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Fast am Ziel

Die schlimme Inge | #98

Samstag, 15. Oktober
Am Montagmorgen waren wir zu unserer Welterschaffung aufgebrochen, am Samstagabend würden wir zurück sein. Sonntag ist natürlich Ruhetag. Einundzwanzig Wochen lang waren wir unterwegs gewesen, wenn man den letzten Sonntag abrechnet und Hamburg als Heimathafen annimmt. Bis auf Silkes und meinen Geburtstag hätte alles an jedem x-beliebigen Tag stattfinden können. Das macht den Sinn von Planung aus: Nichts mehr ist x-beliebig! Im Nachhinein sieht dann alles so aus, als hätte es gar nicht anders kommen können. Da kann man getrost behaupten, Jehova habe die Erde hintereinander weg in sieben Tagen erschaffen und das Vermögen der Rothschilds habe die KZs geradezu provoziert. Vom Ende her zu denken ist gut, aber nur, wenn man am Anfang steht. Geschichte naseweis vom heutigen Standpunkt aus einzuordnen, bedeutet, sich der Möglichkeit zu berauben, die handelnden Personen aus ihrer Situation heraus zu verstehen. Ihnen unterstellen, dass sie bösartig und hirnverbrannt dumm waren, das kann man ja anschließend immer noch.

Als ich den rechten Vorhang öffnete, grüßte mich ein strahlend blauer Oktoberhimmel. Eigentlich grüßte ich ihn. Am linken Fenster konnte ich sogar Würzburg begrüßen; es lag mir huldvoll zu Füßen, unterhalb der Weinberge, und ich dachte: „Vor der Industrialisierung war das Maintal gewiss noch hübscher.“ Dann kam auch schon Rafał, angezogen und gefrühstückt, und der letzte Tag musste in all seinen Schicksalsunwägbarkeiten und Routine-Erfordernissen gewürdigt werden.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Das Wetter war zu schön, um bloß herunterzufahren und einfach abzureisen. Rafał kannte Würzburg – was kennt er nicht? –, aber Silke war die Stadt neu, und ich? Das gibt mir die letzte Gelegenheit auf dieser Reise, ein wenig auszuholen.

Mein Vater war viel im Büro und manchmal verreist. Morgens sah ich ihn nicht. Erst Annemarie (Kruse), dann Elli (Neumann), dann Helga (Stöpel), dann Lucy (Münz), dann Irmgard (Theek), dann Erna (Marquart), dann Inge (Delfs), dann Helga (Reisenauer) und dann Karin (Rickertsen) rührte mir morgens die Haferflockensuppe an. Meine Eltern frühstückten erst, wenn ich schon in der Schule war. Als Annemarie ging, um Säuglingsschwester zu werden, war ich acht; als Karin wegen Diebstahls entlassen wurde, war ich achtzehn. 10 Jahre. Damals eine Ewigkeit. „Ich hatte immer zu wenig Geld, deshalb bekam ich nur die schlechtesten Mädchen“, klagte meine Mutter in den Siebzigern. Da machte sie schon jahrelang alles allein. Aber als Guntram anfing, sie zärtlich ‚Aschenblödel‘ zu nennen, verbat sie sich das nach dem vierten Mal.

Fotos (4): zeeno.org/gemeinfrei

Ja, die Hausangestellten hatten alle Macken. Erna war Mitte fünfzig und verrückt. Sie erzählte Frau Brehme, die einmal in der Woche putzen kam, dass wir nachts Männer ins Haus ließen, die über die alte Jungfer herfielen; Frau Brehme solle sich im Dunkeln hinter dem Rhododendron neben der Treppe verstecken, da könne sie es beobachten. Frau Brehme versteckte sich nicht, sondern informierte meine Mutter. Als Irene Helga Stöpel mal eine Anweisung gab, sagte Helga: „Wenn Ihnen das nicht passt, können Sie mir ruhig eine knallen; das bin ich gewohnt.“ Irenes Ohrfeigen waren aber für mich reserviert, wenn meine Schränke unaufgeräumt waren, genauer gesagt: wenn sie die Unordnung bemerkte, sonst hätte sie über dem vielen Backpfeifen ihre übrigen Pflichten vernachlässigen müssen. Ich bekam anschließend im Allgemeinen einen hysterischen Schluckauf, der etwa eine Stunde anhielt; später hatte ich solche Zwerchfell-Attacken nur, wenn ich beim Skat verlor. Mein Vater schlug mich selten, auf Geheiß meiner Mutter oder des überforderten Mädchens, also kühlen Blutes. Nur einmal, beim Sonntag-Mittagessen, schlug er mir ins Gesicht.

Foto: Privatarchiv H. R.

Ich fing sofort an zu bluten, was meine Eltern und meine Großmutter verstörte. Guntram hatte meine Zahnspange getroffen, und ich fand, der Schrecken über mein Blut geschah ihnen allen recht. Ich sei sehr ‚renitent‘ gewesen, erfuhr ich später. Auf gute Worte hätte ich nie reagiert. Kann stimmen. Als Baby hatte ich ja schon die Nächte durchgeschrien, aber Säuglinge schlägt man nicht. Oder der Bahnwärter in Schmalkalden doch?

Mein Klassenlehrer im Gymnasium war da weniger zimperlich, aber in der Mittelstufe hörte auch das auf, und ab der elften Klasse siezten uns die Lehrer. Im Mai 1964 war ich gerade noch siebzehn, und ich saß mit Harald in meinem schmalen Kinderzimmer bei philosophischen Gesprächen und, ich glaube, Lufthansa-Cocktail. Der Geschmack behauptete, er sei ‚fruchtig-frisch mit einer perfekten Balance zwischen süß und trocken‘. Während Harald und ich noch drüber stritten, ob es Gott gibt, hörten wir es knallen. Aus dem Fenster sahen wir Feuerwerk an der Elbe. Ich hatte den Schlüssel nicht zur Hand und ließ die Haustür einfach offen. Meine Mutter wäre entsetzt gewesen, aber sie war mit meinem Vater in Baden-Baden. Wir gingen runter zum Fluss und kreierten die ersten Begriffe unserer späteren ‚Terminologie‘. Nach einer Stunde kehrten wir zurück. Die Tür stand offen und niemand war drinnen. Ein Weilchen konnten wir uns noch mit dem Allmächtigen auseinandersetzen, dann kam Inge (Delfs). Inges Stammkneipe lag direkt neben der Herbertstraße, und böse Zungen behaupteten, sie verdiene sich da ein bisschen was dazu, aber dazu war sie eigentlich zu drall und zu ländlich. ‚Wo de Nordseewellen trecken an den Strand‘ war ihr Lieblingslied. Inge mochte auch Lufthansa-Cocktail, sie tanzte auch gern (ich hatte noch meine Ray-Conniff-Phase), und als Harald, der schon zwanzig war, im Gerangel ihre Wange berührte, tat sie den später vielzitierten, verheißungsvollen Ausspruch: „Auf Bäckchen steh’ ich nicht!“ Harald ließ sich das nicht zweimal sagen und ‚fleischte in sie rein‘, wie wir es fortan nannten. Da wollte ich auch nicht abseits stehen und presste ihr meine Zunge tief in den Schlund. Ein bisschen ekelte ich mich, aber das war mir bei den ersten Austern genauso gegangen; doch brachte Inge es in meiner Wertschätzung nicht bis zur Qualität von Fines de Claires; eher fragte ich mich, ob sie womöglich bösartig und hirnverbrannt dumm sei.

Am übernächsten Tag kamen meine Eltern zurück. Meine Lufthansa-Kopfschmerzen waren gewichen, aber mein Rachen: beißend rot, Fieber kam dazu, und mein Mund voller brennender Pusteln.

Am Montag begann unsere Klassenreise. Guntram, der meine Abneigung gegen unser Schullandheim auf Föhr kannte, hatte auf dem Elternabend vorgeschlagen, doch zum Abschluss mal etwas anderes zu machen als den jährlichen Nordsee-Aufenthalt. Ausland kam nicht infrage, das wollten die anderen Eltern nicht. Guntram brachte Franken ins Gespräch, und das wurde gebilligt. Natürlich kam sofort das Schulische. Jeder sollte vor Ort einen Vortrag über Gebäude und Geschichte halten, ich über Rothenburg ob der Tauber. Damals war mein Sinn fürs Historische noch wenig ausgeprägt, und die Idee vor meiner mittelmäßig interessierten Abiturklasse zu stehen und etwas über das Mauerwerk hinter mir zu sagen, begeisterte mich nicht. Auch hatte ich die Jugendherbergen in Verdacht, meinem aufkeimenden Individualismus zuwiderzulaufen. (Ich kannte solche Stätten von vielen Wochenend-Klassenfahrten zwischen Mölln und Undeloh – wir sagten: „Hundeklo“.)

So war ich Inge ein bisschen dankbar dafür, dass sie mir die Maul- und Klauenseuche mit 40 Grad Fieber beschert hatte. Wer sonst? Trotzdem hatte ich fast ein Jahr lang Probleme damit, in Frauen zu fleischen. Von Männern war noch nicht die Denke, geschweige denn die Rede.

Während meine Klassenkameraden sich von Herrn van der Walde statt von mir Rothenburg erklären lassen mussten, bekam ich zu Hause als Rekonvaleszent Leichtschluckbares und jede Menge Ratschläge. Inge wurde von meinen Eltern in diesem Zusammenhang nicht namentlich erwähnt, wohl aber der drohende Hinweis, dass ich minderjährig sei.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Am folgenden Wochenende war ich so weit genesen, dass ich dem Trupp hinterherreisen konnte: nach Würzburg. Da hielt sogar der Trans Europ Express, in den mich, noch geschwächt, meine Eltern gesetzt hatten, damit ich nicht im lahmen D-Zug fahren musste. Inzwischen hatte ich die Tauber verpasst und sah sie erst 1990 mit Roland, dafür bekam ich Würzburg satt, und danach noch Veitshöchheim, Kloster Ebrach und Bamberg mit literweise Rauchbier am letzten Abend, über das auf der Speisekarte steht: ‚Dieweilen aber das Gebräu beim ersten Trunk etwas fremd schmecken könnt’, laß dir’s nicht verdrießen, denn bald wirst du innehaben, daß der Durst nit nachläßt, sintemalen dein Wohlbehagen sichtlich zunimmt.‘

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Am besoffensten war unser Klassenlehrer, weil er nichts vertrug und normalerweise nur Tee trank. Ich zweifelte seine Architektur-Kenntnisse ein wenig an und behauptete: „Waldi erzählt immer von Türmen, die unten Op-Art sind und oben drüber gotisch.“ Er hatte tatsächlich zwei Stilrichtungen durcheinandergebracht, und meine jüdisch-zersetzende Ader machte daraus sofort eine Kabarett-Nummer. Ja, einfach war es nicht mit mir; dabei hielt ich mich damals noch für ‚arisch‘.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Das imposante Treppenhaus der Residenz war mir noch gut in Erinnerung, als Rafał unseren Wagen in für mich erreichbarer Entfernung zum Eingang parkte. Einige Besucher störten schon den bombastischen Rokoko-Frieden, den Fürstbischof Johann Philipp Franz von Schönborn hatte haben wollen und den Balthasar Neumann so prächtig entworfen hatte. Die vielen Stufen erklomm ich zügig, nicht ganz wie 1964, aber flinker als viele andere Kunstbetrachter; vielleicht auch erwartungsloser. Ich schickte mich durch die Räume, und ich sah auf Tiepolo und auf meine Vergangenheit: Abitur wollte ich machen und Komponist wollte ich werden. Gottgefällig leben und erfahren, was die Welt im Angebot hat. Abitur schaffte ich mit Befreiung vom Mündlichen; Komponist wurde ich für den Hausgebrauch; in der Welt, einschließlich Unterwelt, habe ich mich faustisch umgesehen, so gut ich konnte, ohne herauszufinden, ‚was die Welt im Innersten zusammenhält‘. Ob mein Leben Gott gefällig war, erfahre ich erst, wenn ich vor ihm stehe. Protestantischerweise traue ich den Geistlichen als Mittler zwischen mir und jemandem, den sie sich erdacht haben, nicht mehr über den steinigen Weg.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Während Silke und Rafał noch weiterliefen, verharrte ich notgedrungen und bewundernd im Treppenhaus. Es wird überwölbt vom größten Treppenfresko der Welt, 580 Quadratmeter. Dafür bekam Tiepolo ein Honorar, dreizehn Mal so hoch wie das von Balthasar Neumann. Der Architekt erhält weniger als der Dekorateur: typisch Rokoko. Das Gesamtergebnis überzeugte nicht nur 1779 Fürstbischof Adam Friedrich August Anton Joseph Maria Graf von Seinsheim (Architekt und Auftraggeber waren schon lange tot), sondern 1981 auch die Juroren des UNESCO-Weltkulturerbes. Vor Schönbrunn in Wien und Schloss Versailles bei Paris sei die Würzburger Residenz ‚das einheitlichste und außergewöhnlichste aller Barockschlösser‘, urteilten die Experten. Da konnte ich beim Rausgehen noch viel stolzer darauf werden, hier gewesen zu sein, als in Polignano, Positano, Portofino. Pompös noch der Abgang: Vierspännige Kutschen sollten unterhalb der Treppe vorfahren und wenden können. Eine vierspännige Kutsche hat einen Wendekreis von ungefähr 19 Metern, da kam ich mit meiner Krücke spielend raus, selbst wenn Silke, Rafał und Kristina neben mir gegangen wären. Ganze Busladungen wollten stattdessen rein. Tiepolos satte Farben versanken in Rentnerbeige.

5 Kommentare zu “Die schlimme Inge | #98

  1. Ich glaube mittlerweile, dass Rentnerbeige ganz gezielt erfunden und verbreitet wurde um die Farben eines Tiepolo (oder jedes anderen Künstlers, der es im Leben zu etwas gebracht hat und hier erwähnenswert wäre) noch strahlender erscheinen zu lassen. Das wäre jedenfalls die mir einzig schlüssig erscheinende Erklärung für dieses durchweg abscheuliche Phänomen.

    1. Dieses Verstecken im Alter resultiert doch hauptsächlich aus einem falschen Verständnis davon, wie man sich ab einem bestimmten Alter zu verhalten, anzuziehen und ganz generell in der Gesellschaft zu bewegen hat. Das Wort gibt es zwar noch nicht so lange, aber „Ageism“ trifft es doch ganz genau. Lasst die Alten doch einfach so sein wie sie wollen. Ach was, lasst alle, lasst uns alle so sein wie wir wollen!

  2. Ineinander fleischen 😉 Die Beschreibung trifft es ja tatsächlich auf den Punkt. Zumindest wenn man sich an die entsprechenden ersten Anstrengungen erinnert. Mit zunehmendem Alter kommt in seltenen Fällen ein wenig Hingabe und Gefühl hinzu bevor sich alles wieder in Ernüchterung auflöst.

  3. Hmm, Sie schaffen es glatt mich nach Würzburg zu locken. Wenn das UNESCO-Komitee recht hat, ist ja nicht nur die Residenz an sich knorke, sondern das Spiegelkabinett obendrein noch das „vollkommenste Raumkunstwerk des Rokoko“ überhaupt.

    1. Man muss dann allerdings Würzburg und die Würzburger ertragen. Ob das Spiegelkabinett das wieder wettmachen kann ist fraglich. Oder man betäubt sich mit ein paar Mass Bier. Dann hat man aber wiederum auch nicht viel vom Rokoko. Eine verzwickte Lage…

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