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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.28 Das GROSSE GANZE gegen das kleine unerhebliche

Zum nächsten Chopin-Wettbewerb fünf Jahre später reiste ich wieder an. Wieder konnte ich den Sieger verpflichten. Stanislav Bunin. Auch über ihn lese ich mit Erstaunen, dass er eine Weile in Hamburg gelebt hat, jetzt in Japan wohnt und weltweit gastiert. Seltsam, in den Medien, die ich verfolge, kommt klassische Musik kaum vor, eher Pop-Alben, Kino, Literatur, Seelengraffiti. Vielleicht ist die Klassik gar nicht tot, vielleicht bin bloß ich scheintot: weg von allem, im Niemandsland zwischen Kunstkritik und Klatschspalte.

Foto: Thomas Reimer/Fotolia

Als ich 1985 in Warschau eintraf, war ich vorher – eigentlich überall gewesen. Wenn ich nur die wichtigsten Stationen des Jahres herauspicke: Amsterdam, London, Paris, Rom, New York, Tokio, Sidney. Hätte ich all diese Schauplätze nicht in meinem Jahresfilm festgehalten – ich würde es selbst kaum glauben. So durch die Welt zu fliegen war damals noch etwas weniger üblich, als es heute ist, und deshalb war es für die Passagiere sehr viel komfortabler, vor allem auf Geschäftsreisen. Ich bin in meiner Studenten- und Lehrlingszeit sehr einfach gereist, ich habe Nächte in eigentümlichen Schlafstätten zugebracht und gegessen, was die Imbiss-Karren am Wegesrand hergaben – Jugendzeit, Freud und Leid. Ich gebe es zu: Ich war froh, dass es dann schnell anders wurde. Masse und Qualität kennen sich nur vom Wegsehen, glaubte ich zu lernen. Dabei waren die Standesunterschiede zwischen Regierenden und Regierten im Sozialismus deutlich größer als im Kapitalismus. Das weiß ich, weil ich im Ostblock nur mit den Regierenden zu tun hatte, von da oben bedauernd auf die Regierten hinabsah und ihnen sonst höchstens mal in der U-Bahn begegnete.

Erwartungsgemäß war Warschau in den dreißig Jahren ohne mich noch viel schöner geworden. Vor allem das damals unbewohnbare ‚Bristol‘ war inzwischen das einzige der ‚Leading Hotels of the World‘ in Polen, allerdings doch nicht selbstständig, sondern an die Kette gelegt: Le Méridien Group. Einzeln kann man wohl in dieser Kategorie nicht mehr bestehen. Das ‚Adlon‘ in Berlin gehört ja auch zur Kempinski Hotels S. A. Genf, die eine Tochtergesellschaft der Kempinski AG in München ist, die ihrerseits Gründungsmitglied des Hotelnetzwerkes Global Hotel Alliance (GHA) ist. Größter Anteilseigner der Aktiengesellschaft sind die Scheichs von Bahrain. Global genug?

Fotos (2): arizanko/Fotolia

Für den Abend hatte ich ein Restaurant herausgesucht, von dem ich hoffte, dass es das angesagteste Restaurant in Warschau sei. Der Taxifahrer brachte uns zu einer herrschaftlichen Jugendstilvilla, gleich im Foyer üppige Blumenarrangements, gedämpfte Klaviermusik, weicher Teppichboden, nach kurzem Warten wurden wir an unsere Plätze geleitet. Festlich gedeckte Tische in drei mittelgroßen Räumen, sorgsam gekleidete Menschen redeten leise miteinander, ja, es musste das nobelste Restaurant sein, zumindest sprach nichts dagegen. Warschau wird ‚Paris des Ostens‘ genannt. Zehn andere Städte auch. Vielleicht ist Paris ja das Warschau des Westens.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Na ja: Lutetia, wie Paris damals hieß, entwickelte sich seit Mitte des 3. Jahrtausends vor Jesus aus der keltischen Siedlung der Parisii. 1 Da kann Warschau nicht mithalten. Erst im 9. Jahrhundert gab es die erste befestigte Siedlung auf dem Gebiet des heutigen Warschau, und erst 1241 wurde Warschau selbst in einer Schenkungsurkunde erwähnt. Vorher schon war Bolesław III. Schiefmund, der uns auf unserer Reise ja unermüdlich begleitet, seit 1107 Alleinherrscher über Polen gewesen. Nach seinem Tod wurde es ungemütlich, und 1242 zerstörten – man glaubt es nicht – die Litauer(!) die Warschauer Siedlung.2 Wer hätte das dem inzwischen so kleinen Ländchen zugetraut? Jetzt lass ich alles Mögliche aus und erwähne erst wieder, dass in den Jahren 1655 bis 1657 Warschau von den Schweden, Brandenburgern und Siebenbürgern völlig zerstört wurde. Die Paläste wurden ausgeraubt und niedergebrannt und die geplünderten Kunstschätze und Bücherbestände nach Schweden verschifft. Diese Verwüstung soll Hitler nicht relativieren, im Gegenteil: Nicht mal dabei war er der Erste. Es ging so immer weiter. Nach der Schlacht bei Warschau massakrierten 1794 die Russen mehr als zehntausend Zivilisten. Ein Jahr später wurde Polen zum dritten Mal geteilt. Warschau wurde Teil von Südpreußen. Die Bevölkerungszahl sank gewaltig auf nur noch 115 000 Einwohner.3

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Nach dem Wiener Kongress wurde Warschau russisch (besetzt). Im Ersten Weltkrieg nahmen deutsche Truppen am 5. August 1915 Warschau ein. Die russische Armee hatte bei ihrem Abzug noch strategische Gebäude und Brücken niedergebrannt. Die Deutschen hatten aber kein langfristiges Glück mit ihrer Beute, weil sie den Krieg nun mal verloren. Der 11. November 1918 wurde in Polen als Unabhängigkeitstag gefeiert. 1939 hatte Warschau mehr als 1,3 Mio. Einwohner4. Dann kamen die Deutschen: fünf Jahre entsetzlicher Besatzungszeit, Terror. Im Warschauer Aufstand, der durch Einheiten der Waffen-SS niedergeschlagen wurde, kamen fast 200 000 polnische Soldaten und Zivilisten ums Leben. Auf Hitlers Befehl wurden die meisten noch vorhandenen Gebäude gesprengt und Warschau wurde völlig zerstört. Die überlebende Bevölkerung wurde in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit deportiert. Ab 1945 hatten mal wieder die Russen das Sagen; am 14. Mai 1955 wurde der Warschauer Pakt unterzeichnet, der alle Ostblockstaaten unter sowjetischer Führung zusammenschweißte. Das funktionierte mehr schlecht als recht bis 1989. Am 18. Mai 1990 wurde die Warschauer Selbstverwaltung wiedereingeführt. Kein Mensch muss sich all diese Zahlen und Ereignisse merken, aber sie zeigen, wie die gute alte Zeit war: sehr schlecht.

Fotos (6): Privatarchiv H. R.

Am Sonnabend war das Wetter schön, schon am Morgen. Ich fand es an der Zeit, das umständliche Mitschleppen des Rollstuhls endlich wieder berechtigt erscheinen zu lassen, und setzte mich. Rafał schob mich, Silke trug ihre Handtasche. Nun erlebte ich all das im Sitzen bei Sonnenschein, was mir noch rastlos laufend bei bedecktem Himmel in Erinnerung war. Eine andere Sichtweise, ein anderes Lebensgefühl, eine andere Zeit. Im Rollstuhl kann man sich nicht umdrehen, aber meinen Rückwärtsblick störte das nicht. Am Samstag in der Innenstadt schien mir das Zentrum mehr den Touristen als den Einheimischen zu gehören. Das störte mich wieder nicht, im Gegenteil, ich fand es gerade sehr lebendig: Die Menschen hier waren nicht gekommen, um zu arbeiten oder einzukaufen, sondern um zu betrachten, na ja, manche auch nur, um sich gehen zu lassen. Ich ließ mich schieben, erst über Straßen und Plätze, dann vor ein Gasthaus mit Ausblick. Wir setzen uns zwischen Eingang und Straße. In der Sonne war es schon fast heiß. Wie immer stieg ich aus meinem Rollstuhl, um mich in einen Caféhausstuhl fallen zu lassen, dann kam ich mir gleich weniger behindert vor, so lange, bis ich mein Glas in die linke statt in die rechte Hand nehmen musste. Wir sahen vom Lokal ‚Bazyliszek‘ auf den Altstadtmarkt ‚Rynek Starego Miasta‘. Warschaus Altstadt wurde ab 1946 historisch wiederaufgebaut und ist seit 1980 Weltkulturerbe5 der UNESCO. Wir hatten also einen weihevollen Ausblick. Andere tranken Bier wie ich, Silke Espresso, wie immer. Ich mag ja nachgemachtes Altes lieber als fantasieloses Neues. Dass die UNESCO das genauso sieht, wundert mich ein bisschen. Wenn dem Berliner Stadtschloss irgendwann mal genau solche Ehre widerfahren sollte, dann lebt Preußen wieder auf. Zumindest als Mumie, Lenins Leiche überlegen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Auf unserem anschließenden Spazierweg gefiel uns ein Restaurant mit Straßenterrasse besonders gut, und weil wir sofort reservierten, bekamen wir auf dem Rückweg den für uns freigehaltenen Tisch. Auf diesem Level ist meine Planungswut inzwischen angekommen. Es geht mir offenbar nicht mehr ums GROSSE GANZE, sondern ums kleine unerhebliche. Aber ich beschwichtige mich: Schauen ist bedeutsamer als Schlemmen, die Atmosphäre ist wichtiger als das Aroma. Rafał fotografierte mit seinem Smartphone ein paar Straßenmusikanten, also blieb doch noch etwas für die Ewigkeit, wenn die Speisen längst verdaut sein würden.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Im weiteren Verlauf des Nachmittags überließ ich meinen Begleitern die Stadt, beziehungsweise der Stadt meine Begleiter, mich selbst überließ ich in meinem Hotelzimmer meiner Gedankenflut, wie immer.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die Welt findet jetzt überwiegend ohne mich statt, und natürlich nehme ich ihr das übel. Andererseits: Jugend ist nicht immer ein Nachteil, obwohl man das mit 14 so sieht. Jetzt weiß ich, wie sich das anfühlt – alt zu sein. Als Kind war ich unsterblich und hatte das ewige Leben, doch nun, wo das so viel dringlicher wäre, ist mir die Ewigkeit abhandengekommen: kein individueller Fortbestand meines unsteten Charakters, wenn sich mein Leib dereinst zu den Radieschen verabschiedet haben wird.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Es ist so wunderschön, wenn es zu spät ist für alles: Ich kann von einem makellosen Körper, dem Oscar und dem Nobelpreis träumen, ohne die geringste Anstrengung machen zu müssen, je etwas davon zu erreichen. Die Wunschvorstellungen haben nicht mehr den Wunsch, Wirklichkeit zu werden, sondern sie begnügen sich damit, unbenutzt, unbeschmutzt als Wünsche zu sterben. Vor 30, 20, 10 Jahren hätten solche Träume mich noch geärgert, weil sie meinen Ehrgeiz angestachelt hätten. Jetzt sind sie wie Schlieren auf der Windschutzscheibe, und es gibt keinen Anlass, die Scheibenwischer zu betätigen. Ich wollte gewandt, durchtrainiert, einfühlsam und bedeutend werden. Und was bin ich geworden? Im Alltag abhängig und im Finanziellen unabhängig. Das finde ich, wenn die Träume nicht in Erfüllung gehen, einen angemessenen Schadenersatz.

Fotos (3): Privatarchiv H. R. | Titelillustration mit Bildern von Shutterstock: Ruslan Semichev, Richard Peterson, PHOTOCREO Michal Bednarek, Vincze Szabi, Kamonluck_S, gomolach

31 Kommentare zu “#2.28 Das GROSSE GANZE gegen das kleine unerhebliche

  1. Dass Erlebnispark-ähnliche Neu/Wiederbauten wie das Berliner Stadtschloss tatsächlich mal zum Weltkulturerbe werden, ist schon eher mehr als nur ein wenig absurd.

      1. Man möchte ja kein Verschwörungstheoretiker sein, aber durchaus eine spannende und berechtigte Frage. Auch nicht uninteressant, dass der Status unter Umständen wieder aberkannt werden kann.

      2. Dabei empfand ich die Waldschlösschen-Brücke in Dresden gar nicht als störend. Sollte aber so eine UNESCO-Aberkennung den Touristenstrom wirklich zügeln, so empfehle ich für Venedig dringend eine Seeschlösschen-Brücke.

  2. Ich glaub auch gar nicht, dass die klassische Musik tot ist. Aber für die Klatschspalten der Boulevardpresse oder große Unterhaltungssendungen im TV sind halt andere Themen interessanter.

    1. Man fragt sich allerdings ob in 400 Jahren noch jemand von Justin Bieber redet. Von Bach mit hoher Wahrscheinlichkeit schon.

      1. In 400 Jahren muss man sich (dem Klimawandel sei Dank) wohl keine Großen Sorgen mehr um Bach oder Bieber machen.

      2. Wenn man auf Stephen Hawking hört, wäre die Erde in rund 100 Jahren bereits unbewohnbar. Australische Forschungs-Teams redeten neulich von 30 Jahren. Was auf unsere Enkel oder Urenkel zukommt, daran möchte man nicht denken.

      3. In meiner Jugend wurde sich vor Nato-Doppelbeschluss, Atomkrieg, Waldsterben und RAF gefürchtet, auch so, als wäre morgen alles vorbei. Bisher – b i s h e r – hat die Menschheit immer einen Ausweg gefunden, obwohl die meisten dachten: so schlimm wie jetzt war es noch nie. Vielleicht wäre es nach all den anderen Gesichtpunkten, über die es Bücher gibt, interessant, mal eine Weltgeschichte der Befürchtungen zu schreiben, einschließlich Vandalen und Hölle.

  3. Wird man mit fortschreitendem Alter wirklich gelassener, hat weniger Erwartungen, gibt den Dingen weniger Wichtigkeit? Schön wäre es.

    1. Ich frage mich vor allem ob die Welt nicht immer ohne uns stattfindet. Und es einfach ein paar Jahrzehnte dauert, bis wir diesen Fakt akzeptieren.

      1. Immer wieder interessant, dass im sogenannten Informationszeitalter immer weniger Menschen informiert zu sein scheinen…

      2. es ist aber auch äußert schwierig hinterherzukommen. schließlich wird die masse der verfügbaren information größer und größer. man muss sich schon anstrengen um nicht den anschluss zu verlieren.

    1. Die Kunst ist, sich nicht von dem ganzen Großen beeindrucken zu lassen, sondern seine Wahrnehmung auf die kleinen Dinge zu lenken. Ohne das Gesamtbild aus den Augen zu verlieren natürlich.

  4. Schade, dass man im Alter zwar die (wenigen) Vorteile des Alters kennt, als Jugendlicher aber kaum versteht welche Möglichkeiten einem die Jugend bietet.

    1. Ist es nicht generell so, dass man Dinge erst schätzt wenn man sie verliert?! Die Jugend würde ich da ebenfalls mit einbeziehen.

      1. Hildegard Knef sang: „Dass es gut war, wie es war, das merkt man hinterher. Dass es schlecht ist, wie es ist, das merkt man gleich.“

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