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0805
Fast am Ziel

Die Rinkes | #81

Mein väterlicher Großvater Reinhold war in Tarnowitz in Oberschlesien geboren worden und heiratete die Essener Bierbrauertochter Maria, die zwar im Ruhrgebiet aufgewachsen war, sich aber gern als Rheinländerin bezeichnete. Sie ist, so oder so, das Westlichste, was mein Stammbaum hergibt. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter, war garstig zu ihrer Tochter, weil sie einen anderen, nämlich feschen Mann viel lieber mochte, ihre Eltern aber „Papperlapapp“ sagten: „Du nimmst gefälligst den reichen Brauerei-Besitzer!“ Sie tat’s und sann auf Rache. Da kam ihr das Töchterlein Maria als Sündenbock gerade recht, so empfand es jedenfalls meine fromme Großmutter und heiratete selber Reinhold, so schnell es ging. Offiziersgattin, das war doch was! Die ungeliebte ‚gute Partie‘ ihrer Mutter verkaufte die Brauerei kurz vor dem Ersten Weltkrieg und verlor während der Inflation das gesamte Vermögen.

Als Guntram seinen Vater Reinhold 1928 fragte, ob er nicht zur Beerdigung seines Schwiegervaters nach Essen fahren wolle, antwortete Reinhold knapp: „Wozu?“ Der Schwiegervater hatte immerhin Reinholds ganze Schulden beglichen und zähneknirschend die Rechnung bezahlt, die ihm Reinhold schicken ließ, als er sich ein neues Pferd anschaffte. Guntram bohrte nach, und sein Vater erläuterte seine Sicht der Dinge: „Ja, wenn da der reiche Mann gestorben wäre, dann natürlich! Aber so … wozu?“

Reinhold war der Älteste von acht Geschwistern. Komisch, dass er ‚Reinhold‘ genannt wurde, obwohl er Alexander Reinhold Seren hieß. Drei Namen zur Auswahl, und der scheußlichste wird es dann!

Reinhold hatte drei jüngere Brüder, gegen deren Namen nicht viel einzuwenden war: Heribert heiratete die Drahtseil-Erbin Erna Deichsel und betrog sie nach Strich und Faden, bis sie ihn vor die Tür setzte. Eberhard betrog seine Frau ebenfalls ausgiebig. Dafür nutzte er nette Operetten, die er nur komponierte, um sie sich anschließend von reizenden kleinen Soubretten vortragen zu lassen. Nur von ihm – da waren sich alle Rinkes einig – konnte ich meine musikalische Begabung geerbt haben.

Die anderen Vorlieben meines Großonkels, und damit auch sein trauriges Ende, blieben mir erspart: Eberhard war von seinem Kommandanten vor die Wahl gestellt worden: Entweder er solle seine Tochter heiraten, die Eberhard entehrt habe (ob mit seinen Gedanken, seinen Gebärden oder seinen Geschlechtsteilen, blieb unklar), oder er habe seinen Abschied zu nehmen. Eberhard heiratete und ‚rührte seine Frau fortan nicht an‘, wie es hieß. Sie rächte sich, denn sie soll, als ihr die Operetten doch zu reizend wurden, im eiskalten Winter, während er krank im Bett lag, das Fenster geöffnet und ihm dann – sicher ist sicher – das Kissen aufs Gesicht gedrückt haben.

Der jüngste Bruder erhielt den hübschesten Namen: ‚Viktor‘. Er heiratete, zeugte pflichtgemäß ein paar Kinder und verdrückte sich dann nach Südwest-Afrika. Guntram erzählte:

„Der Viktor ist nach Kamerun gegangen und da wollte er durchbrennen. Er hat nichts mehr von sich hören lassen – aber die Elisabeth hat ihn dann irgendwie wieder an die Angel bekommen und sich ihn eingefangen.“ So wie einen Schnupfen, dachte ich immer. Viktor war Arzt, aber nichts Besonderes, während mein Urgroßvater ‚Geheimer Medizinalrat‘ beim Fürsten Henckel von Donnersmarck in Tarnowitz gewesen war. Der Fürst schoss, wenn er guter Laune war, den Schornsteinfeger vom Dach und schenkte der Witwe anschließend hundert Taler. Angeblich.

Reinholds Schwester Felicitas, genannt Miezel, gelang es nicht, Witwe zu werden, weil sie erst gar keinen Mann abbekam. Gott ersann sich als ihren Lebensinhalt, Reinholds Söhnen beim Heranwachsen behilflich zu sein – mehr Bürde als Würde.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Miezels beiden Schwestern erging es besser: Hildegard heiratete Professor Knötel in Breslau, dann hörte man nichts weiter von ihr.

Reinholds Schwester Alice hatte eine unglückliche Liebe, die von ihren Eltern nicht anerkannt wurde. Damals wohl üblich. Sie ging ins Kloster. Das war sicherlich ein raffinierterer Schachzug, als in Marias Offiziershaushalt zu dienen. Ein weiterer Glücksfall für Mutter Alice war, dass die himmlische Herrschaft sie vergleichsweise frühzeitig abkommandierte.

Wenn ich als Kind bisweilen mit aktuellen Problemen zu meiner einhütenden Großmutter gehen musste, weil sich meine Eltern gerade mal wieder mit Werner Russ Italien anguckten, dann legte mir Maria stets nahe, mich an ‚Tante Alice‘ zu wenden, der sie einen unmittelbaren Draht zum lieben Gott nachsagte. Ich habe von dieser Protektion nie Gebrauch gemacht, zumal meine Großmutter selbst, trotz Alices Einflusses, auf kein allzu beneidenswertes Leben zurückblicken konnte.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Ihr flotter Reinhold hatte in Preußen als Offizier keine Anstellung gefunden und ging deshalb nach Sachsen. Dort wurde er Kommandeur in Wurzen, wo Maria alle vier Söhne zur Welt brachte. Alle vier empfanden das als Makel. Bis ins hohe Alter war es meinem Vater peinlich, als Geburtsort ‚Wurzen in Sachsen‘ angeben zu müssen, und auch ich habe lieber Berlin in meinem Pass und meiner gefälschten Geburtsurkunde stehen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Vier Söhne hatte seine Maria dem Oberstleutnant Reinhold Rinke geboren, aber ausgerechnet auf den ‚Jüngsten und den Dümmsten‘, wie er ihn nannte, hatte er sich verlassen müssen. Die Lieblinge meines Großvaters waren die beiden Ältesten gewesen, aber die hatte er beide ‚im Krieg verloren‘, so der Sprachgebrauch. Die Formulierung war sachlich richtig. ‚Während des Krieges‘ wäre noch korrekter gewesen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Arwed, der Zweitgeborene, hatte 1941 im Elsass seine Dienstwaffe auf sich gerichtet und geschossen. Anschließend fiel er natürlich. Es war dann unvermittelt eine Französin in die Familiengespräche eingeschleust worden, die ihn als Deutschen nicht hatte lieben dürfen. Vorher war kaum je die Rede von Frauen gewesen, jedenfalls nicht im Zusammenhang mit Arwed; meine Cousinen glauben, er war wohl schwul. Eine Erbkrankheit.

Foto: Privatarchiv H. R.

Guntrams ältester Bruder Achim, ‚Vaters Abgott‘, wie Guntram es formulierte, brachte es 1940 in Paris als deutscher Offizier zum ‚Verwalter des Feindvermögens‘. Er kehrte aber aus naheliegenden Gründen im Herbst 1944 nach Berlin zurück. Dort lebte seine geschiedene Frau.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Maria Rinke war 1936 hocherfreut gewesen, ‚Irmgard von Amelunxen‘ als ihre zukünftige Schwiegertochter zu begrüßen. Betrüblicherweise war Irmgard aber die Tochter von Frau von Amelunxen aus deren erster Ehe mit einem Juden. Das Mitbringsel war nicht adoptiert worden, und so trat statt des Fräuleins ‚Irmgard von Amelunxen‘ die etwas weniger illuster klingende ‚Pucki Mayer‘ mit Achim vor den Traualtar.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Eine angestrebte Arisierung scheiterte am Vermessungsamt, Puckis Becken war zu schmal und dementsprechend kurz hielt die Ehe: Der edle Achim ließ sich von seinen Kameraden aus der Reiter-SS dazu drängen, diese Halbjüdin zu verstoßen, schon um selber im Club bleiben zu dürfen. Angeblich soll sie ein ziemlich munteres Leben geführt haben, wodurch sich die Trennung der Ehe innerhalb der Rinke-Familie beschönigen ließ. Ob arisch oder nicht – wenn der Gatte in Paris Franzosen ausraubt, muss das brave Mädel am häuslichen Herd in Berlin auf ihn warten. Andernfalls: Scheidung.

Doch Achim konnte von Pucki trotz seiner schlechten Vorsätze nicht lassen. Er hatte über alle nur denkbaren Beziehungen zwei Fahrkarten in den Westen ergattert, nach Bückeburg, zum Gut derer von Amelunxen. Aber – so die Überlieferung – Pucki weigerte sich noch auf dem Bahnhof, Berlin zu verlassen und mit ihrem reumütigen Heimkehrer den Zug zu besteigen. Achim zerriss die beiden Fahrkarten und meldete sich freiwillig an die Ostfront, die lag damals ein paar Kilometer vor Berlin, in Sacrow. Da liegt jetzt er. Wenn das nicht auch eine Art von Selbstmord war, was war es dann? Vaterlandstreue?

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Von Vaterlandstreue redete Hasso, der dritte der vier Brüder, gern. Aber ‚im Feld‘ war er nie. Das hat er geschickt vermieden. Erst war er, natürlich durch Achims Protektion, Chauffeur im besetzten Paris. Als dieser Dienst nicht mehr benötigt wurde, ging er nach Schmalkalden und wurde dort auf Guntrams Protektion hin Direktor einer Besteckfabrik. Hasso holte als guter Sohn seine in Berlin ausgebombten Eltern 1944 zu sich nach Schmalkalden, und so bekam dort ich – dank des alle anderen Ambitionen meiner Großmutter überlagernden Katholizismus‘ – 1947 meinen Taufschein.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

6 Kommentare zu “Die Rinkes | #81

  1. Ich finde es wirklich beeindruckend wieviel Sie über ihren Stammbaum und die damit verbundenen Geschichten wissen. Ich habe in meiner Familie nie solche detaillierten Darstellungen mitbekommen. Vielleicht muss ich mich doch einmal tiefer in die Ahnenforschung stürzen, bevor alle restlichen Verwandten verschwunden sind und ihre Erzählungen mit ins Grab nehmen.

    1. Wobei in dem Falle Ahnenforschung ja nicht unbedingt weiterhilft. Die Geschichten werden in der Regel ja einfach in der Familie weiter und weitererzählt. Mitunter bis vom eigentlichen Geschehen nicht mehr viel übrig bleibt. Leider waren meine Eltern leidenschaftlich mit dem Rest der Familie zerstritten. Viel habe ich daher auch nicht erfahren können. Irgendwie schade, aber wer weiss, vielleicht ist’s besser so.

    2. Es sind ja mehr Anekdoten als ersthafte Historie, aber gerade solche Erzählungen sagen oft mehr über das Leben in der Zeit aus als das, was als ‚Krieg und Frieden‘ in den Geschichtsbüchern steht.

    3. In der Tat. Aber gerade diese Anekdoten sind leider auch genau das, was verloren geht, wenn sie nicht weitererzählt werden. Anders als das, was Sie als ernsthafte Historie bezeichnen, kann man da nicht mehr viel recherchieren.

  2. Vielleicht braucht man den direkten Draht zu Gott gerade dann, wenn man kein besonders beneidenswertes Leben hat. Ansonsten kommt man in der Regel ja ganz gut ohne aus 😉

    1. Meine Rede. Wer einigermaßen glücklich und zufrieden ist kommt ohne den ganzen Kirchenschnickschnack aus. Nur wer andauernd an Sünde, Beichtstuhl usw. denkt, muss sich Sorgen um Vergebung machen. Religion ist was für schlechte Zeiten.

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