Teilen:

1407
Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.21 Moralische Bedenken

Was ich von Oppeln nicht wusste, war, dass es die Hauptstadt Oberschlesiens gewesen war, dass es wohl erst mal zu Mähren gehört hatte, ab 907 zu Böhmen, ab 990 zu Polen, 1039 wieder zu Böhmen gehörte, 1050 von Kasimir I. zurückerobert wurde und dass 1138 nach dem Tod von Bolesław III. Schiefmund (den hatten wir schon mal) Schlesien an seinen ältesten Sohn ging.1 Der wird in der Geschichtsschreibung ‚Władysław der Vertriebene‘ genannt; ein echter Spoiler, der die Spannung effektlos runterschraubt, weil man gleich weiß: Das Glück währte nicht lange. Władysławs Halbbrüder jagten ihn fort. Der römisch-deutsche König Konrad III. war ein Halbbruder von Władysławs Ehefrau. Darum gab er ihm Burg Altenburg als Wohnsitz. Schlesien dagegen bekam sein nächstälterer Bruder: ‚Bolesław IV. Kraushaar‘.2 Ob sich in weiteren tausend Jahren Geschichten über Brexit, Trump und Dieselautos genauso kraus und unwichtig anhören werden, wie uns dieses Hin und Her vorkommt? Bestimmt. Doch macht uns diese Erkenntnis gelassener? – Nein. Der Gedanke, dass alles, was wir sind und tun, einmal bedeutungslos sein wird, macht den Augenblick, den wir erleben, nicht angenehmer. Aber auch nicht schlimmer.

1 https://de.wikipedia.org/wiki/Opole
2 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Boles%C5%82aw_IV._(Polen)

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

700 Jahre zu überspringen ist leicht, jedenfalls in Gedanken. Was ich sehr wohl wusste, war, dass Schlesien nach dem Ersten Schlesischen Krieg 1742 von Österreich an Preußen fiel. Maria Theresia war darüber ziemlich verärgert, aber auch der Zweite und der Dritte (Siebenjährige Krieg) änderten nichts daran: Schlesien blieb preußisch. 1772 teilten Russland, Österreich und Preußen das polnische Gebiet unter sich auf. Friedrich II. hatte mit dieser Freundlichkeit der zögerlichen Maria Theresia einen Ersatz bieten wollen für das eingebüßte Schlesien, ließ er durchblicken. Zarin Katharina die Große war für Russland gleich freudig dabei.3 Sie hatte schon drei Jahre zuvor Friedrichs Bruder Heinrich gefragt, warum Preußen sich nicht das Fürstbistum Ermland an der Ostsee schnappe. „Denn schließlich muss doch jeder etwas haben!“4, fand sie. Nur Maria Theresia hatte nach ihrer eigenen Aussage ‚moralische Bedenken‘ und wollte ihre Ausgleichsansprüche nicht auf Kosten eines ‚unschuldigen Dritten‘ befriedigen. Aber dann tat sie es doch. Friedrich bemerkte dazu kühl: „Sie weinte, aber sie nahm.“5

3 Quelle: Wikipedia
4 Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Teilungen_Polens#cite_note-18
5 Quelle: https://www.habsburger.net/de/kapitel/maria-theresias-schattenseiten?language=de

Foto oben: Pixabay/gemeinfrei | Foto unten: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

1793 und 1795 teilten Österreicher, Preußen und Russen das ehemalige Polen noch etwas befriedigender unter sich auf. Erst ab 1918, nach dem Ersten Weltkrieg, gab es wieder einen selbstständigen polnischen Staat: Deutschland und Österreich waren geschlagen, und Russland hatte genug mit seiner Revolution zu tun. Polen wurde 1939 als erstes Land vom Nazimilitär angegriffen und bekam, als 1945 der wilde Spuk vorbei war, das größte Stück vom deutschen Kuchen. Dafür bediente sich Stalin im Osten: Lemberg war zu Anfang des 20. Jahrhunderts noch österreichisch gewesen, wurde 1918 polnisch (Lwów), 1945 sowjetisch (Lwow) und ist seit 1991 die westlichste Stadt in der unabhängigen Ukraine (Lwiw). Wenn wir denken, unsere Zeit wäre chaotisch, dann sollten wir uns klarmachen, dass jede Zeit chaotisch war und dass oft überschätzte Nichtigkeiten in verheerende Kriege geführt haben, aus denen alle geschwächt hervorkrabbelten.

Foto: Everett Historical/Shutterstock

Die Geschichte von Oppeln will ich nun aber nicht in Einzelheiten aufdröseln, denn nach Oppeln drängte mich kein historischer Grund, sondern Helen. Helen Kuzaj war die Leiterin unseres Münchner Büros. Ich hatte viele Aufnahmen in München, und Helen und ich waren sehr befreundet. Vor drei Jahren ist sie gestorben, und ich fand, ich war es ihr schuldig, dass ich an ihrem Geburtsort nicht gleichgültig vorbeifuhr. Sie selbst war in den Neunzigerjahren mit ihrer Schwester auch dort gewesen und hatte wohl etwas zwiespältige Gefühle gehabt. Für mich war der Ort ja nicht verlorene deutsche Heimat, sondern eine nette polnische Kleinstadt. (ca. 120 000 Einwohner, also Großstadt, merkte man aber nicht.)

Helen, Harald, meine Eltern und all die vielen anderen Toten müssen hoffen, dass ich berühmt werde, denn nur dadurch würden/werden sie in meinen Schriften unsterblich. Roland ist es schon: in meiner Seele, einem neurologisch undefinierbaren Ort. Drei Schritte rechts, drei Schritte links, der Hauptplatz war durch telekommagentafarbige Plastikteile verunstaltet. Oppeln demonstrierte: Man braucht Schönes gar nicht umständlich abzureißen, es reicht völlig, wenn man es mit knallbunten Scheußlichkeiten zumüllt. Einsichten, Ansichten. Zurück ins Auto für Aussichten.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Als motorisierte ‚Second Hand Rose‘ habe ich Autos immer nur übernommen. Extra für die erste meiner großen Nostalgie-Reisen hatte ich mir – eigentlich nur wegen Silkes zarten Wonneschinkens – zum ersten Mal selbst ein nagelneues Auto zugelegt: Diesel. Kurz bevor der Abgastrick aufflog. Überflüssige Zurechtweisung des schnippischen Schicksals. Ich wusste schon vorher, dass bei Abschiedsvorstellungen Triumph und Tragödie nah beieinander liegen. Der Begriff ‚zarter Wonneschinken‘ stammt übrigens von Guntram: Mein Vater bat meine Mutter, diesen Körperteil zu lüpfen, wenn sie im Weg saß oder er mit ihr weggehen wollte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Wir wechselten vom ehemals Preußischen ins ehemals Österreichische: Krakau. Das letzte Stück unserer Anreise ist ja sowieso grundsätzlich Pkw-verboten, aber mein Gepäck hätte ich auch vor dreißig Jahren, als man noch überall die Luft verpesten durfte, nicht kilometerweit bis in die Halle des Hotel ‚Copernicus‘ schleppen können.

‚Das Hotel verdankt seinen Namen Nikolaus Kopernikus, der in diesem Hause wohnte. Er hat sicherlich die polychromen Gemälde, unschätzbaren Malereien und Inschriften aus dem Jahre 1500 und am Abend den Sonnenuntergang über dem Wawel bewundert‘, glaubt die Geschäftsführung. Interessanterweise kostet eine De-luxe-Suite mit Fresken 100 Euro mehr als eine Standard-Suite und immerhin noch 50 Euro mehr als eine De-luxe-Suite ohne Fresken. Welcher US-Bräutigam, Enkel polnischer Einwanderer, spendiert seiner irischen Braut wohl das erhebende Gefühl, am zweiten Morgen der Hochzeitsreise unter Überbleibseln aus dem 16. Jahrhundert aufzuwachen? Und dann auch noch ‚Make-up-Spiegel, Haartrockner, Bügeleisen und -brett auf Anfrage‘. Wir wohnten natürlich bescheidener, keine Hochzeits-, allenfalls eine Bildungsreise, aber überwiegend ein Kennenlern- oder Wiedererkenn-Urlaub, ‚Schnuppertage‘ sagt die Tourismusbranche dazu heute.

Ein kurzer Gang führte auf eine noch autolosere Gasse als unsere, und beim Ausspähen der vielen Straßencafés versuchte ich, das zu erwischen, das die hübschesten Tische, die bequemsten Stühle, die besten Drinks, die freundlichste Bedienung, die interessantesten Gäste und den eindrucksvollsten Ausblick auf Menschen und Gebäude hat. Manchmal kommt man um Abstriche nicht drum herum, dann muss man sich halt mit weniger begnügen. Aber wir saßen wieder draußen und ließen auf uns wirken, was und wen es zu begutachten und zu beschlechtachten gab.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

1980 war ich mit dem Pianisten Krystian Zimerman in Krakau gewesen. Da sah es noch ziemlich verfallen aus, nach Abschied und versunkener Pracht. Jetzt ist es rausgeputzt wie eine lustige Witwe. Damals, 1980, war ich mit Krystian in seiner Heimatstadt Zabrze gewesen, dem früheren ‚Hindenburg‘. Ich übernachtete in Kristians Elternhaus, ziemlich einfach. Am nächsten Tag zeigte er mir das nahe Krakau. Krystian war damals schon eine Berühmtheit in seiner Umgebung, und so wurden auch die eigentlich dem Publikum nicht zugänglichen Räume des Wawel für uns aufgeschlossen.

Krystian hatte seine Eltern im vergangenen Jahr zu einem seiner Konzerte nach München eingeladen. Sie waren ganz erschlagen von der Andersartigkeit des ‚Kapitalismus‘. Bisher hatten sie sich in Polen immer als Deutsche gefühlt, die der Vertreibung entronnen waren. Nun wussten sie: Sie waren nur noch Schlesier, heimatlos.

23 Kommentare zu “#2.21 Moralische Bedenken

  1. Ich hoffe, dass man in tausend Jahren die Episode Trump eher als absurde Geschichte als als geschichtsträchtiges Geschehen betrachtet.

    1. Das Problem ist allerdings, dass er die politische Landschaft und die Art und Weise wie die Medien benutzt und missbraucht werden so stark verändert hat, dass zukünftige (ernsthaftere) Präsidenten wohl nicht mehr so einfach zum bisherigen Prozedere zurückkehren können.

    2. Ich finde es eher höchst interessant, dass sein Hauptanliegen darin zu bestehen scheint Obamas politisches Wirken auszulöschen.

      1. Das kann in der Tat für eine zweite Amtszeit reichen, vor allem wenn sich die Demokraten weiter so blöde anstellen. Wirklich nicht abzusehen, wie sehr Trump dem Amt als solches Schaden wird. Es geht jedenfalls um sehr viel mehr als nur um ein paar Gesetze.

  2. Das Leben ist ein bedeutungsloses. Keine Frage. Im Alltag beschäftigt mich das erstaunlich wenig. Eher die Frage nach meinem persönlichen Glück hält mich auf Trab.

  3. Bei Straßencafés achte ich meist auf die beste Aussicht. Nichts ist spannender als Menschen auf der Straße zu beobachten. Guter Kaffee kommt gleich danach.

  4. Man brauch eigentlich nur mal in den Geschichtsbüchern lesen um zu begreifen, dass Grenzen eigentlich nicht wirklich bestehen. Dass Länder einfach mal untereinander aufgeteilt wurden, Grenzen festgelegt und dann wieder verschoben wurden. Der ganze wieder erstarkende Nationalismus hat also gar keine richtige Grundlage.

    1. Ingmar Bergman hat in völlig anderem Zusammenhang gesagt „Es gibt keine Grenzen. Weder für Gedanken, noch für Gefühle. Es ist die Angst, die immer Grenzen setzt“. Man kann das genauso gut auf politische Zusammenhänge übertragen.

      1. Angst vor dem Fremden und Angst vor Verlust, nichts anderes ist Nationalismus doch.

      2. Und der Stolz auf eine vermeintlich glorreiche Vergangenheit. Wenn man selbst nichts vorzuweisen hat, scheint das Erbe des Blutes ein Weg aus der Minderwertigkeit: ein Beweis, noch schlagender als der Gewinn von elf fremden Spielern, in deren Verein ich zufälligerweise bin.

      3. „Niemand wird mit dem Hass auf andere Menschen wegen ihrer Hautfarbe, ethnischen Herkunft oder Religion geboren.“ Und doch ist es ein sehr bequemer Ausweg aus den eigenen Problemen. Wenn andere Schuld sein können spart man sich die Auseinandersetzung mit der eigenen Minderwertigkeit.

  5. Es reicht völlig, wenn man unsere Städte mit irgendwelchen Scheußlichkeiten zumüllt. Oder ähnlich effektiv jeden Charm wegmodernisiert.

    1. Das muss man leider so sagen. Viel zu oft werden da einfach irgendwelche Gebäude hingeknallt. Ohne jeden Sinn dafür einen ansprechenderen Stadtraum zu gestalten.

    2. Man muss aber zugeben, das seit den 80er Jahren im Westen ein Umdenken stattgefunden hat. Wohl auch durch die Hausbesetzer. Im Osten blieb es bis 1990 schlimm. Hässlichkeit entsteht oft aus Geldmangel: beim Bauen, beim Wohnen, beim Kleiderkauf. Das ist einzusehen und zu bedauern. Hässlichkeit mit viel Geld ist unverschämt – oder Geschmacksache.

      1. Grundsätzlich hat es das sicher. Ich würde auch gar nicht behaupten, dass die Städte grundsätzlich hässlich sind. Mich erstaunt vielmehr, dass alles gleich aussieht. Die Innenstädte verlieren so oft ihre Eigenheiten und ihren Charme.

      2. Sahen die Städte im Mittelalter vieleicht auch alle gleich aus? Bloß statt Tchibo und Douglas zweistöckige Bürgerhäuser. Vielleicht ließen sich die Orte immer schon vor allem an ihren Kirchtürme unterscheiden.

Schreiben Sie einen Kommentar!

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

eins × 4 =