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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.38 Romantik des Entlegenen

Irenes Hoffnung, auf dieser Reise die Wurzeln dessen wiederzufinden, was sie sich dort als Lebenswunsch erarbeitet hat – Eleganz – Perspektive – Weltbewusstsein – konnte sich in diesem Badeort von 1997 nicht erfüllen. Vielleicht wird uns mit zunehmendem Alter das Herz deshalb so schwer, weil wir so vieles zu tragen haben, das uns kein Mensch mehr abnehmen kann: das Herz als Rucksack. Dabei beschweren wir uns die Wanderschaft, weil wir zwar immer weniger Proviant dabei haben, aber immer mehr Erinnerungen. Ganz so schön wie die Erinnerungen, die ja immer mit Leuchtfeuern aufwarten, war es vielleicht in den Dreißigerjahren gar nicht. Keine Ballnacht ist so rauschend, kein Ereignis so grandios wie das, zu dem man keine Eintrittskarte hatte, aber natürlich gab es damals weder Frittenbuden noch all diese Stände mit quietschbunten Gummitieren.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Das ethische Problem ist, dass das ästhetische Problem ja weniger in den unangestrichenen Fassaden besteht als in den schlecht gekleideten Leuten und deren Triebbefriedigung durch Bratwurst und Brause. Stimmt schon: Dass die es nett haben, vergällt mir das Leben. Ich verstehe Irenes Standpunkt vollkommen, aber ich sehe auch, wie bedenklich er ist. Vermutlich würde Irene sagen: „Die müssen doch hier nicht sein, die würden sich woanders doch genauso wohlfühlen.“ Da sitzt sie nun auf dem Steg, für den sie sich damals vom ersten selbst verdienten Geld endlich die verbilligte Eintrittskarte für Ortsansässige leisten konnte, und kann sich jetzt alles leisten: ihre Cola, ihre erloschenen Träume und ihre Unzufriedenheit. ‚Unzufriedenheit‘ ist der Luxus derer, die die Gier verloren haben. Auf den Müllhalden vor Rio gibt es das Wort nicht. Wir können es ändern, leben zu müssen, aber dieser Schritt fällt uns normalerweise genauso schwer wie der Schritt, weitermachen zu müssen. Ich bin an Rolands Tod kaputtgegangen.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Da ist, aufs Ganze gesehen, nichts Besonderes passiert. Eine Vase ist auf den Boden gefallen, keine wertvolle. Wäre nicht in der Zugluft der Fensterflügel aufgesaust, hätte wahrscheinlich jemand Tollpatschiges die Vase mit dem Ellbogen umgestoßen. Na und? Vielleicht war Roland reif zu sterben, und ich war reif zu zerbrechen. Ich sehe das ziemlich mitleidlos und mache mir meinen Spaß: Indem ich in all meiner Mutlosigkeit meinem Körper jede nur erdenkliche Lust abzwacke, strecke ich dem Schicksal die Zunge raus bis ans Firmament. Kindisch, was? Wann – im Angesicht der Ewigkeit – hat das Erwachsensein zu beginnen?

Foto: Privatarchiv H. R.

Ach, nun ist der Sommer so heiß, der Wein so kühl, die Rose so rot, und was mich aufbringt, ist, dass die Sommer ohne Roland nicht mal mehr das sind, was die Sommer vor Roland waren. Aber – es ist so banal, dass sich der Filzstift sträubt: Was einen nicht umbringt, stellt einen gleich vor die nächste Aufgabe. Dabei machen wir dann pflichtbewusst weiter, zuversichtlich, dass unser Tod dereinst von den Weiterlebenden als Entschuldigung für die Aufgabe seiner Aufgaben gesellschaftlich anerkannt bleiben wird. Ich würde gern all meine Tüchtigkeit dareinsetzen wollen, die Faulheit als Begründung für das Nichterreichen von Zielen genauso hoffähig zu machen wie den Tod – wenn es denn die Faulheit gäbe. Aber – und keiner hat sie besser studiert als ich – sie ist ein Abstraktum. Es gibt lähmende Verzweiflung, nicht eingesetzte Arbeitskraft, die Lust, keinem Zweck zu dienen, den Wunsch, an etwas zu werkeln, was als unnütz gilt – und natürlich: Einkehr. Keinem Eremiten ist je Faulheit nachgewiesen worden, Stars aus Film und Sport, die nicht mehr spuren, oft.

Foto links: Peeter Gijsels/Gemeinfrei | Foto rechts: Drobot Dean/ Adobe Stock

Manchmal denke ich, ich habe mit nichts, was ich sage, recht, aber es sei meine Aufgabe, allen weiszumachen, dass es doch stimmt. Genauso reagiere ich als Publikum: Ich bin dankbar für Enttäuschungen, denn sie beweisen mir, dass ich noch Höhepunkte erwarte. Das finde ich quicklebendig, aber allzu oft passiert mir selbst das nicht mehr. Dass wir alle eher mit dem Schlimmsten rechnen als mit Höhepunkten, macht mich traurig. Vielleicht würden Enkel oder Einfalt helfen. Beides wird niemandem von uns noch geschenkt werden.

Foto: Unknown/Gemeinfrei

Ich brauche die Ekstase oder wenigstens den Alkohol, um die Ewigkeit zu vergessen, damit ich imstande bin, dem Augenblick Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: Im brütend heißen Auto zu sitzen, rechts und links Felder und Wälder, und mit Guntram darüber zu grübeln, ob diese fünf viereckigen Häuser früher wohl Pommern oder immer schon polnisch waren. Grenzen faszinieren mich seit meiner Westberliner Kindheit. Ich fand die Stelle in Jerusalem aufregend, an der vor dem Sechs-Tage-Krieg Jordanien begann, das Stück am Strand, wo früher die Trennung zwischen dem Freistaat Danzig und dem von den Polen nach dem Ersten Weltkrieg ertrotzten Zugang zum Meer lag, den provozierten Augenblick, als ich dachte: ‚Jetzt sterbe ich.‘ Aber stattdessen wurde das Leben dahinter ein bisschen fremder und ein beträchtliches Stück lustvoller.

Foto: Privatarchiv H. R.

Wir waren, nach dem Ausflug zum Disneypark Danzig, auf dem Weg in die Kaschubei. Da beginnt nicht nur Günther Grass’ ‚Blechtrommel‘, da war auch Irene im Ferienlager, und da stand die Datscha von Krystian Zimermans Agentin, als ich 1976 seinen ersten Vertrag verhandelte.

Foto: Janusz Lipiński/Adobe Stock

Die Kaschubei, das heißt Seen und Wälder. Fontanes Brandenburg und das mückengeplagte Finnland nehmen dieselben Qualitäten für sich in Anspruch. Aber irgendwie wurde ‚die Kaschubei‘ – die Romantik des Entlegenen – durch keinerlei Restaurant zerstört, es war längst zwei, und in Österreich hätte man längst auf einer Terrasse gesessen und Grünen Veltliner getrunken, aber dafür wären die Hügel nicht so flach gewesen.

Foto: hubson/Adobe Stock | Fotos unten (2): Privatarchiv H. R.

Das ein oder andere Campingplatzsymbol am Straßenrand ließ darauf schließen, dass außer uns noch andere Gäste erwartet wurden, deren Bewirtung war allerdings nicht vorgesehen. Guntram liebt ja Landschaft, er saß auch vorn. Irene saß hinten und wollte lieber was trinken. Als wir einen Ort erreichten, der unsäglich war, besonders sein polnischer Name, fanden wir dort zwar kein Gartenlokal, aber immerhin eine Bude, in der Irene, kurz vor dem Kollaps, eine Cola bekam. Auf meiner deutschen Landkarte stand übrigens klein in Klammern ‚Korthaus‘ unter der landesüblichen Bezeichnung des Nestes, was mich spekulieren ließ, dass es ehemals Pommern war. Oder Westpreußen. Also jedenfalls nach den Maltesern, während der drei polnischen Teilungen, bei Reichsgründung, vor dem verlorenen Ersten Weltkrieg, bestimmt ab Ende 1939: deutsch. Und Guntram hatte, wie er so über den Marktplatz ging bei 40° ohne Schatten und die bröckelnden Fassaden mit den Augen abtastete, so was halb Missbilligendes, halb Lüsternes im Blick, dass in mir der Verdacht aufkeimte, er würde durchaus den Dritten Weltkrieg riskieren, um daraus wieder was Ordentliches zu machen. Ärgerlicherweise läuft Eindeutschung heutzutage ja doch bloß auf Aldi, Parfümerie Douglas und Obi raus, nur größere Orte können sich auch Galeria Kaufhof leisten. Aber was wäre besser, wenn es noch einen Gucci-Laden und ein Restaurant gäbe, das sich ‚Auberge‘ nennt und 50 Złoty für den Auberginensalat nimmt?

Foto links: Privatarchiv H. R. | Foto rechts: Hassel Sinar/Shutterstock

Suchen wir das, was wir – als Wunsch, als Traum? – in uns haben, oder suchen wir das, was wir finden möchten, weil es uns fehlt, ohne dass wir es benennen können? – Keine Ahnung. Wir fanden jedenfalls an einem dieser Seen doch noch was. Irene mäkelte, dass die kaschubischen Seen dafür berühmt gewesen seien, dass undurchdringliche Wälder sie umgeben hätten. Mein Einwand, dass wir solche Seen dann ja weder sehen noch mit dem Auto erreichen könnten, war ein schwacher Trost für sie, sie war selber schwach. Sitz du mal stundenlang bei 39° hinten im Auto, dann lässt du dich auch nicht mehr auf meine sophistischen Argumentationen ein.

Foto: Cesare Maccari/Gemeinfrei

Das Lokal lag inmitten von Bäumen, über einem See und war durch und durch echt. So kenn ich den Ostblock seit meiner ersten Reise dorthin. Weder amerikanisches Fast Food noch der Anschein europäischer Kultur. Blick auf Weite und drinnen alles eindeutig in den Farben. Da gab es keine Diskussionen über Nuancen: Die Tischdecken waren eindeutig grün, die Lampenschirme eindeutig rot, so braune Wände hab ich in meinem Leben nicht gesehen.

Irene aß zunächst einen rosa Borschtsch, der ihr nicht schmeckte, dann ließ sie eine halbe Ente stehen. Sie war sowieso nicht bei Appetit, allerdings wurde etwas vor sie aufgebaut, das auch als halbes Wildschwein durchgegangen wäre. Ihre Pupillen signalisierten augenblicklich Block, und der Magen machte für den Rest der Reise die Schotten dicht. Guntram, mehr preußisch als polnisch erzogen, wobei die Verwandtschaft beider keine hundert Kilometer auseinanderwohnte, verleibte sich beachtliche Fetzen der anderen Entenhälfte ein, nachdem er vorher schon an seinem weißlichen Borschtsch Gefallen gefunden hatte.

Foto: Natallya Naumava/Shutterstock

Ich hatte erst an einer ‚Salami‘ titulierten Mettwurst gekaut und spülte dann einen ‚altpolnischen Schweinsbraten‘ mit zwei Wodka weg. Es war unvergesslich. Die Weltabgeschiedenheit. Der See in den waldigen Hügeln. Die dumpfe Hitze, der dumpfe Kellner. Unser Zusammenleben ist ein Kunstwerk. Alle Kunstwerke sind zerbrechlich, ein Meißener Nippes wie ein trojanischer Tempel. Unser Zusammenleben ist ein besonders künstliches Kunstwerk, aber die Künstlichkeit ist nicht sein Ruin, sondern sein Kitt.

Foto: Privatarchiv H.R.

Die Rückfahrt durch den glühenden Feierabendverkehr auf erst enger, dann großspuriger Straße gab uns erst Gelegenheit zu einem Schwitzbad und schließlich den Rest.

Foto: Lux/Adobe Stock | Titelillustration mit Bildern von: Red Tiger, vilax, Edilus, Egorov Artem, illustrator096 von Shutterstock

29 Kommentare zu “#2.38 Romantik des Entlegenen

  1. Der Verlust eines geliebten Menschen ist das Schlimmste, das einem passieren kann. Schlimmer als eigenes Leid. Leider ist das wirklich so.

    1. Keine Frage. Man darf es niemandem wünschen, und doch ist es fast unausweichlich. Ein kleiner Trost, wenn man es trotz allem schafft dem Schicksal die Zunge rauszustrecken.

    2. Vor 14 Jahren habe ich meinen Partner verloren. Das Leben muss weiter gehen, aber seitdem ist nichts mehr wie es vorher war.

      1. Leider ist das Leben ja hinterher nicht wenigstens mehr das, was es vor der Parterschaft war. Darum habe ich kein Haustier. Ich fürchte, dass der Schmerz über den Verlust größer sein wird als die Freude zuvor. Bei „Liebe“ ist solche (Auf)rechnung natürlich unmöglich. Gott sei Dank.

  2. Ich finde es immer interessant wenn Menschen nach Ekstase suchen. So viele von uns gehen doch eher teilnahmslos oder abgestumpft durch das Leben. Jedenfalls empfinde ich es oft so.

  3. So sehr Erwartungen zu Enttäuschungen führen können … es ist doch wahnsinnig traurig wenn man irgendwann gar nichts mehr vom Leben erwartet.

    1. Sich nicht unterkriegen lassen, egal was das Leben mit einem macht. Auch das gehört wohl zum unaufhörlichen „Leben lernen“.

      1. Wie weit es programmierbar ist: „sich nicht unterkriegen zu lassen“, das ist wohl noch nicht genügend erforscht. Ist es nicht Teil der asiatischen Philosophien, alles, was kommt, gelassen hinzunehmen? Anderen reicht die Vorfreude auf milde Tage oder auf Würstchen mit Kartoffelsalat oder auf den Besuch des Oberarztes. Sich erkennen, sich erziehen, sich abfinden. Nicht leicht oder zu leicht?

  4. Der ‚altpolnische Schweinsbraten‘ muss mit zwei Wodka runtergespült werden 🙂 Ziemlich genau so sehen meine eigenen Erinnerungen auch aus, hahah!

  5. Das Disneyland Danzig kenne ich noch nicht, die Warschauer Altstadt scheint mir aber ähnlich disneyartig aufgehübscht zu sein.

      1. So isses. Original oder Fake, solange man sich wohlfühlt ist das doch alles ziemlich egal.

    1. Ein Penthouse schafft Abhilfe:
      50 Central Park S, New York, NY 10019 schon für $49,000,000 bei „Zilow“ zu haben. Preis vielleicht verhandelbar. Ich drücke die Daumen!

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