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Leben lernen / Ein Versuch  —   Die erste Reise

#2.8 Symbolfigur der freien Welt

Craig machte das übliche betretene Gesicht, das er berufshalber aufsetzt, wenn er Smoking trägt und Bernsteins Kleidung durch die Flure oder wenn er Fans den Zugang ins Allerheiligste verwehrt. In Jeans in Clubs grinst er sehr hinterhältig, und sobald man das weiß, fürchtet man sich auch dann nicht mehr vor ihm, wenn er seine Arbeitskleidung mit seinem Arbeitsgesicht kombiniert.

Foto: Viorel Sima/Fotolia

Ich fahndete nach jemandem, der verschreckt aussah und einen schäbigen Sonntagsanzug trug. So einer stand da auch rum, und ich fragte ihn, ob er von der Hausverwaltung sei. Er bejahte das und händigte mir anstandslos die beiden von Harry reservierten Karten aus.

Foto: Viorel Restyler/Fotolia

Ich lief also die Treppe wieder raus ins Freie, um Lutz und Frank zu beglücken. Gott sei Dank kenne ich Harrys Geschmack ziemlich gut, und so fiel es mir nicht allzu schwer, sie unter den hundert Menschen an der Schauspielhausflanke herauszupicken, zumal die Sehnsüchtigkeit ihres Blickes ein wenig fordernder war als die der Umstehenden. Frank war blond und forsch, Lutz war blond und schüchtern; auf diese Weise konnte man sie gut voneinander unterscheiden. Frank hatte den Abend auch schon fest verplant: Nach dem offiziellen Teil im ‚Hotel Berlin‘ sollte in den ‚Offenbach-Stuben‘ weitergefeiert werden, einer der raren privaten Gaststätten auf dieser Seite der Mauer, und ich wurde zur Bekräftigung dem Restaurationsbetriebsleiter auch gleich entgegengeschubst. Er unterschied sich nicht wesentlich von westlichen Gastronomie-Tucken und freute sich eindeutig mehr auf seine Gastgeberrolle als auf das musikalische Programm. Der Osten musste nämlich mit Haydns ‚Sinfonia concertante‘, Bernsteins Divertimento und Schumanns ‚Erster Sinfonie‘, der ‚Frühlingssinfonie‘ (und das im Oktober!), vorliebnehmen und auf das ‚Zweite Klavierkonzert‘ von Brahms verzichten; das bekam nur der Westen, weil Krystian Zimerman sich weigerte, Ostberlin zu betreten, geschweige denn zu beschallen. Er hatte allerdings auch schon einige Schikanen dort hinnehmen müssen. So zwang man ihn einmal, als er mit dem Auto von Polen kam, am Übergang Heinrich-Heine-Straße umzukehren, aus dem auf dem Stadtplan rechten – politisch vermeintlich linken – Teil Berlins wieder heraus-, dann um halb Berlin herumzufahren und von Staaken aus in Westberlin einzureisen. Es war ihm nämlich nur gestattet, die selbstständige politische Einheit von der DDR aus anzusteuern, nicht von deren Hauptstadt aus.

Foto oben: Clarini/Fotolia | Foto unten: mike6050/Fotolia

Ich versprach, mich dafür zu verwenden, dass Bernstein die Einladung in die ‚Offenbach-Stuben‘ wahrnehmen würde und eilte wieder nach oben. Nun war es acht Uhr, aber auf der großen Außentreppe herrschte immer noch wogendes Gedränge, während die Sitze im Saal eher spärlich besetzt waren. Bernstein, der immer neugierig ist und am Mittag unbedingt wissen will, wie man die Nacht verbracht hat, interessierte sich lebhaft dafür, was vorm und im Schauspielhaus passierte. Er schien hier eine Symbolfigur der freien Welt zu sein; darin waren sich die Gegner wie die Repräsentanten des Regimes offenbar einig. Mindestens zwei Drittel der Karten waren deshalb an Linientreue vergeben worden, die zum größeren Teil gar nicht erst erschienen waren, weil ihnen vermutlich – außer wenn sie in ‚Die Internationale‘ einstimmten – Musik wenig bedeutete; diejenigen, die aber doch reinwollten, kamen nicht durch, weil Bernsteinbegeisterte, die leer ausgegangen waren, ihnen den Weg versperrten. Aufruhr lag in der Luft, und ich erzählte Bernstein weit lieber von den Vorgängen vor dem Schauspielhaus als von meinen nächtlichen Eskapaden. Der Maestro lugte durch das dafür vorgesehene Loch in der Wand in den Zuschauerraum und trug mir auf, den ‚authorities‘ mitzuteilen, wenn nicht sofort die Menschen hereingelassen würden, um die leeren Plätze zu füllen, würde er nicht dirigieren, aber er würde auf die Bühne treten und erklären, weshalb er unter solchen Umständen das Konzert ausfallen ließe.

Ich ging freudig erregt zu Herrn Dr. Lessing, dem Intendanten, und sagte ihm das so brutal wie nur irgend möglich: Endlich konnte ich mich dafür rächen, dass Artur Brauner seine Pornos nicht hatte mitnehmen dürfen und dass mir mehrfach Vopos auf der Strecke Lauenburg – Berlin aufgelauert und mich schlecht behandelt hatten. Der Mann hatte eine Gesichtshaut wie das aufgeweichte ‚Neue Deutschland‘: grau, nass, kalt. „Dann lassen Sie sie rein!“, sagte er kurzatmig. „Ich?“, fragte ich erstaunt. „Ja“, bestätigte er.

„Typisch“, kommentierte Bernstein. „Keiner will Verantwortung übernehmen. Wenn es eine Untersuchung gibt, ist er es ja nicht gewesen.“

Foto: VDB Photos/Shutterstock

Beflügelten Schrittes lief ich wieder herunter zum Künstlereingang und sagte zu dem Türsteher: „Bernstein und Herr Doktor Lessing sind übereingekommen, die Leute hier hereinzulassen.“ Er verzog keine Miene, sondern trat einfach beiseite, mehr nicht. Lässt sich so ein ganzes Regime stürzen?

Foto: H. R./Privatarchiv

Ich baute mich vor der Tür auf und rief: „Kommen Sie, kommen Sie!“ Die Leute stutzten nicht einmal, sie rannten einfach jubelnd an mir vorbei, und ich kam mir vor wie die Verschmelzung von Danton und Lenin, während ich den Massen gütig zulächelte. Der Saal wurde richtig voll, brandschutztechnisch sogar bedenklich voll; ich meldete Bernstein Vollzug, und er betrat das Podium.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Craig räumte die Künstlergarderobe ein wenig auf und ging dann in den Korridor, um das Ereignis auf dem Monitor zu verfolgen. (Der) Dean und ich blieben angeregt im Künstlerzimmer zurück; während der gesitteten ‚Sinfonia concertante‘ kam es nur zu Blickwechseln, aber dann, beim zweiten Stück, doch zu Handgreiflichkeiten zwischen uns, es war alles einfach zu revolutionär, wir verschwanden ins angrenzende Duschbad und wurden unkeusch aneinander, und ich muss zugeben, dass mir neben allen körperlichen Einlassungen die Idee, wie Bernstein da vorne das Spreepublikum mit seinem Divertimento verwöhnte, während wir Backstage unsere eigene Zerstreuung vorantrieben, erst den richtigen Kick versetzte.

Foto oben: Mr Korn Flakes/Fotolia | Foto unten: svgsilh.com/gemeinfrei

Foto: Olesia Bilkei/Fotolia

Zumindest ich kannte das Werk gut genug, um zu wissen, wann es Zeit wurde, sich die Hose wieder glattzustreichen, und wir standen rechtzeitig bereit, um den Dirigenten überschwänglich zu seinem Erfolg zu beglückwünschen, nachdem er, wie so oft, den „Cake Walk“ als vielbeklatschte Zugabe noch einmal hatte spielen lassen. Schon im Mai in Israel war Harry darauf aus gewesen, dass wir den drolligen Satz als Single herausbringen sollten, aber das schien mir doch ein wenig unrealistisch angesichts dessen, was sonst so einzeln gekauft wurde. Mit Queens zur selben Zeit veröffentlichtem „I Have To Break Free“ konnte vielleicht die Stimmung im Saal mithalten – das Käuferinteresse gewiss nicht.

Die Pause verflog bei angeregten Gesprächen wie im Fluge, und während des zweiten Teils benahmen wir uns trotz frühlingshafter Gefühle anständig, schon, weil Craig nicht mehr ganz so gebannt auf den Monitor starrte.

Nach dem Konzert verlor das Aufsichtspersonal endgültig den Überblick darüber, wer hinter die Bühne durfte und wer nicht, und so standen nicht nur Jobst, ‚Deutsche Grammophon‘-Artist-Promotion-Lady Antje und Bernsteins Europa-Beauftragte Dorothee erwartungsfreudig vor der Garderobentür, sondern auch Frank, Lutz und die Musikfreunde von Dresden bis Schwerin.

Foto: Blacktator/Pexels

Die Wiener Philharmoniker wurden immer indignierter, und die Vorstände tuschelten mir zu: „Das machen wir nie wieder! Diese Verspätung heute Abend! Und die Unterbringung erst! Wir sind froh, wenn wir morgen in den Westen kommen.“ Aber dann kicherten wir doch über dieses Abenteuer.

Foto: Privatarchiv H. R.

Eigentümlicherweise war es Bedingung der Funktionäre gewesen, dass die Mitglieder des weltberühmten Orchesters die Nacht in den Mauern ihres Stadtteils zubrachten und erst am nächsten Vormittag ‚nach drüben‘ fuhren. Vom Dirigenten hatten sie das nicht verlangen können, und es schien mir, dass die Musiker es ein wenig unsolidarisch fanden, dass der Maestro die Ostzone nur rasch beglückte, während sie das Territorium zu beschlafen hatten.

Foto: picture-alliance/dpa

Bernstein nimmt sich hinter der Bühne für alle immer sehr viel Zeit; jeder, der ihn zu einer anschließenden Veranstaltung befördern muss, braucht Nerven, so dick wie Bass-Saiten. Besonders die Westler mit Tagesvisum wurden von Minute zu Minute zappeliger. Schließlich kam es – wie bisher noch jedes Mal – doch zum Aufbruch. Wir gingen durch das neugestaltete, sehr bunte, dem Neunzehnten Jahrhundert zutiefst verpflichtete Vestibül, damit Bernstein auch mal sehen konnte, durch welche neu erstandene Pracht sein Publikum in den Saal gelangt war, und während wir schon die breite Außentreppe hinabschritten, entschuldigte sich Doktor Lessing immer noch. Ich wusste nicht recht, wofür und übersetzte deshalb auch nicht länger, zumal seine devote Haltung beredter war als seine Worte. „They’re all scared, scared to take responsibility“, sagte Bernstein, während wir ins Auto stiegen.

Foto: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Ein schöner Platz war das mal gewesen. „Wird es wieder ein schöner Platz werden?“, fragte ich mich. Und wie ich wohl zurück in den Westen kommen würde, fragte ich mich erst recht. Vor 150 Jahren hätten wir den Gendarmenmarkt in der Kutsche verlassen. In 150 Jahren beamen sich die Konzertbesucher vielleicht aus dem Wohnzimmer ins Parkett. Oder es gibt gar keine Konzerte mehr. Ärgerlich, dass man sich in der Zeit nicht so hin und her bewegen kann wie im Raum. Man würde bestimmt durchdrehen nach drei Tagen. Oder nicht? Als die ersten Eisenbahnen fuhren, war klar, dass das nicht gut gehen konnte: Eine Geschwindigkeit von mehr als zwanzig Kilometern in der Stunde sei für den menschlichen Körper nicht auszuhalten, glaubten die Zeitgenossen. Sie wüssten es, glaubten sie.

25 Kommentare zu “#2.8 Symbolfigur der freien Welt

  1. Hahaha, am schäbigen Sonntagsanzug (Kostüm für die Damen) erkennt man die entsprechenden Herrschaften tatsächlich immer sehr schnell.

      1. Zumindest ist es oft ein Vorteil gut auszusehen. Diejenigen, die – völlig unsachlich – alle, die nicht so verschlunzt rumlaufen wie sie selbst, als Schönlinge oder Modepüppchen abtun, sind in ihrer Minderzahl allerdings weniger gefährlich als die, die das Äußere zum Maßstab für ihr Handeln machen. Mein Vater hörte mal kurz vor einer Wahl in der S-Bahn zwei Frauen zu. Die eine fragte, die andere antwortete: „Also, der Schmidt, der sieht doch ganz gut aus! Den nehm ich. Ich wähl wieder CDU.“
        Konsequenter ist da ein Boutique-Besitzer, den ich kannte: „Zur Wahl gehe ich nicht“, sagte er, „auch Politiker kann ich nur nach ihrer Krawatte beurteilen.“
        Obwohl diese Einsicht die Ausnahme ist – wer hässlich ist, braucht sich trotzdem nicht zu sorgen: Auch Hitler war mal Idol, nach dessen Händedruck die Beglückten sich tagelang die Finger nicht mehr wuschen.
        Symbolfigur der freien Welt. Superman?

      2. Ich finde es allerdings ganz interessant, dass gerade Elizabeth Warren stetig in den Polls nach oben klettert. Nicht, dass sie nicht gut genug aussähe, aber sie ist die Kandidatin, die konstant konkrete Pläne und Gesetzesentwürfe vorlegt. Ausnahmsweise auch Sein und nicht nur Schein.

      3. Interessant, dass immer noch Amerika als Referenz in den Sinn kommt. Früher war es Superman, später dachte man mal Obama wird der Retter der freien Welt. Ob Warren da anknüpfen kann bezweifle ich allerdings.

  2. Beamen wäre natürlich mal was. Der Mensch wird einfach in seine Moleküle zerlegt und an einem anderen Ort wieder zusammengebaut. Doof nur, wenn unterwegs was verloren geht.

    1. … oder sich „Die Fliege“ – wie im gleichnamigen Horrorfilm – beim Transformieren versehentlich mit dem kecken Erfinder zu einem recht seltsamen Wesen vermischt.

  3. Dass Krystian Zimerman nicht in der DDR spielen wollte, wusste ich gar nicht. Es sollte viel mehr politisch-motiviert boykottiert werden. Und damit meine ich nicht nur BDS und Israel. Initiativen gegen Trumps, Putins, Orbáns Politik wären naheliegend.

      1. Wenn Konzerte aber als politisches Instrument eingesetzt werden (siehe der ESC und Madonnas Auftritt), dann ist ein „Nein“ schon ein wirksames Zeichen.

      2. Danke. So sehe ich das auch. Etwas nicht zu tun ist zwar die einfachste Form von Aktivismus, aber auch die bequemste.

  4. Also Herr Rinke, Queen sang wohl eher „I WANT to break free“! Aber in Folge der Handgreiflichkeiten im Backstagebereich können einem die Wörter natürlich schon einmal verrutschen 😉

    1. Das von mir mitgelieferte Video berichtigt meinen Fehler ja Gott sei Dank. Am Schluss erklärt Freddie Mercury, bzw. Farrokh Bulsara, allerdings auch: „I ve got to break free“.

  5. Ich bin zwar knapp alt genug mich an die Bilder vom Mauerfall zu erinnern, aber dass Deutschland wirklich mal ein geteiltes Land war, da reicht meine Phantasie fast nicht.

      1. Das erinnert mich an die Theorie meines Literatur-Lehrers, der meinte, dass Serienkiller keine Phantasie haben und deshalb ihre Mitmenschen tatsächlich umbringen müssen. Während der Normalo tagein tagaus denkt „den/die könnte ich totschlagen“ und damit bereits befriedigt ist. Also so ungefähr jedenfalls…

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