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Tänzer außer der Reihe

Dialog 23: Beim Friseur

GANZ KURZ

(Der Friseur: F; der Kunde: K)

K: Tut mir leid, ich bin zu spät. Hast du schon gedacht, ich komm’ nicht mehr?

F: Nein, ich weiß doch, dass man sich auf dich verlassen kann. Sicher hast du wieder stundenlang nach einem Parkplatz suchen müssen.

K: Du sagst es. Schlimm ist das.

F: Und außerdem bist du zwanzig Minuten zu spät losgefahren. – Komm hierher!

K: Ja, danke! Ich bin der Letzte?

F: Ja.

K: Nicht viel los heute, was?

F: Nee. Ich hab’ Charly schon nach Haus geschickt. – Wie willst du’s denn haben, diesmal?

K: Weiß nicht. Entscheide du! Du kennst mich besser. Kurz, ganz kurz am liebsten. Oder was meinst du?

F: Ja, gut. Kurz.

K: Aber nicht zu kurz. Das ist out.

F: Wir werden’s an den Seiten etwas länger lassen, das kommt jetzt wieder in Mode nach dem jahrelangen Undercut. Aber in sich kurz.

K: Und wie wär’s mit einer Strähne? Ich finde, in meinem Haar fehlt ein Glanzlicht.

F: Bin ich nicht sicher, dass das gut für dich ist. Auf keinen Fall grell. Das geht gar nicht mehr. Außerdem dauert Strähne zu lange. Nächstes Mal vielleicht, wenn du eher kommst.

K: Bist du im Druck?

F: Es geht schon noch.

K: Tut mir leid.

F: Ist das Wasser richtig so?

K: Ja, sehr schön.

F: Nicht zu heiß?

K: Nein, ich hab’s gern heiß. – Weißt du, ich brauch’ das richtig, einmal im Monat, hier bei dir.

F: Ich weiß.

K: Nicht nur für den Kopf. Das relaxt am ganzen Körper.

F: Ich weiß.

K: Und? Was machst du so? Gehst nicht viel aus, oder?

F: Nee.

K: Man sieht dich in letzter Zeit gar nicht mehr unterwegs.

F: Ich bin nie viel weggegangen.

K: Dann war’s ja ’n richtiger Zufall, dass ich dich damals getroffen hab’.

F: Ja. Und inzwischen bin ich noch weniger in Kneipen.

K: Keine Lust? Ewiger Lockdown?

F: Drückt schon auf die Stimmung.

K: Bei mir nicht.

F: Nimmst du den Kopf hoch? – So.

K: Oh, neue Handtücher.

F: Ja, war mal fällig.

K: Starke Farbe. Aubergine?

F: Ja.

K: Nee, die ganze Hysterie mach’ ich nicht mit. Grad vorige Nacht hab’ ich wieder Fledermäuse gefressen.

F: So nennst du das?

K: Klar. Endlich mal eine Krankheit, die von possierlicheren Tierchen übertragen wird als von Ratten, Mücken und Flöhen.

F: Denkst du, dir passiert nie was?

K: Ich denk’, vielleicht mogelt man sich da genauso durch wie mit Koks im Handgepäck.

F: Und wenn’s dich erwischt?

K: Ohne Sex kann ich nicht leben.

F: Mit manchen Viren auch nicht.

K: Ich würde gern mal zusehen, wie zwei Endstadiumskrebser es im Hospiz miteinander treiben, auf Leben und Tod. Angst macht so geil.

F: Du hast wirklich nichts als Sex im Kopf …

K: Das würde mir noch fehlen, mich mit unnützem Zeug zu belasten. Sex macht vielleicht nicht glücklich, aber es beschäftigt. Wenn ich nicht geil bin, bin ich krank. Weißt du was Besseres?

F: Hm.

K: Also wollen wir mal so sagen, es fällt mir ganz schön schwer, Menschen unter einem anderen Gesichtspunkt zu sehen. – Ich liebe eben meine Laster mehr als mich selbst.

F: Hast du neuerdings ein Fuhrunternehmen?

K: Was?

F: Kannst du den Kopf etwas zur Seite drehen? – Ja. Gut.

K: Wenn mir ein Mann durch die Lappen geht, also das ist, als hätt’ ich einen ganzen Sommer lang hinter Gittern abgesessen. Etwas ist verloren gegangen, eine Chance, die so nicht wiederkommt. Der Tod einer Möglichkeit. Grausam.

F: Hast du eigentlich mal einen Aids-Test machen lassen?

K: Nee, wozu?

F: Und wenn du jemanden ansteckst?

K: Ich vergewaltige niemanden. Außerdem: Einmal mit mir Sex zu machen, da lohnen sich die zwei Pillen am Tag für den Rest des Lebens. Aua! Das ziept.

F: Entschuldige! Nimm den Kopf etwas tiefer!

K: Vorige Nacht, der Junge war super.

F: Wird’s weitergehen?

K: Von mir aus hätt’ es für immer sein können. Na ja, es wurde nur ’ne Stunde draus. Aber eine, die’s wert war. Er war so jung, dass er nicht mal gestöhnt hat beim Abspritzen. Die Alten ächzen doch immer so laut, vor Glück, überhaupt noch was abgekriegt zu haben.

F: Ich wusste gar nicht, dass du auf so Junge stehst.

K: Wie’s grad kommt. Sie haben ja alle was zwischen den Beinen, auf das man gespannt sein kann, selbst wenn’s dann später ’ne Enttäuschung ist. Aber an manchen, da kommt man einfach nicht vorbei, und dann dreht man durch, wenn’s nicht klappt, und man sagt sich: Wenn ich den nicht haben kann, dann nehm’ ich jeden.

F: Wie lange willst du so weitermachen?

K: Keine Ahnung. Ich werde tot sein, aber es wird irrsinnig geil gewesen sein.

F: Ist es so richtig über den Ohren?

K: Rechts ja.

F: Links hab’ ich doch noch gar nichts geschnitten.

K: Ach so. – Ich hab’ mir auch schon Gedanken gemacht.

F: Worüber?

K: Wie es weitergehen soll. Umsatteln kann ich nicht mehr.

F: Du meinst beruflich?

K: Ach was, der Job ist okay. Ich meine privat. – Man muss sich eben immer was Neues ausdenken.

F: Zum Beispiel?

K: Was Ausgefalleneres. Ich möchte mal unterm Klavierhocker hocken und einem Pianisten in die Hose fahren, wenn er gerade die ‚Mondscheinsonate‘ spielt.

F: Das ist ja fast Kultur.

K: Oder man macht rum mit ’m Typen, wir hängen beide an MP3-Playern, und jedem fetzt eine andere Musik aus dem Kopfhörer in die Ohren, Gemeinsamkeit nur in den Schwänzen. Vielleicht sind sie auch durch ’ne Glaswand getrennt, beide nackten Körper gegen die durchsichtige Wand gepresst.

F: Prima. Da ist dann nur noch die gute Laune ansteckend.

K: Ich finde, man müsste auch Essen und Sex mehr miteinander verbinden, das bringt doch sicher irgendwie ’ne Steigerung.

F: Wie denkst du dir das?

K: Na zum Beispiel jemandem mal ’ne Tomate auf den Brustwarzen zerquetschen und dann wegschlürfen das Mus oder ’ne Scholle zwischen den Bäuchen haben, auf der man rumglitscht. Auch der Sekt, den die Normalen angeblich früher aus Weiberschuhen gesoffen haben – man müsste doch einem Kerl Champagner ins Arschloch trichtern können und mit ’m Strohhalm wieder raussaugen.

F: Mm ...

K: Du bist doch nicht schockiert?

F: Nein. Ich bin nie schockiert.

K: Nee, darum komm’ ich auch zu dir, einmal im Monat.

F: Ich weiß.

K: Klar, ich möchte auch mal wieder was Romantisches erleben. Zum Beispiel, dass ich mit jemandem im Lokal bin, beim Essen, und der steht plötzlich auf und geht aufs Klo, und wenn er wiederkommt, dann reicht er mir was Feuchtes durch unterm Tisch. Erst denk’ ich, es ist seine Serviette, und er hat Wein verschüttet. Aber nein, es ist sein Slip.

F: Und? Legst du ihn auf den Teller? Neben die abgenagten Knochen?

K: Was ist los? Du versaust alles. Bist du nicht in Form heute?

F: Entschuldige! Erzähl mir weiter von dem Jungen, den du vorige Nacht hattest!

K: Er war noch ganz unerfahren. Wir gingen zu mir. Er war scheu, aber geil. In ihm kämpfte es. Es war nicht nur Neugier, es kam aus dem Blut. Den Kopf hatte er schon verloren, es ging nur noch darum, das Gesicht zu wahren. Ich küsste seinen verschlossenen, behaarten Mund, den rückwärtigen. So lange, bis er sich erweichen ließ, bis er einen Finger aufnahm, bis er zwei Finger aufnahm, drei, und schließlich die ganze Hand.

F: Und du wirst ihn nicht wiedersehen.

K: Was? – Nein. – Ah, ich kann mir auch ganz was anderes vorstellen, was Leises. Eine blühende Sommerwiese zum Beispiel, die Insekten surren wie überdrehte Klimaanlagen. Ich liege da, hingestreckt in stacheligem Gras, sein Geschlecht ruht auf meinem Gesicht. Wir träumen noch von der Schlacht. Die Spucke hatte geschäumt zwischen unseren Lippen, ein Meer, das gegen die Klippen der Zähne angebrandet war, und wir hatten uns die Gischt in die Kehlen gepeitscht, ein Mund, ein Sturm, eine Höhle. Unsere Zungen hatten gerungen miteinander wie Geweihe, zwei brünstige Hirsche im Kampf umeinander und um sich selbst. Nun ist die Lichtung friedlich. Wir atmen den Duft ein und aus: Klee und Schweiß.

F: Wie riecht Klee?

K: Würzig, sehr würzig und ein bisschen brenzlig. – Wird es nicht zu kurz oben?

F: Du wolltest es doch ganz kurz haben.

K: Na ja, es soll nicht zu ausgefallen sein.

F: Aber das würde gut zu dir passen.

K: Ich will nicht immer auffallen.

F: Nein?

K: Nein. Manchmal möcht’ ich mich eher verkriechen.

F: Zurück in den Mutterleib, wie wir alle.

K: Nee, lieber in den Arsch eines Mannes. In den Leib meiner Mutter zurückschrumpfen, das is’ ’n gruseliger Gedanke.

F: Wie ist deine Mutter?

K: Meine Mutter? O Gott, meine Mutter, die ist immer so – so gütig, so scheißverständnisvoll. – Zum Kotzen! Dabei macht es sie krank, dass ich schwul bin. Warum schreit sie nicht mal? Warum sagt sie nicht, sie findet das ekelhaft? Na ja, ich seh’ sie fast nur noch zu Ostern und zu Weihnachten. Da schreit sie dann eben nicht. Mein Vater brüllt ja schon genug. – Manchmal möcht’ ich schreien: ‚Ihr irrt euch, ich bin gar nicht schwul, ich bin bloß süchtig nach Männern.‘ Oder ich könnte meinem Vater sagen: ‚Denk bloß nicht, dass mir was entgeht! Sex mit Männern ist ausgesprochen ‚vielseitig‘. Du kannst sogar einen Mann küssen, während ihr beide im Stehen gefickt werdet.‘

F: Halt still, sonst kann ich nicht schneiden!

K: Ja, Eltern! Sie sind an allem schuld. An unserer Veranlagung, an unserer Umwelt und an uns selbst. – War’s für dich leichter?

F: Ich hab’ mal zu meiner Mutter gesagt: ‚Ich halt’ das nicht mehr aus, ich halt’ auch deine schweigenden Vorwürfe nicht mehr aus. Am besten wär’s, ich bring’ mich um.‘ Und sie hat geantwortet: ‚Warte damit, bis ich tot bin!‘

K: Mutterliebe!

F: Es ist schwer für sie.

K: Für uns nicht?

F: Doch.

K: Ich denk’, vielleicht war ich im vorigen Leben genauso prüde wie sie, deshalb bin ich diesmal zur Strafe mit einem ganz wüsten Trieb geboren worden.

F: Findest du dich so wüst?

K: Na ja, relativ.

F: Was ist denn dran an deinen Superficks?

K: Wie meinst du das?

F: Ich frag’ dich, was dran ist.

K: Also, wenn du mich fragst: ‚Welche deiner Fickgeschichten war wichtig?‘, dann sag’ ich dir: ‚Vielleicht keine.‘ Aber wenn du mich fragst, welche ich ungeschehen machen möchte, dann sag’ ich dir bestimmt: ‚Keine!‘ – Wird es dir nicht zu dunkel, allmählich?

F: Ich seh’ noch gut.

K: Du willst wohl Strom sparen.

F: Ich seh’ noch gut.

K: Und du? Was machst du, wenn die Hormone steigen?

F: Ach, ich verschaff’ mir selbst mein Glück.

K: Kurz vor einem rausgezögerten Orgasmus: Das ist das Glück – wie ein schönes Sterben. Ja, das geht auch allein. Onan und Masturbo. Aber es ist natürlich sehr egoistisch.

F: Ach, mit anderen ist es nicht egoistisch?

K: ’n bisschen Egoismus ist immer dabei. Aber es ist doch besser, auf jemanden geil zu sein, als sich überhaupt nicht für seine Mitmenschen zu interessieren.

F: Ich weiß nicht, ob ich so weit kommen möchte wie du.

K: Ich weiß auch nicht, ob ich dir das wünschen soll. All die Hauseingänge und Hinterhöfe, die Kinder von mir haben müssten. – Jetzt wird es aber wirklich ziemlich dunkel. – Vielleicht bin ich ja schon an die Grenze von dem gestoßen, was die Welt zu bieten hat. Dann wär’ es wirklich keine lohnende Aufgabe, andere an diesen Punkt zu führen. Dann sollen sie lieber hungrig bleiben oder unfrei – oder vorher sterben.

F: Gefällt’s dir so?

K: Ja, genau, wie ich’s wollte.

F: Du hast es hinten ja noch gar nicht gesehen. Guck hier im Handspiegel! Etwas länger im Nacken. Dein Hals ist lang genug. Du kannst es so tragen.

K: Mach doch mal das Licht an! Was hast du denn? – Weinst du?

F: Ach, ich hab’ bloß was in der Kehle.

K: Die ganze Zeit hab’ ich wieder über mich geredet.

F: Dafür bin ich ja da.

K: Und du? Geht es dir gut?

F: Ach, es geht.

K: War deine Mutter nicht krank gewesen?

F: Ja.

K: Du hast sie doch immer im Krankenhaus besucht.

F: Jeden Tag.

K: Und? Ist sie wieder in Ordnung?

F: Sie ist gestorben, vorige Nacht.

K: Was?! Mein Gott, und da lässt du mich die ganze Zeit lang diese Scheiße reden?

F: Meine Mutter braucht mich jetzt nicht mehr, sie nicht! … Du bist mein einziger Kunde heute gewesen.

K: Aber ich erzähl’ dir das alles doch nur, weil du ... Weil ich denke, dass du … Dass dich das irgendwie anmacht. Du ... Du glaubst mir doch, nicht? – Glaubst du mir nicht?

F: Nein.

K: Hast du mir nie geglaubt?

F: Kein Wort.

K: Aber die vielen Geschichten, die ich dir erzählt hab’? Du weißt, dass ich mir das bloß ausdenke? O Gott, ich komme mir vor wie ein Idiot. Wie ein Idiot. Es tut mir leid, es tut mir so leid mit deiner Mutter.

F: Komm, erzähl mir noch etwas von dem Jungen, den du vorige Nacht hattest, die eine Stunde lang!

K: Jetzt?

F: Ja. Heulen kann ich nachher, wenn ich allein bin.

K: Ich weiß nicht …

F: Und halt still. – Ich muss den Ansatz an den Koteletten noch grademachen. Am Hals stehen dir lauter Barthaare. Da muss ich auch noch ran. Das Messer ist sehr scharf. Bleib ganz ruhig, sonst schneid’ ich dich. – Und nun erzähl! Lange!

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ERLÄUTERUNGEN

Gängige Schwule mögen eigentlich nur zwei Frauen: den (!) Vamp und die Mutter.

Ein Schwuler, der nicht einmal am Tag seinen Nabel betrachtet und darüber in Tränen ausbricht, ist nicht normal. Einer, der nicht seine Mutter für den Nabel der Welt hält, auch nicht. So gibt es dann viele Tränen zwischen Mutter und Sohn.

Der gut gemeinte Tipp Außenstehender, ein Schwuler solle sich von seiner Mutter lösen, gilt Eingeweihten als Ratschlag aus der Reihe ‚Selbstmörder geben Lebenshilfe‘: Ein Schwuler sagt sich eher von seiner Veranlagung los als von seiner Mutter. Gewitzte Schwule versuchen also gar nicht erst, sich von ihrer Mutter zu trennen, dadurch würde ihre innere Abhängigkeit von ihr nur noch größer, weil sie entweder eine schlimme Sehnsucht nach ihr entwickeln oder ein schlechtes Gewissen, dass sie keine Sehnsucht entwickeln. Sie nehmen ihre Mutter als Teil ihres homosexuellen Schicksals: bis dass der Tod euch scheidet.

Weil ein Schwuler sich, sobald er merkt, dass er ein Schwuler ist, zunächst einmal ungeliebt und auch gar nicht liebenswert vorkommt, hat er bereits einen enormen Nachholbedarf entwickelt, wenn er entdeckt, dass man ihn doch lieben kann: Er verfügt zu diesem Zeitpunkt über ein riesiges Vorratslager, das nicht aus Ballen und Halden, sondern aus Gruben und Lücken besteht. Das muss nun gestopft werden: quantitativ von Männern, qualitativ von Muttern.

Was die Männer anbetrifft: Da findet sich mancher Lagerhalter großzügigerweise schon liebenswert, wenn ihn andere bloß – Verzeihung! – fickenswert finden.
Was die Mutter anbetrifft: Wer liebt so allumfassend wie eine Mutter? – Da gibt es die bequemen Mütter, die verstehen nichts und verzeihen alles, und es gibt die unbequemen, die verstehen alles und möchten deshalb um Verzeihung gebeten werden. Die zweite Sorte ist bei Weitem vorzuziehen, weil die erste nervtötend ist; nur dauert es eine Weile, bis man das einsieht.

Das Hauptproblem in beiden Fällen und auf beiden Seiten ist mangelnde Aufrichtigkeit. Das mag verblüffen, denn man erwartet Aufrichtigkeit zwar nicht von der wissenden Mutter, aber doch vom schwatzhaften Sohn.

Tunten sind ja besessen davon, sich zu erklären. Erst wollen sie erklären, wie die Schwulen sind. Gleich darauf erklären sie aber hastig, jeder Schwule sei anders, und dann fangen sie an, jeden einzeln zu erklären. Natürlich beginnen sie bei sich selbst, und das ist dann so faszinierend, dass sie weiter gar nicht erst kommen. Nur ihrer Mutter sagen sie nichts. Es geht die Frau ja vielleicht auch gar nichts an, vor allem dann nicht, wenn die Bindung eng ist, denn je hautnaher man verkehrt miteinander, desto wichtiger ist es, sich sein Geheimnis zu bewahren.

Dieser Kursus wird sich hüten, Aufrichtigkeit zu predigen, wo doch jeder Gebildete weiß, zu welch grässlichen Verstrickungen übertriebene Aufrichtigkeit in Politik und Wirtschaft, auf der Bühne und in der Literatur führen kann.

Auf dem Teppich der Verlogenheit läuft es sich weicher: Kein Wunder, wenn schon viel Staub druntergekehrt worden ist – nur rutscht man auf solch welligem Untergrund bisweilen genauso leicht aus wie auf diplomatischem Parkett. Darum entscheiden sich beherzte Schwule doch irgendwann mal für die Ehrlichkeit – und lassen dann Gras drüber wachsen.

Mütter sind nicht weniger nachtragend als Väter, aber da sie – wie alle Frauen – praktischer sind, lassen sie es sich weniger anmerken. Außerdem ist ihre Liebe unabweisbarer und unbeirrbarer als die Liebe von Vätern und Söhnen. Sie haben zwar die Qual, aber nicht die Wahl, deshalb verschließen sie die Augen vor Sümpfen, in die sie nicht mit der Nase gestoßen werden. Stößt man sie doch, dann versuchen sie, sie trockenzulegen oder schmeißen mit Schlamm.

Die wahrhaft mütterliche Mutter ist die nervtötende, die nichts versteht, aber alles fühlt. Sie lässt sich tapfer unterdrücken und hält mit ihrem Schweinebraten die Familie zusammen. Übt sie selbst mal Druck aus, dann durch Hinfälligkeit oder durch Opferbereitschaft gerade dann, wenn sie selbst pflegebedürftig wäre. Die mütterliche Mutter wird angebetet und angelogen. Jeder Schwule, der solch eine Mutter hat, geht insgeheim für sie durchs Feuer und schämt sich ihrer ein wenig in der Öffentlichkeit, zumal es nicht den geringsten Grund gibt, für sie durchs Feuer zu gehen. Ihr Element ist nämlich das Wasser: Sie wäscht, spült und scheuert und schwappt immerzu über vor Freundlichkeit, berufstätig ist sie womöglich noch außerdem. Allerdings hat sie auch allen Grund, sich anzustrengen, denn sonst verschwindet sie bald für immer in Märchenbüchern und Serienstaffeln. Das Feuer, durch das der Sohn frustrierenderweise nicht zu gehen braucht, möchte er am liebsten ans Haus des Vaters legen, denn der ist, wie die Dinge liegen, an allem schuld.

Die andere Mutter, die viel versteht, viel kann und viel will, ist eigentlich keine richtige Mutter, sondern nur eine Frau, die Kinder bekommen hat. Intelligenz ist immer unmütterlich, Chic erst recht. Je intelligenter und schicker die Frau ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zumindest einer ihrer Söhne – ihr liebster natürlich – schwul wird. Für diesen Sohn gibt es dann nur noch eine einzige Frau auf der Welt: Der Vamp ist die Mutter.

37 Kommentare zu “Dialog 23: Beim Friseur

  1. Mütterliche Mütter können aber auch ganz toll sein. In der Regel natürlich wenn sie eben nicht nervtötend und unterdrückt ist. Was aber Ausnahme und was Regel ist, weiss ich auch nicht.

    1. Wenn mütterlich nicht spießig und bevormundend ist, sondern einfühlsam und ideenreich, ist es ein großer Gewinn, solch eine Frau um sich zu haben – für jede Person jeden Alters.

      1. Meine Eltern waren beide toll. Sie haben mich konstant ermuntert neue Sachen kennenzulernen, waren aufmerksam und verständnisvoll. Dass nicht jeder , vor allem nicht jeder junge Mensch, so eine Umgebung hat, ist doch ein wenig traurig.

      1. Manche Beziehung ist bestimmt auch schon daran gescheitert. Wenn man alles voneinander weiss wird es ja irgendwann auch langweilig.

      2. Also ich weiss nicht ob das wirklich der ausschlaggebende Punkt ist. Was heisst denn überhaupt „alles voneinander wissen“? Es gibt doch immer wieder Neues zu entdecken wenn man wirklich neugierig ist. Wenn man sich miteinander langweilt, dann stimmt doch grundsätzlich etwas nicht (mehr).

      3. Das sehe ich genauso. In einer lange währenden Beziehung ist Zuverlässigkeit viel besser als Geheimniskrämerei. Für Überraschungen sorgen die Unwägbarkeiten des Lebens und eine komisch-treffende Bemerkung dann und wann.

      4. Andersherum wäre es doch auch schlimm, erst nach ein paar Jahrzehnten zu merken, dass man den Menschen mit dem man lebt gar nicht richtig kennt und versteht. Solche Geheimnisse entdecken zu wollen würde ich mir lieber sparen.

  2. Meine liebsten Friseurbesuche sind immer die, wo gar nicht viel gesmalltalkt wird. Aber solch eine Unterhaltung wie oben musste ich zum Glück auch noch nicht live über mich ergehen lassen, haha!

    1. Meine Friseurbesuche waren, als ich den Dialog schrieb, umgekehrt: Er erzählte mir von seinen Abenteuern und ich hielt still. Hier werden ja aber ausgedachte Geschichten erzählt, weil der Kunde glaubt, das würde dem Friseur gefallen. Also eine Ecke weiter gedacht.

      1. Beim eigenen Besuch muss ich auch nicht konstant unterhalten werden, beim Lesen des Rinke-Blogs wäre ein schweigsamer Friseurbesuch natürlich wenig ergiebig.

  3. Wenn man alles Unwichtige aus seinem Leben streichen würde und nur noch die überaus bedeutsamen Dinge übrig blieben, ich glaube das würde auf Dauer wahnsinnig anstrengend.

      1. Klar können sie das. Klein und groß sind ja noch kein Anzeichen dafür, wie wichtig etwas für uns ist. Aber ich glaube ich weiss was Sie meinen. Auch Dinge, die fast nebensächlich passieren, oder auf den ersten Blick eben unbedeutend erscheinen, können sich als wirklich wichtige Erfahrung herausstellen.

      2. Seltsam: man erinnert sich manchmal nach vielen Jahren noch an scheinbar Bedeutungsloses, und anderes, was als Ereignis wichtig schien, ist im Gedächtnis kaum noch vorhanden.

  4. Der Schwule hat ja nach seinem Coming Out nicht nur einen Nachholbedarf, sonder gleichzeitig auch einen großen Vorsprung in Sachen Selbstfindung erreicht. Ob einem die Heteros beides übel nehmen?

    1. Grundsätzlich wird einem ja meist übel genommen wenn man Freiheiten auslebt, die man sich selbst nicht gönnt. Das ist während der Pandemie nicht anders als wenn es um sexuelle Vorlieben geht.

      1. Vermutung: Schwule Inquisitoren schrien am lautesten nach dem Scheiterhaufen. Eifrigste Denuntianten sind missgünstige Rentner und naseweise Kinder. Wilde, Zahme, Proletarier, Adlige – schlimm sind die Kleinbürger.

  5. klar, wenn zu viel unter den Teppich gekehrt wird rutscht man irgendwann aus. interessant finde ich dann immer, wer nach so einem fall weitermacht oder weitermachen kann als ob nicht gewesen wäre und wer es wirklich schwer hat sich wieder aufzurappeln.

    1. Da wird dann vielleicht auch die Frage von weiter oben interessant: nämlich wie bedeutend das unter den Teppich gekehrte war.

      1. Selbst bei großen Skandalen gibt es aber Menschen, denen so was kaum etwas anhaben kann. Da schließe ich mich Andrea an. Warum das so ist, würde ich auch gerne wissen.

      2. Die einen erleben die öffentliche Ächtung, den anderen macht das eigene Gewissen zu schaffen. Je lauter ich nach Transparenz gerufen habe, desto belastender sind verschwiegene Gelder.

      3. Cancel Culture macht das Thema noch einmal eine Nummer schwieriger. Dabei werden die meisten Themen meiner Meinung nach zurecht und oft auch mit der richtigen Vehemenz angegangen. Nur das „Canceln“ an sich finde ich eben nicht richtig. Das kommt nämlich dann auch wieder einem „Unter den Teppich kehren“ gleich. Nur eben mit Personen.

  6. Ach ja Friseure und Mütter! Die Beziehung zu beiden ist ja nicht immer ganz einfach 😉 Den Friseur kann man sich wenigstens aussuchen.

      1. Einer der Vorteile des Lockdowns. Niemand muss die missratene Frisur sehen 😉 Aber Scherz beiseite, ich bin mittlerweile ganz froh, dass man zumindest wieder solche Nebensächlichkeiten wie den Friseurbesuch erledigen kann.

      2. Und seit Pfingsten darf man auch im strömenden Regen auf den Außenterrassen sitzen. Hahaha. Es wäre wohl mal zeit für ein wenig Frühling.

  7. Hahaha, genauso sexy wie die Scholle zwischen den nackten Körpern oder die zerquetsche Tomate finde ich die meisten Kinks. Das macht manchmal Spaß sich ausgefallene Sachen auszudenken und vorzustellen, aber in der Realität ist die Schwelle zum Albernen echt niedrig.

    1. Sex ist sowieso etwas, das meistens sexier ist wenn man selbst beteiligt ist. Pornos sind vielleicht, eigentlich wirklich nur vielleicht, eine Ausnahme. Aber da wird ja ach selten echter Sex abgefeilt, sondern für die Kamera inszeniert.

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