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Fast am Ziel

Eine Fata Morgana endet im Golfclub | #86

Donnerstag, 11. August
Sehr gut. Endlich wieder beim Aufwachen wissen: Heute Abend werde in diesem Bett zumindest nicht ich einschlafen! Ich bin weg. Endlich wieder. Ja, ‚unterwegs‘ muss jeder Tag durchwebt sein mit Neuem, wie ein Bratenstück, das ungespickt zu trocken aus dem Ofen käme. In meinem Zuhause freue ich mich, umgekehrt, schon morgens darauf, dass unter Tage bestimmt nichts passieren wird. Oder ich gräme mich, wenn doch. In der Fremde will ich mir meinen ehemaligen Tatendrang auf der Zunge zergehen lassen, selbst, wenn mir die Fremde bestens bekannt ist und meine Zunge schon froh sein muss, wenn sie eine moderne Umami-Würze noch von wirklich salzigen Erinnerungen unterscheiden kann.

Foto: Privatarchiv H. R.

Wikipedia schreibt: ‚Die Fähigkeit der Geschmackswahrnehmung nimmt generell im Alter ab, starke Geruchs- und Geschmacksbeeinträchtigungen können zu einem Verlust des Appetits führen.‘ Nun weiß ich, warum ich wie wild pfeffere und trotzdem nichts runterkriege.

Uns stand für heute Süßes und Saures bevor. Will ich penetrant genau sein, dann fällt mir auf und ein, dass wir drei Reisende unterschiedliche Erwartungen, also auch Eindrücke, haben (werden). Fielen sie ins Gewicht, wäre unser vollgepacktes Auto noch viel schwerer. Aber die Belastung findet im Hirn statt, Gott sei Dank.

Foto: Maxx-Studio/Shutterstock

Rafał ist neugierig und aufgeschlossen. Er sieht lieber auf als hinter die Fassaden. Silke weiß genau, was sie mag; unabgestimmte Kleidung, unkompliziertes Essen und ungewaschene Häuser oder Menschen gehören nicht dazu. Ich will alles so, wie ich es erwarte, also überraschend.

Um das Fleisch des Tages küchengerecht spicken zu können, habe ich meine Spickzettel. Da ist heute die erste Station, auf die wir unser schon recht mürbes Fleisch im komfortablen Blechmantel zubewegen, Punta Ala. 1967, auf unserer gemeinsamen Studentenreise, war Harald, Hans-Dieter und mir am dritten Tag Punta Ala erschienen, fast eine Fata Morgana. Die erste Nacht hatten wir in Freiburg verbracht, bei einem ehemaligen Klassenkameraden, dessen Vater in seinem Labor Hamburgs gesammeltes Blut untersuchte und der deshalb seinem Sohn für dessen Medizinstudium eine fürstliche ‚Bude‘ spendieren konnte. In der zweiten Nacht hatten wir ab drei Uhr auf einem Campingplatz bei Genua übernachtet, nachdem wir uns vorher so gründlich verfahren hatten, dass wir froh sein mussten, überhaupt auf eine Behausung zu stoßen. Am dritten Tag fuhren wir Italiens Westküste entlang, die hinter La Spezia ganz abscheulich wird. Harald und Hans-Dieter rauchten Irenes VW Käfer voll, und ich dachte mir wie üblich Albernheiten aus, zum Beispiel ein ‚Nasenmikroskop‘, das Gerüche vervielfacht. Wenn durch unser Schiebedach krasser Gestank nach Fäkalien oder Auspuffgasen den Zigarettenqualm überlagerte, lautete die Frage: „Möchtest du jetzt dein Nasenmikroskop anschließen?“ Saturnia hätte dazu unbedingt Gelegenheit geboten. Und dann kam Punta Ala.

Foto: Privatarchiv H. R.

Das war damals eine langgestreckte, sanfte Bucht, an deren Ende der Leuchtturm ein markantes Zeichen setzte. Sandstrand. Mehr nicht. Sehr malerisch. Wir hatten an einem Stand, noch im Inland, jeder ein Panino mit (Parma-?)Schinken gekauft und fanden es ungewohnt, dass der rohe Schinken butterlos zwischen den Brötchenhälften hin und her rutschte, aber das ging schon in Ordnung: Die italienische Butter war damals grundsätzlich ranzig, was ein guter Grund war, im Hotel nicht zu frühstücken, allenfalls unterwegs ein Sandwich zu kaufen, das mit Mayonnaise, Artischockenstücken, hartem Ei und gekochtem Schinken zugekleistert war und mir heute nicht mehr über die Lippen käme, zu jener Zeit aber köstlich schmeckte.

Im Jahr darauf zeigte ich meiner Mutter Punta Ala auf unserem Weg nach San Gimignano. Irene war begeistert, und ich machte diese beiden Fotos. Da gab es also blaue Liegestühle und ein hübsches Mädchen vor unserem perlgrauen ‚Käfer‛.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Als Harald und ich zwölf Jahre später Punta Ala ansteuerten, waren wir schon weniger allein, wie man auf dem Videoclip sehen kann.

Und jetzt? Wir fuhren hügelauf, hügelab, das heißt: Rafał fuhr, Silke und ich sahen aus dem Fenster und nahmen Abschied von der Toskana. Die Strecke zum Meer hin war so ungenutzt, dass sie nicht mal Umgehungsstraßen für die Orte aufwies. Unser breiter Wagen musste sich durch manche enge Gasse quälen. Doch dann wurde es flach, und dann kam das Meer, genauer: Wir kamen zum Meer. Und da blieben wir auch, mal näher, mal mit Abstand, wie die Via Aurelia es will. Das Wort ‚ehrwürdig‘ ist bei einer Straße, die durch ihren Verlauf charakterisiert wird, wohl fehl am ‚Platze‘, aber bemerkenswert ist sie schon, die Aurelia. Censor Gaius Aurelius Cotta gab sie im Jahr 241 vor unserem Heiland in Auftrag. Sie verlief im Endausbau von Rom aus die Küste entlang bis Pisae. Inzwischen reicht sie bis Arles. Das sind nach Wikipedias Zählart 962 Kilometer. Ich hätte sogar mehr geschätzt.

Rafał war entweder schon überall, wo wir hinkommen, und erzählt davon, oder ihn erinnert die Landschaft an etwas, was er kennt, und davon erzählte er auch. So geht das über Stunden, und an der mir vertrauten, stillen Pinienallee kurz hinter Punta Ala wollte ich es einfach nicht mehr hören, sondern lautlos meinen eigenen Erfahrungen hinterherlauschen. Ich sagte etwas. Freundlich war es, glaube ich, nicht.

Foto: 148854/Pixabay

Wahrscheinlich lag es an Punta Ala, dass ich so gereizt war. Denn nachdem wir die Via Aurelia planmäßig verlassen hatten, kamen wir an einen Kreisverkehr nach dem anderen, alles führte in Stichstraßen irgendwohin, aus Versehen erreichten wir so auch einen Hafen, von dem wir aber sofort abgewiesen wurden: „Privat!“ Irgendwo parkten wir dann doch und liefen über eine Art Düne zu einer Art Strand, an dem sich eine Art Urlauber suhlte.

Wir fuhren sogar die Anhöhe empor zum Haus des Golfclubs. Silke war wie immer so gekleidet, dass wir in ihrem Windschatten das private Gelände und die Bar mit Ausblick betreten und sogar unbeschimpft wieder verlassen konnten. Dann drängte es uns zurück auf die Aurelia. Ich weiß schon: Vor fünfzig Jahren gab es noch keine Herztransplantationen und noch kein Navi, aber Punta Ala war definitiv hübscher damals.

Enttäuscht, aber nicht entmutigt fuhren wir nach Norden, eine Richtung, die ich mir angewöhnt habe zu hassen: Norden bedeutete immer Rückkehr, also Ende von Unterwegssein, und dieses Missvergnügen ist fast das Einzige, was mir von meiner früheren Rastlosigkeit geblieben ist.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

5 Kommentare zu “Eine Fata Morgana endet im Golfclub | #86

  1. Jeder Tag muss mit Neuem durchwebt sein! Jawohl, da sprechen Sie mir aus der Seele. Nichts langweilt so sehr wie die ständige Wiederholung, dieselben Gesichter, dieselben Tagesabläufe, dieselben Geschichten. In meinem Falle würde ich dies allerdings sowohl für meine Reisen, wie auch für mein Leben zuhause als essentiell ansehen. Nach einem halben freien Tag zuhause muss ich raus ins Leben. Ich langweile mich so schnell…

  2. Unterschiedliche Erwartungen, unterschiedliche Eindrücke, unterschiedliche Erfahrungen, unterschiedliche Empfindungen… das große Problem wann immer es um zwischenmenschliche Kommunikation geht. Deshalb mag der eine wohl auch lieber Reden und der andere seine Ruhe haben. Mit anderen Menschen zusammen zu leben ist ein schwieriges Unterfangen.

    1. Da haben Sie leider auch wieder recht. Gerhard Bronner sagte einmal „Das Drama aller Zeiten hat eigentlich nur ein einziges Thema gehabt: die Unfähigkeit der Menschen, miteinander zu leben.“ Was den Menschen ausmacht ist wohl, dass wir es trotz allem immer wieder auf’s Neue versuchen.

  3. Wenn man diese mittlerweile völlig mit Touristen zugekleisterten Strände sieht, ist Zurückkommen allerdings eine nicht ganz reizlose Alternative…

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