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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.20 Karriere einer Kokotte

Reinholds jüngster Bruder Viktor wurde Arzt wie dessen Vater. ‚Geheim‘ war da nichts mehr, aber er rückte doch aus: vor seiner Frau, als Stabsarzt nach Kamerun, eine der wenigen Kolonien, die die Deutschen zu ergattern vermocht hatten. Aber im Gegensatz zu ihren Schwägerinnen setzte Viktors Frau alles daran, ihren entflohenen Ehemann zurückzubekommen. Einzelheiten sind mir nicht bekannt, nur: „Die Tante Elisabeth hat ihn sich dann wieder an die Angel geholt.“ Ich sah ihn dann als fetten Karpfen und sie als schöne Fischerin und ich fragte mich, wen von beiden ich weniger beneidete. Feststeht: Der einzige Bruder, der brav zu Hause saß und darauf wartete, dass seine Frau mit dem Schweinebraten von ‚Wertheim‘ zurückkam, das war der arme Reinhold.

Foto oben links: Jo Graetz/Fotolia | Foto oben rechts: gemeinfrei/pexels | Foto unten links: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto unten rechts: gemeinfrei/pexels

Reinholds Schwester Alice hatte das aus Romanen der Zeit bekannte Schicksal: Sie liebte einen, den sie nicht heiraten durfte, ging ins Kloster und starb früh. Wenn meine Großmutter erfuhr, dass ich einen Verdruss hatte, dann hielt sie mich während meiner Kindheit immer an, zu (Groß-)Tante Alice zu beten, der sie einen unmittelbaren Draht zu Gott zutraute. Ich betete ständig zum Herrn selbst und fand eine Zwischenstation überflüssig, zumal ich ja aus dem Katechismus wusste: Beten kann ich nur zu Gott, alle anderen kann ich höchstens bitten, für mich zu beten. Reichlich umständlich.

Bild: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Alices Schwester Hildegard heiratete Doktor Knöter und lebte mit ihm in Breslau. Mehr wusste mein Vater nicht, und so hatte es für mich keinen Anlass gegeben, in Breslau intensiver nach ihr zu forschen als in Paulinenaue nach Annemarie Kruse.

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: gemeinfrei/pixaby

Die letzte Schwester, Felizitas, hatte auch kein beneidenswertes Los: Sie führte meiner herrischen Großmutter den Haushalt, kümmerte sich um Marias (und Reinholds) vier Söhne und sieht auf Fotos wirklich aus wie die arme Gouvernante. So war es folgerichtig, ihr den ziemlich imposanten Namen Felizitas (die Glückliche) wegzunehmen und sie lieber ‚Tante Miezel‘ zu nennen, was gleich viel armseliger klingt.

Foto: Privatarchiv H. R.

Dass sich mein Urgroßvater ‚Geheimer Medizinalrat‘ nannte, war also gar nicht so großartig, aber er war außerdem Leibarzt des Fürsten Henckel von Donnersmarck, und das war schon etwas. Da wurden einander ein paar Geschichten erzählt, die sich mir auch als nicht betroffenem Zuhörer ins Kindergedächtnis eingeprägt haben.

Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck soll, wenn er bei Laune war, Schornsteinfeger vom Dach geschossen haben. Dann ließ er sich die Witwe kommen und schenkte ihr als Ausgleich ein paar Taler. Er war ein guter Schütze, mit dem auch Kaiser Wilhelm gern auf die Jagd ging. Dann logierte der Kaiser auf Schloss Neudeck. Guidos Gemahlin war eine ziemlich ausgefallene Person. Um dem Hauptgärtner etwas Gutes zu tun, ließ sie ihm ein Eichhörnchen braten. Wenn sie selbst zu einem ‚Dîner‘ lud, goss sie als Erstes eine Flasche erlesenen Rotwein aus. Über die Damasttischdecke! Danach brauchte sich dann niemand an der langen Tafel mehr zu schämen, wenn er einen Fleck gemacht hatte. All das ist wahrscheinlich bloß Dienstbotengeschwätz.

Trotzdem konnte die Gräfin als Beleg dafür gelten, dass schon im 19. Jahrhundert eine Frau mit Chuzpe etwas erreichte. Geboren wurde sie als Esther Lachmann, Kind armer polnischer Juden im Moskauer Getto. Zuerst mal heiratete sie den Schneider Antoine Villoing, gebar ihm einen Sohn und ließ die beiden dann sitzen. Sie rückte aus nach Paris. Zuerst kroch sie im Armenviertel unter, aber so wollte sie natürlich nicht leben, sondern begab sich sofort auf die Suche nach einem wohlhabenden Verehrer. Den fand sie auch: Sie heiratete, wohl in London, den Komponisten und Klavierbau-Unternehmer Henri Herz, Bigamie also. Als gesichert gilt diese Ehe nicht, wohl aber, dass sie ihm eine Tochter gebar. Zurück in Paris gründete sie einen Salon, in dem sich – vermutlich bei angeregter Unterhaltung – Männer am Büfett bedienten, die dem Gebildeten noch heute bekannt sind, wie Richard Wagner, Hans von Bülow, Émile de Girardin und Théophile Gautier. Gautier hatte, 1835 schon, einen Roman geschrieben, in dem ‚Mademoiselle Maupin‘ sich als Mann verkleidet, um schwule und weniger schwule Erfahrungen zu sammeln. In der Nacht, in der sie meinte, ihr Glück gefunden zu haben, machte sie jeweils unverzüglich Schluss mit Sex, damit die Beziehung nicht ins Alltägliche abgleiten konnte. Thérèse, wie sie sich inzwischen nannte, brachte solche Konsequenz auch im Geldausgeben auf. Ihr Gatte ging fast pleite an ihrer Großzügigkeit. Wie Pali immer sagte: „Auf deine Kosten ist mir nichts zu teuer.“ Henry Herz reiste nach Amerika, um dort weitere Geschäftsmöglichkeiten zu finden; seine Frau warf derweil in Paris weiter mit seinem Geld um sich, bis die Herz-Familie sie einfach rausschmiss. Von da an lebte sie im Hotel ‚Valin‘ und ernährte sich von der Gunst ihrer Verehrer, Edelnutte also. Als sie den portugiesischen Marquis Albino Francesco de Païva-Araujo kennenlernte, war ihr erster Gatte gerade an Schwindsucht gestorben, so dass sie nun, ohne die nächste Bigamie zu begehen, den Marquis heiraten konnte. Jetzt hatte sie ein Vermögen und einen tollen Titel. Erst zwanzig Jahre später kehrte der Marquis nach Portugal zurück und ließ die Ehe annullieren. Im Jahr darauf erschoss er sich. Die Witwe machte sich an Guido Henckel von Donnersmarck heran – klappte! Er war einer der reichsten Männer seiner Zeit und elf Jahre jünger als sie. Sie musste keine Not leiden: Guido ließ ihr ein Hôtel particulier an der Champs-Élysées erbauen, mit Marmorintarsien und vorgeschobenem hängenden Garten. Dort veranstaltete sie ihre „dekadenten Soireen“, wie Nichteingeladene das Treiben dort nannten. Die Dame des Hauses wurde von Eingeweihteren als ‚la Païva‘ bezeichnet – eine nette Erinnerung an ihren freiwillig aus dem Leben geschiedenen Gatten.1

Bilder oben links und rechts: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Bild unten: Marzolino/Shutterstock

Ihr längerfristiger Bewunderer Graf Guido kaufte ihr als zusätzliches Zeichen seiner anhaltenden Wertschätzung Schloss Pontchartrain und sorgte auch sonst so gut für sie, dass sie, wenn’s stimmt, ständig Kleidung und Schmuck im Wert von zwei Millionen Francs am Leib hatte. Was hatte die Frau bloß, dass sie eine solche Karriere hinlegte? Im Liegen? Was Guido hatte, war leichter herauszufinden: Geld. Seine Geliebte hieß inzwischen wieder mal anders: ‚Pauline‘. 1878 wurde das spendable Paar aus Frankreich ausgewiesen – Verdacht auf Spionage. Dann erst machten die beiden sich auf nach Deutschland. Sie lebten von da an auf Schloss Neudeck in Oberschlesien2, und auch erst von da an kann sich mein Urgroßvater um deren erlauchte Gesundheit gekümmert haben.

1, 2 Quelle: Wikipedia

Neudeck heißt jetzt Świerklaniec. Das Alte und das Neue Schloss hat die Rote Armee abgefackelt, 1961 wurden die Reste geschleift. – Purer Vandalismus! Der im englischen Stil angelegte Schlosspark war einer der größten in Deutschland und ist inzwischen ein beliebtes Ausflugsziel für Menschen mit Kindern und Hunden. Esther-Thérèse-Pauline wäre entsetzt gewesen, starb aber gnädigerweise schon 1884, hoffentlich nicht an der Behandlung durch meinen Urgroßvater. Vor ihrem Tod konnte die ehemalige Kurtisane Gott sei Dank noch in das Neue Schloss umziehen, das auf ihren Wunsch hin errichtet worden war. Sie brauchte also nicht im Alten Schloss dahinzuscheiden. – Ein Trost.

Bild: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Was noch steht, ist der Kavalierspalast, der 1903 dringend nötig wurde, weil die Gäste im Alten Schloss und in den neunundneunzig Zimmern des Neuen Schlosses einfach nicht mehr unterzubringen gewesen waren. Wir sahen uns erst den Park und dann das Kavaliershaus von außen und von innen an, konnten aber nicht im Restaurant speisen: geschlossene Gesellschaft. Es war Erstkommunionssonntag. Hatte ich auch mal. Vor einundsechzig Jahren. Gegessen wurde damals zu Hause, aber nachmittags gab es ausnahmsweise Kuchen. Großes Theater wurde nicht darum gemacht. Der Vikar, der meinen Vorbereitungsunterricht besorgt hatte, hatte meine Mutter aufgefordert, meinen Vater zu verlassen, weil Guntram vorher schon einmal anderweitig verheiratet gewesen war. Irene fragte: „Ja, soll Hanno denn ohne Vater aufwachsen?“ Der Vikar antwortete: „Besser als in Sünde.“ Diese Einstellung hat meinen Eltern den Katholizismus nicht nähergebracht, da war Käsekuchen schon das Äußerste an Feierlichkeit. Was der Vikar der Reichsgräfin Henckel von Donnersmarck empfohlen hätte, bleibt Spekulation, denn die lebenslustige, heiratsfreudige Herrin blieb kinderlos. Wir verzichteten darauf, uns neben den nicht mehr vorhandenen Schlössern der Donnersmarcksens auch noch Tarnowitz zu betrachten, so ganz ohne Anhaltspunkt. Das hatte ja schon in Paulinenaue mit der mir wenigstens persönlich bekannten Annemarie Kruse nicht geklappt. Ein Urgroßvater, von dem man nichts weiß, ist weniger wert als eine Hausangestellte, mit der man Geheimnisse teilt. Schon bevor wir nicht in Tarnowitz gewesen waren, hatten wir ein kleines bisschen von Oppeln gesehen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Dim Dimich, Everett Collection, vhpicstock, Frame Art, Master1305

29 Kommentare zu “#2.20 Karriere einer Kokotte

      1. Mein nächstes großes Ziel: zumindest eine Putzfrau oder ein Putzmann. Kochen, Gärtnern, Aufräumen macht mir Spaß. Putzen aber ist ein großer Graus.

  1. In Sünde aufwachsen? Was genau soll das eigentlich heissen? Abgesehen vom schlechten Gewissen, das die Kirche gerne befördert?

    1. Naja, man beschrieb oder beschreibt so das Heranwachsen der unehelichen Kinder. Sex außerhalb der Ehe ist ist für die Kirche immer noch ein Tabu. Entgegen jeder modernen Realität.

  2. „Sie liebte einen, den sie nicht heiraten durfte, ging ins Kloster und starb früh.“ Gerade noch habe ich einen Artikel gelesen, dass ein gebrochenes Herz tatsächlich existiert. Im medizinischen Sinne. Schlimm.

    1. Wie gern wollte ich 1991 an gebrochenem Herzen sterben! Für Selbstmord war ich zu feige, für Weiterleben eigentlich auch. Also musste ich „leben lernen“, obwohl am Ende kein Pokal winkt, sondern der Tod.

    2. meine tante: sie liebte einen, den sie nicht heiraten durfte. sie heiratete ihn nicht, behielt ihn aber als liebhaber und später (als die strenge frau mutter alt und schwächer wurde) als lebensgefährte und war die lässigste und liebste tante für mich! inklusive 2-sitzer sportwagen, da sie keine kinder hatte (weil nicht verheiratet)

    1. Eichhörnchen sind doch sehr poussierlich, viel hübscher als die gern gegessenen Seeteufel. Natürlich, nicht alles, was hübsch ist, gehört auf den Teller. Meine Erinnerung stimmt trotzdem, die Erzählung meiner Großmutter vielleicht nicht. So geht man eben mit auffälligen Frauen um: von Messalina über Marie Antoinette bis „Flinten-Uschi“: Verleumdung oder Anbetung! Und Geschlechtsgenossenin machen dabei gern mit.

      1. Grundsätzlich ja auch interessant wo man den Unterschied macht: Rindfleich ist ok, Eichhörnchen nicht. Hühnchen gerne, Mehrschweinchen auf keinen Fall.

  3. Vom Klein Versailles hat mir meine Mutter einmal erzählt. Wird eigentlich Zeit, dass ich mir zumindest die Parkanlage selbst einmal anschaue.

  4. Hahaha, die Rotweinmethode der Guido-Gemahlin Esther merke ich mir 😉 Für meine nächsten dekadenten Abend.

    1. Verständlich. Dafür einen billigen Wein zu nehmen, wäre aber Schummel.
      Der Geiger Gidon Kremer spiele auf seinem Festival ein (für mich) unerträglicher Avantgarde-Stück, an dessen Ende das Instrument zertrümmert werden musste (sonst wäre es nicht Avantgarde gewesen). Kurz vor der Darbietung dieses Kunstwerks verließ Kremer kurz die Bühne, kam zurück und intoniere dann die Angelegenheit. Im Rahmen der „Wir-sind-allem-überlegen-Bewegung“ ein großer Erfolg. Allerdings bald nach kurzem Schock war dem Publikum klar: Das war ja wohl gar keine Stradivari. Zählt das dann überhaupt noch?
      Auch Ihre Gäste werden bald dahinterkommen, wenn Sie, statt zu einem Châteauneuf-du-Pape zu greifen, mit einem Amselfelder Eindruck zu schinden versuchen: Effekt verpufft!

      1. Das ist ähnlich wie wenn man seinen Sonntagsbraten mit einem billigen Kochwein ablöscht. Man muss da schon konsequent sein.

      2. Kremer zertrümmert eine Fake-Stradivari? Das kennt man sonst ja nur von Jimi Hendrix…

  5. Wer eine Karriere wie die gute Esther hinlegt, ist sicherlich nicht nur Edelnutte, die ihr Vermögen im Liegen erwirtschaftet, sondern vielmehr eine clevere Geschäftsfrau. Oder sie hatte mehr Glück im Leben, als jeder andere von uns; aber daran glaube ich eigentlich nicht.

    1. Erfolgreiche Frauen können nur durch ihre Männer zu besagtem Erfolg gekommen sein? Nun ja, damals waren die Dinge wohl tatsächlich noch ein wenig anders. Immerhin da haben wir uns seither ein wenig bewegt.

  6. Zur Frauenbewegung sagte meine Mutter (ab)wertend: „Talent setzt sich durch.“ Das traf auf sie bei ihren extrem ungünstigen Start-Bedingungen zweifellos zu. Quoten brauchte sie nicht. Ich versuchte ihr beizubringen: es geht nicht um die Wenigen, die es dank ihrer außergewöhnlichen Begabungen (worin auch immer) schaffen, sondern um die Vielen, die nicht genial sind und trotzdem Chancen verdienen. Das nahm sie mehr hin als wahr.

    1. Bukowski sagte sogar mal „Feminismus existiert nur, um hässliche Frauen in die Gesellschaft zu integrieren“.

      1. Urrgh wirklich? Da hat man ja nicht unbedingt so viel Lust seine Bücher zu lesen.

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