt San Francisco‘ und im ‚Hilton Neu-Delhi‘. Nur das Sanatorium steht dir noch bevor. – Ist das nicht komisch? Wir haben immer gesagt: Weiter kommt man nur durch das, was man erlebt, nicht durch das, wovon man verschont bleibt – und dann haben wir beide viel erlebt, so unterschiedlich es war, und wir sind nicht mal voneinander verschont geblieben, so unterschiedlich wir waren.

V: Das bringt doch nichts.

B: Das Machbare regt dich auf … Es stimmt, wenn du jemandem gefielst, dann wurdest du automatisch scharf auf ihn. Ich denke mir, so was ist toll für die Karriere.

V: Ich habe die Vergangenheit begraben. Leicht war es nicht. Ich glaube, ich habe ein Recht auf die Gegenwart.

B: Ich habe ein Recht auf Arbeit.

V: Du hast es jahrelang ausgeschlagen, Jahre, in denen ich gekämpft habe.

B: Vielleicht verschaffst du mir ja ein Recht darauf, nicht arbeiten zu müssen.

V: Willst du mich dafür bestraft sehen, dass ich den richtigen Weg gegangen bin?

B: Nein, ich möchte dich dafür bestraft sehen, dass du mich verlassen hast.

V: Nach zwanzig Jahren?

B: Achtzehn Jahre.

V: Also gut, achtzehn.

B: Ich will nicht Strafe. Ich will Rache.

V: Vernichten kannst du mich nicht. Aber du kannst mir Unannehmlichkeiten machen, wenn dir daran liegt.

B: Ich weiß, aber ich werde es nicht tun. Soll ich vielleicht deine Frau anrufen und sie fragen, ob du immer noch so gut im Bett bist wie früher? Nein, ich will deine Erinnerung an mich nicht noch mehr beschmutzen.

V: Hast du so gelitten?

B: Ja. Es war wie Verrat, dieser ‚richtige Weg‘, den du gegangen bist. Es fällt mir schwer, nicht zu wollen, dass du unglücklich bist und einsiehst, dass er falsch war, dein richtiger Weg.

V: War dein Weg nicht falsch?

B: Nicht falscher als deiner. Richtig war nur der Weg, den wir zusammen gegangen sind. Es war die einzige Strecke, auf der ich keine Zweifel hatte.

V: Aber es war doch von Anfang an klar, dass es nichts für die Dauer sein konnte.

B: Jaja, wenn ich nachgedacht hätte. Aber das hab’ ich nicht getan. Du hast dein Leben mit meiner Ausgefallenheit geschmückt und ich meins mit deiner Besonderheit. Und dann haben wir zusammen vor dem Spiegel gestanden und gelacht über die Verkleidung, in der wir uns sahen. Plötzlich konnte ich mich durchsetzen, und plötzlich konntest du leichtsinnig sein.

V: Das war ich doch jetzt wieder, mit dem Marokko-Geschäft …

B: Aber nicht so wie damals, als du zwei Semester lang deine Betriebswirtschaft aufgegeben hast, um mich zu studieren.

V: Wenn ich dich nicht um die Trennung gebeten hätte, wärst du mir davongelaufen. Lange hätte es nicht mehr gedauert. Du hättest meine Art zu leben nicht ertragen.

B: Du hättest mich auch schrecklich schlecht dabei gebrauchen können.

V: Ich hatte mich eben verändert, als ich zurückkam aus New York.

B: Das war natürlich sehr geschickt gewesen von deinem Vater. Wenn du schon nicht die Theorie lerntest an der Uni, dann wenigstens die Praxis in den USA.

V: Du hast mir damals sogar zugeredet, nach Amerika zu gehen.

B: Sollte ich sagen: ‚Bleib hier!‘? Das durfte ich nicht. Ich hab’ nur gesagt, ich komm’ dich bald besuchen.

V: Aber du bist nie gekommen.

B: Erst kriegte ich das Geld nicht zusammen, nachher wolltest du mich nicht mehr haben, und da bin ich dann überall rumgefahren, überall, nur nicht nach New York.

V: Ich hätte in New York vor die Hunde gehen können.

B: Du?

V: Ja, ich.

B: Wie denn?

V: Komm, lass das jetzt! Letzten Endes hab’ ich das Vertrauen, das mein Vater in mich gesetzt hat, nicht enttäuscht.

B: Ich schließe daraus, du bist noch mal voll auf deine Kosten gekommen, bevor du den ‚Hahn‘ abgedreht hast.

V: Ich hab’ eingesehen, dass es nicht mein Weg war.

B: Kikeriki.

V: So, ich glaube, ich werde jetzt …

B: Es muss schlimm für dich gewesen sein: Plötzlich tauchte ich wieder auf aus der Vergangenheit. Ich wusste mir keinen Rat damals oder ich dachte wenigstens, dass ich mir keinen anderen Rat wusste, als ich dein Bild in der Zeitung sah. Normalerweise überflieg’ ich den Wirtschaftsteil bloß, aber dein Foto … Es war so ein merkwürdiges Gefühl. Ich war stolz, dass ich es über mich brachte, zu dir zu kommen. Mein Selbstvertrauen gab ich beim Empfang ab. Der Fahrstuhl stieg immer höher, und mein Herz sank immer tiefer. Von Stockwerk zu Stockwerk fühlte ich mich nackter. Vielleicht war mein Leben reich gewesen, aber mit diesem Gang leistete ich mir den Offenbarungseid. Ich musste bekennen: Jetzt ist mein Leben arm, nicht nur ich – mein Leben. Wahrscheinlich hast du mich nur deshalb gleich vorgelassen, weil du fürchtetest, dass ich sonst zu dir nach Hause kommen würde. Aber das hätt’ ich nie getan. Ich weiß nicht, ob du gemerkt hast, dass ich ziemlich betrunken war. Ich hatte eine halbe Flasche Wodka getrunken. Wodka soll ja nicht zu riechen sein, angeblich. – Und dann sahst du so gut aus, und nichts war demütigend an der Art, wie du zu mir warst. Ich glaubte plötzlich, ich sei nicht gekommen, um dich um Hilfe zu bitten, sondern nur, um dich zu sehen. Ich versuchte, altes Glück in deinem Gesicht zu lesen oder frisches Unglück, aber da war nichts, bloß Freundlichkeit, nicht mal glatt und unpersönlich, aber auch kein Erschrecken, keine Anteilnahme. Wenn du mich doch wenigstens ein bisschen beneidet hättest um meine Vergangenheit.

V: Beneidest du mich um meine Zukunft?

B: Nein, ich glaube nicht. Was soll ich mit deinen Kindern?

V: Siehst du!

B: Ja, ich sehe.

V: Du irrst dich, wenn du denkst, dass mich dein Schicksal nicht beschäftigt.

B: Du hast mich abgeschoben.

V: Ich habe dich eingestellt.

B: Wir waren glücklich. Eine kurze Zeit lang waren wir glücklich, nicht wahr?

V: Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, ob ich glücklich war, aber ich glaube, ich wusste, dass du glücklich warst.

B: Ich dachte mal, ich wäre unsterblich. Jetzt möchte ich nur noch unterkriechen.

V: Du hast deinen Weg gewählt, ich meinen.

B: Verleugnest du dich auch in Konferenzräumen und in Hotelhallen, so wie du dich im Ehebett verleugnest?

V: Es ist wahr: Ich habe dich geliebt. Ich liebe dich nicht mehr und ich werde nichts mehr für dich tun. Ich will keinen Anteil mehr haben an deinem Misserfolg hier im Büro und an deinen Erfolgen draußen im Leben, aber ich wünsche sie dir von Herzen. Du hattest immer solche Sehnsucht nach nicht messbaren Erfolgen, und ich hatte immer so ein Bedürfnis nach messbaren. Es wäre mir ein Trost gewesen zu glauben, dass dein Weg der richtige war, wenigstens für dich. Ich möchte dich nicht wiedersehen.

B: Also dann leb wohl!

V: Ja. Danke! Und mach das Licht aus, wenn du gehst!

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ERLÄUTERUNGEN

Der Werdegang eines schwulen Säuglings ist bereits an der Wiege vorgezeichnet: Schafft er das Abitur, wird er Schöngeist, schafft er es nicht, wird er Schaufensterdekorateur – Couturier oder Tänzer nur bei Talent. All die schwulen Ärzte, Rechtsanwälte, Lebensmittelhändler und Bankangestellte Ihrer Umgebung sind nicht die Norm, und wenn sie Ihnen bisher nichts angemerkt haben, dann brauchen Sie sich auch in Zukunft nichts anmerken zu lassen, es sei denn, Sie hätten Absichten.

Etwas differenzierter betrachtet: Woran liegt es, dass in einigen Berufsgruppen Schwule so überproportional vertreten zu sein scheinen? Sind Schwule musischer? Anpassungsfähiger? Fleißiger? Oder einfach erfolgssüchtiger? Kriegt man da ein Gesamtpaket vom mischkalkulierenden Schicksal ins Erbgut gepackt? Wer nach der Okkasion Sonderbegabung greift, schleppt den Ladenhüter Fehltrieb im gleichen Zellophan mit ab? Talent und Verdruss als zusammen eingeschweißtes Angebot im Supermarkt der Eigenschaften?

So wollen wir das nicht sehen. Schwulsein ist auch ohne besonderes Talent nicht automatisch ein Verdruss, und Talente sind auch ohne Schwulsein zu haben.

Es gibt sogar heterophile Innenarchitekten und viel mehr Friseure, die hinter Frauen her sind, als Friseure, die sich um Männer scheren (sie sind allerdings die tolleren).

Dass es schöner ist, talentiert als unbegabt zu sein, ist klar, hat aber mit dem Thema nur dann etwas zu tun, wenn man dieser Paket-Theorie glaubt, und wenn man das schon tut, dann muss man es umgekehrt anpacken: Nicht wer die Rosine Talent will, hat notgedrungen den trockenen Blätterteig der schlimmen Veranlagung mitzuschlucken, sondern wer schwul ist, macht meist mehr aus seinen Talenten: aus Angst, aus Trotz, aus Feigheit. Die paar Begabungen, die es wirklich gibt, würden ertrinken im Meer des durchschnittlich Passablen, wenn nicht die Schwulen so frühzeitig schwimmen lernen müssten.

Gut, da Schwule sich mehr für Frauen interessieren als gewöhnliche Männer, ist es vernünftig, wenn Berufe, in denen Frauen die Kundschaft darstellen, überwiegend von Schwulen ergriffen werden (Frauen als Frauen, nicht als Hausfrauen. Der Modemacher ist hier mehr gemeint als der Metzger).

Weitere Regeln gehören schon in den Bereich der Vorurteile. Die Mehrzahl der Stewards ist nun mal nicht schwul, und die Mehrzahl der Schwulen ist nun mal nicht Steward. Und das gilt für fast alle Berufe.
Trotzdem bedienen Schwule offenbar lieber Touristen als Bagger, denn von schwulen Reiseführern hört man hin und wieder, von schwulen Kranführern nie. Woran liegt das? Sind Handwerker einfach nicht schwul, oder werden Schwule nicht Handwerker? Sind sie keine richtigen Kerle oder können sie es sich in der raueren Umgebung auf dem Bau bloß weniger erlauben, auffällig zu werden? Vermutlich beides. Die in diesem Zusammenhang von Schwulen oft vertretene These, Heteros hätten was gegen sie, weil sie Angst haben, ihre latenten Homoanlagen könnten durch solche Berührungen aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt werden, diese These hat viel für sich. Sorgen sich nicht auch die Schwulen permanent, der latente heterosexuelle Trieb könnte sich in ihnen zügellos Bahn brechen und sich ins Vaginale verirren? Wahr ist: Schwule lieben hübsche Arbeiter, aber Arbeiter lieben keine hübschen Schwulen. Der Schwule sieht im Arbeiter die gesunde Kraft, der Arbeiter sieht im Schwulen die krankhafte Schwäche. Beide sehen verkehrt. Der Arbeiter, wenn er denn wirklich so ist wie im schwulen Traum, kann trotzdem etwas lernen von der gesunden Schwäche des schwulen Prototyps, und der Schwule, wenn er denn wirklich so ist wie im Albtraum des Arbeiters, hätte Grund, einer Kräftigkeit um ihrer selbst willen zu misstrauen, statt ihr im Sportstudio nachzueifern. Fest steht, dass einige Berufe schwulenfeindlicher sind als andere. Dagegen soll man etwas tun. Zivilcourage und Aufklärung können vielleicht helfen. Aber manchmal hilft nur Tarnung und nicht Idealismus. Ein Bekenntnis, das heute ruhmreich ist, kann morgen lukrativ sein und übermorgen tödlich. Wichtig ist dann nur, zu wissen, was man tut und wann, damit man wirklich aus Überzeugung stirbt und nicht aus Versehen.

Gesunder Menschenverstand ist dabei noch keine Gesinnungslosigkeit, aber mangelnde Voraussetzungen sind auch noch kein schreiendes Unrecht: Wer einsfünfundneunzig groß ist, sollte sich damit abfinden, dass er es schwer hat, wenn er Jockey werden will, und wer schwul ist, sollte sich damit abfinden, dass er es womöglich schwer hat als Maurer, selbst wenn er noch so gut die Kelle schwingen kann.

Ach, nicht nur als Maurer, auch als Soldat, als Sportler und als Mensch hat er es schwer. Tarnung oder Tapferkeit? Tapferkeit ist immer gut, ein Beruf, in dem man keine Tarnung braucht, auch. Und da gibt es Gott sei Dank eine Menge mehr als die Extreme Dachdecker oder Damenimitator.

Scott Walker: ‚Next‘

Auszug aus Hanno Rinkes ‚Liedschatten‘

Hier ist jemand schon ‚vor die Hunde‘ gegangen …, kann aber noch sehr schön singen. Schauerlicher als in diesem Arrangement ist das Xylofon auch in Gustav Mahlers ‚Totentänzen‘ nicht eingesetzt worden. Der Text war für 1968 angemessen provokant, wobei ich mir ziemlich sicher bin, dass eine deutsche Übersetzung der Zeile „The queer lieutenant who slapped // Our asses as if we were fags“ wohl kaum in die bundesrepublikanischen Radioprogramme Eingang gefunden hätte.

Aus der LP ‚Scott 2‘, erschienen 1968 bei Philips, arranged by/Conductor: Peter Knight, Producer: John Franz, written by Jacques Brel, Mort Shuman, Singer: Scott Walker

32 Kommentare zu “Dialog 16: Im Büro

  1. Oh, der Gedanke, dass schwule Männer sich mehr für Frauen interessieren als gewöhnliche Männer, der ist mir noch nicht untergekommen. Wahrscheinlich steckt da sogar ein bisschen Wahrheit drin.

    1. Und vor allem haben Schwule eben keinerlei sexuelles Interesse, welches andere Beziehungseben überschatten würde.

  2. Wobei der Jockey mit seiner Größe ja tatsächlich ein unüberwindbares Handicap hat. Der schwule Maurer wird dagegen lediglich durch den Stumpfsinn der Menschen gebremst. Das ist schon bitter.

    1. Also ob es da so viele Fälle gibt, ich bin ja nicht sicher. Aber wenn jemand wirklich seinen Traumberuf nicht ausübt, weil er ihn von den Kollegen madig gemacht kriegt, das ist schon ein dickes Ding.

      1. Missgunst unter Kollegen ist üblich. Da hat jemand, der ein Star (Büro oder Bühne) werden will, natürlich eine größere Motivation als jemand, der bloß als gleichwertiger Müllwerker oder Ministrialdirigent anerkannt werden möchte.

    2. Hört man vom homosexuellen Handwerker vielleicht einfach weniger, weil es da weniger zu erzählen gibt?

      1. Auch 2021 ist ein Coming out noch eine große Sache. Vielleicht weniger als vor 40 Jahren, und sicherlich weniger in der Großstadt als auf dem Dorf. Aber, dass z.B die Aktion #ActOut auch heutzutage noch solch ein Echo hervorruft, macht doch nachdenklich, oder nicht?

  3. Vielleicht sind Schwule auch nicht unbedingt musischer, sondern ihre Hetero-Gegenspieler trauen sich einfach nicht eine Friseurlehre anzufangen oder die Modekarriere anzusteuern.

      1. Das mag natürlich auch sehr gut sein.Wer etwas wirklich will schreckt vor so etwas wahrscheinlich eh nicht zurück.

      1. So ungewöhnlich finde ich die gar nicht. Die Musik der beiden liegt doch, zumindest in Scott Walkers erster Karrierehälfte als Solist, gar nicht so weit auseinander.

    1. Für mich war das einfach eine andere Seite, die es kennenzulernen galt. Gemocht habe ich auch nicht alles, aber Scott 1-4 bleiben ja immer da.

      1. wie sieht es denn mit dem lgbtq+ anteil bei denkmaltechnischen assistenten aus?

  4. Wenn man zu der Einsicht „Du hast deinen Weg gewählt, ich meinen“ kommt, dann ist meistens nichts mehr zu retten. Aber viele machen sich ja etwas vor um die Tatsache nicht eingestehen zu müssen.

    1. Allerdings haben die wenigsten eine solche Beziehung bzw. ein solches Gespräch mit ihrem Vorgesetzten 😉

      1. Na zu Glück, das scheint mir auch eine relativ anstrengende Buchhalter – Vorstandsvorsitzender – Beziehung zu sein.

      2. Arbeite nie mit Geliebten und verliebe dich nie Mitarbeiter. Das klappt nicht immer, ist aber trotzdem eine gute Richtlinie.

      3. Solche Richtlinien kann man haben, muss man aber auch mal brechen. Und sei es nur um als anschauliches Material im Online-Blog zu dienen.

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