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Alte Meister

Die Vizemeisterschaft und ich

Meran, 11. Juli 2010 (und heute hier)

Fast k. u. k.: Uruguay ist so groß wie Österreich und Ungarn zusammen. Immerhin hat die Hauptstadt Montevideo mehr Einwohner als Hamburg und ist in Deutschland höchstens älteren Lustspiel-Fans als eines der beiden Substantive aus einer Posse von Kurt Goetz bekannt, ohne dass diese Komödie dort je gespielt hätte. Aber auch Rebecca kommt in ‚Rebecca‘ nicht vor, und vor Virginia Woolf hat auch niemand Angst. Da darf es ruhig ein ‚Haus in Montevideo‘ geben, das es nicht gibt.

An Exotik haben sich die Deutschen nach ihrem blamablen Abschneiden im Zweiten Weltkrieg ablenkungshalber sowieso einiges einfallen lassen: ‚Tante Wanda aus Uganda‘, ‚Tante Jutta aus Kalkutta‘ und ‚Tante Trude aus Buxtehude‘ waren sehr erfolgreiche Lustspiele, in denen Peter Alexander, Gunther Philipp und Georg Thomalla in Frauenkleider schlüpfen mussten (wahre Schwule wurden für derartige Rollen prinzipiell nicht besetzt). Es ist die Ausgeburt typisch deutscher Selbsterniedrigung in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, dass die deutsche Geschichtsschreibung diese Erfolge kleinredet und dass heute jeder denkt, es hätte nach dem ‚Vogelschiss des Dritten Reiches‘ nur die ‚Schwarzwaldmädels‘ und ‚Rosen-Reslis‘ gegeben, wobei beide nazilieblichen Mädels von Sonja Ziemann und Christine Kaufmann (in unserer damaligen Sprache ‚Sonein Stoßfrau‘ und ‚Teufline Anbietweib‘) anrührend verkörpert wurden.

Uruguay finde ich genauso niedlich. Ich gönnte ihm wirklich den dritten Platz, weil Deutschland doch sowieso immer im Gespräch ist und überall mitreden darf, und für Uruguay hätte ich mich richtig gefreut. Deshalb fing ich auch an, mit Silke, die sich – das möchte ich hier betonen – außerordentlich einfühlsam zeigt, wenn ich das Fernsehprogramm diktiere, anzugucken, was da in Südafrika mit all diesen erkälteten Deutschen und überschwänglichen Uruguayern so los war. Ich weiß ja: ein Blick von mir – und Deutschland ist lahm.

Nur begann am 10. Juli 2010 (wie auch am 23. Juni 2018 bei dem Spiel gegen Schweden) um viertel nach acht im ZDF ‚Wilsberg‘, den ich nicht besonders mag, aber ich mag seine auf die Arschkarte abonnierte Hassliebe-Kommissarin Springer von der Polizei, die nie den Durchblick, aber immer gut frisierte Haare und eine samtig-rauchige Stimme hat, und alles ist so wunderbar vorhersehbar, dass man einfach entspannen kann, ohne zwischen dem eigenen verlorenen Pass und den geschickten Pässen der Uruguayer hin- und hergerissen zu werden, denn das kann man nach einem 35-Grad-Tag nicht brauchen, finde ich.

Jeder Nationalspieler hat einen Pass des Landes, für das er spielt. Spätestens seit der Vorwoche trägt er die jeweilige Staatsangehörigkeit in seiner Tasche, wenn schon nicht in seinem Herzen. Alle gebürtigen Volksgenossen sind auf den Zuwanderer genauso stolz wie auf die anderen zehn Spieler, wann auch immer die Landsmann geworden sein mögen. Die Nationalhymne müssen die Neuzugänge natürlich nicht mitsingen, und auch sonst niemand. ‚Deutschland, Deutschland über alles‘ ist genauso peinlich wie ‚America first‘. Wir Kosmopoliten verachten die Nationalisten. Wenn sie uns bloß nicht abwählen! Schweigt ruhig zur Hymne! Euer Bekenntnis soll nicht aus dem Mund kommen, sondern aus dem Fuß. Wir wollen stolz sein, und da ist uns jeder recht, der uns dabei hilft – ganz egal woher er kommt, und außer Gauland will auch jeder neben ihm wohnen, denn stellvertretend für uns wirft er sich in die Schlacht und die Pfützen und hat seine Villa in feiner Gegend. Dank seines Einsatzes brauchen wir selbst nicht zu treten und uns treten zu lassen. Das macht er ja für uns. Wir brauchen uns bloß noch zu identifizieren: mit dem Schuss, mit dem Sieg – mit der Nation. Also doch?

Na ja, nach kurzer Zeit war 2010 bei ‚Wilsberg‘ durch diskrete Hinweise in der Sakristei klar, dass der Showdown auf dem einen der beiden Türme des Münsteraner Münsters stattfinden würde, aber da kann man sich wenigstens auf was hinfreuen, und verdächtige Geistliche liegen mir ohnehin. Doch dann war Schluss, wie häufig, wenn der Täter gefasst ist. Nur wenn er bluttriefend von hirnlosen Polizisten schon nach zehn Minuten am Tatort gefasst wird und er seiner herbeistürzenden Frau gefasst erklärt: „Das ist ein Irrtum, Liebling“, dann ist längst noch nicht Schluss, weil er es nämlich in Wirklichkeit gar nicht war. Allenfalls bei ganz gewieften Drehbuchschreibern war er es kurz vor dem Abspann plötzlich doch.

Also drückte ich, nachdem der Fall aufgeklärt war (für mich höchstens die dritte Wiederholung), auf der Fernbedienung die Eins in dem stillen Argwohn, dass Silke der Fußball von Anfang an lieber gewesen wäre, und – das gibt es nicht! – prompt schossen die Deutschen ein Tor: Die hatten in der Aufregung gar nicht mitbekommen, dass ich umgestellt hatte. Nun hatte ich eine Heidenangst, dass die Uruguayer, denen ich das doch an sich von Herzen gegönnt hätte, noch ein Tor schössen und das Spiel in die Verlängerung gegangen wäre. Das hätte nämlich einen ernsten Konflikt mit Super RTL heraufbeschworen, wo um 22:15 Uhr eine Folge von „Gerichtsmedizinerin Dr. Samantha Ryan“ begann, die ich zwar auch schon kannte, aber ich habe sie vor so langer Zeit gesehen, dass ich mich nur noch an die Auflösung erinnern konnte.

Amanda Burton spielt die kühle, durchsetzungsstarke, sensible Titelfigur so eindrucksvoll, dass ich ihr immer wieder gern dabei zusehe, wie sie alle, die so schrecklich viel dämlicher sind als sie, nach und nach intellektuell zur Strecke bringt. Deshalb konnte ich auch den Abpfiff Uruguay gegen Deutschland nicht mehr abwarten, sondern musste – Verlängerungen gibt es doch sowieso immer nur für ein paar unnütze Minuten, die teilweise spielentscheidend sind – umstellen auf Super RTL. Natürlich hatte ich gehofft, dass Silke den Unterschied nicht merken würde, weil es ja am Anfang von Kriminaldramen auch häufig ziemlich hektisch zugeht (Liebe oder Leiche), aber blöderweise zeigt mein Receiver fast immer zwei Sekunden lang Blau, bevor er das nächste Programm freigibt. Ich glaubte, ein undankbares Gnurksen aus Silkes Sessel zu hören, was schon deshalb höchst unfair war, weil man allen Grund zur Freude hat, wenn sich statt des tiefsinnigen Blaus der neue Sender überhaupt dazu bequemt, auf dem Bildschirm zu erscheinen. Manchmal bleibt es einfach blau, und Silke ist der Verdacht nicht abzugewöhnen, dass das an der Art liegt, wie ich die Fernbedienung handhabe.

Ohne Weiteres räume ich ein, dass ich bisweilen auf der verkehrten Fernbedienung auf den verkehrten Knopf drücke, weil ich den Ton etwas lauter stellen möchte, was zur Folge hat, dass der Sender sich erst wieder empfangen lässt, wenn der Täter abgeführt wird, ohne dass wir mitbekommen hätten, welchem raffinierten Trick des Kommissars er auf den Leim gegangen ist. – Aber an diesem Blau bin ich wirklich schuldlos.

Super RTL hat ja Gott sei Dank Werbepausen, und gleich in der ersten konnte ich Silke glückliche Deutsche in der ARD präsentieren. Darüber war ich dann sehr erleichtert; denn wenn im Elf-Meter-Schießen doch noch Uruguay gewonnen hätte, hätte Silke bis zur Nachtausgabe der ‚Tagesschau‘ warten müssen, bis sie den entscheidenden Treffer zu Gesicht bekommen hätte, was sie mir bestimmt nie verziehen hätte, selbst wenn ich morgen wieder genauso gut kochen würde wie heute das Steinpilzgericht.

Tut mir trotzdem leid für Uruguay. Für dieses ferne Land wäre es ein wirkliches Ereignis gewesen, Dritte zu werden. In Deutschland finde ich die Drei ganz knapp vor Hartz IV.

Zwei Monate, nachdem ich diesen Text geschrieben hatte, bekam ich den Schlaganfall und ein völlig anderes Leben. Strafe?

45 Kommentare zu “Die Vizemeisterschaft und ich

  1. Wenn man so ein Fussball-Spiel doch nur durch ein paar Klicks auf der Fernbedienung beeinflussen könnte. Was wäre das manchmal für eine Freude.

    1. Hahaha, ja das sagt sich dann wohl jeder. Es wäre auch wohl wie in (fast) allen anderen Bereichen: viele Köche verderben den Brei.

    2. Jogi würde bestimmt selbst gerne mal klicken. So ein Spiel vom Spielfeldrand beobachten zu müssen lässt einen doch bestimmt um Jahre altern.

  2. Ach ja, die alten Lustspiele. Da konnte man dann auch mal lustig Transe spielen. Zu Karneval auch noch. Aber bitte nicht im wahren Leben, das geht zu weit. Wo Leben sich eigentlich heute die verklemmten Männer aus?

    1. Man kann doch heute schon relativ ungeniert Ru Paul auf Netflix schauen. Das sollte doch für den Durchschnittskonservativen reichen.

      1. Und muss sich nun, nicht zuletzt durch die Weigerung der UEFA, in jedem Nachrichtensegment mit der Regenbogenflagge beschäftigen. Der Arme 😉

      2. Kein Problem. Regenbogen, nicht am Himmel, hält er für einen überkandidelten Ringelpullover seiner schrecklich modernen Tocher.

  3. Man ist fussballtechnisch ja eh nur Nationalist, solange die Mannschaft gewinnt. Sobald die Deutschen aus dem Turnier ausgeschieden sind, mag man weder den Zuwanderer noch die gebürtigen Volksgenossen.

      1. Haha! Da ist wohl mehr dran, als man erstmal meinen möchte. Stimmt, wer mit sich selbst im Reinen ist, den schert in der Regel weniger was der andere macht.

  4. Steinpilze sind mir definitiv auch lieber als Fussballspiele. Aber zur EM kann man ja mal kurz reinschauen.

      1. Hahahah! Abgelaufene Steinpilze hingegen können dafür sorgen, dass etwas anderes läuft.

      2. Die Steinpilz(s)kur war für meinen Vater: ein Steinhäger und ein Pils, solange es läuft. Der Fußpilz dagegen läuft nicht selbst, sondern nur Gefahr, sich auszubreiten.

  5. Ich gehe davon aus, dass Sie das Spiel heute nicht verfolgt haben?! Sonst wäre das 4:2 wohl nicht möglich gewesen 😉

    1. Ich habe mich aus Solidarität mit den Fans erst nach meiner Geburtstagsfeier zur Tagesschau eingeklinkt. Da konnte ich dann den Lohn für meine Enthaltsamkeit einheimsen.

      1. Und der Geburtstag war sicher viel schöner als ein langweiliges Ballspiel. Alles Gute nachträglich!

  6. 4:2 gegen Portugal. Neue Meister werden sie wohl trotzdem nicht werden. Vielleicht schalten Sie trotzdem erst einmal nicht ein Herr Rinke 🙂 Ich glaube die Deutschen brauchen noch eine Weile um sich auf ein sicheres Niveau zu spielen.

      1. Ich bitte darum! Nicht ins Spiel schalten. Auch wenn das Match gegen England noch so verlockend ist.

  7. Dass die deutsche Antwort auf Rebecca und Wer hat Angst vor Virginia Woolf wirklich Tante Jutta aus Kalkutta war, ist schon recht schlimm.

    1. Naja, es gab ja ein bisschen später immerhin den Neuen Deutschen Film. Das war zwar vielleicht auch nicht jedermanns Sache, aber sicherlich sehr viel hochwertiger.

      1. fassbinder war aber gerne auch mal aufregend. heisst natürlich trotzdem nicht, dass das jedermanns sache war.

    2. 10 Jahre vorher gab es Fritz lang. Auf dem internationalen Erfolg konnte man sich erstmal ein bisschen Ausruhen.

      1. Es gab mehrere gute Regisseure. Sie waren jüdisch und wanderten aus nach Hollywood. Davon hat sich der deutsche Film nach dem Krieg nicht erholt.

      2. So richtig viel Fahrt aufgenommen hat der deutsche Film wirklich nicht mehr. Klar Wim Wenders, Volker Schlöndorff und Werner Herzog machen immer noch Filme. Aber die letzten großen Werke sind doch schon eine lange Zeit her. Fatih Akin und Christian Petzold sind zwar nicht uninteressant, aber im Vergleich mit anderen Kinonationen können die eben nicht mithalten.

      3. Mir gefallen unsere Schauspieler auf der Bühne immer viel besser als im Kino. Mir scheint die deutsche Theatertradition und ihre Schule tun sich beim Übergang auf die große Leinwand schwer. Da wirkt immer vieles übertrieben und eben geschauspielert.

      4. gute frage. da kommen doch beide Seiten zusammen, nicht? jedenfalls sieht man doch auch bei schauspielgrößen wie z.b. nicolas cage, dass seine leistung je nach film (und dann wohl auch je nach regisseur) von peinlich und übertrieben bis sensibel und genau auf den punkt reicht.

  8. Nein, bestimmt keine Strafe! Manche Wendungen im Leben sind ja so einschneidend und schwerwiegend, dass man kaum weiss, wie man sich wieder aufrappeln soll. Aber an Bestrafungen durch Gott oder sonst eine höhere Macht glaube ich wirklich nicht.

      1. Mir tat Jogi ja doch ein wenig Leid. Man hätte ihm ein schöneres Karriereende gewünscht. Gerade weil er nie der Fan-Liebling war.

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