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0903
Fast am Ziel

Eintracht bei Otello | #64

Die Sonne war höflich genug, etwas zu sinken; die Minibar gab ein Gin- und ein Tonic-Fläschchen frei, und ich blätterte im ‚Spiegel‘ vom Allgemeinen ins Besondere. Auf einer römischen Terrasse fühlt sich der Hedonist von einem Putsch in der Türkei etwas weniger angesprochen als der Bildzeitungsleser in der Straßenbahn von einer Niederlage seines Fußballvereins. Die Welt ist schrecklich, das ist nicht neu und auf gleicher Höhe mit der Spanischen Treppe verkraftbar. Soll doch Erdogan die Journalisten einsperren und Putin Aleppo und die Ostukraine bombardieren! Soll der IS den Terror nach Europa tragen und sollen Tausende von Flüchtlingen im blauen Mittelmeer ertrinken! Was geht mich das alles noch an? Ich habe schon die 68er überlebt, ich werde auch das überleben, und wenn nicht, dann trinke ich eben noch ein Glas perlenden Champagner auf die Pompadour und lasse alles fröhlich den Bach runtergehen, denn dass er zur Sintflut anschwillt, das werde ich nicht mehr erleben. Weil ich dann tot bin. Jetzt aber noch nicht: Die Vergangenheit gehört unseren Toten, die Zukunft gehört unseren Kindern, die Gegenwart – sie gehört uns.

Foto oben: lassedesignen/Fotolia | Foto unten links: eliasbilly/Fotolia | Foto unten rechts: lassedesignen/Shutterstock

Und da rief sie auch schon, die Gegenwart. Rafał unterstützte mich in der Kleiderauswahl – bei 35 Grad keine sehr umfassende Aufgabe –, und dann brachen wir auf zu Silkes Geburtstagsmahl; das ging gut zu Fuß: keine hundert Schritte.

Foto: Olga Gavrilova/Shutterstock

Das ‚Otello‘, genauer gesagt die ‚Trattoria Otello alla Concordia‘ ist ein Bezugspunkt meiner Biografie. Meine Eltern aßen dort schon Ende der Fünfzigerjahre des verflossenen Jahrhunderts im Mai grünen Spargel und gebratenes Hühnchen. Seit Mitte der Sechzigerjahre traute ich mich etwas forscher an die Speisekarte. Meine Lieblinge wurden ‚Vitello tonnato‘, ‚Abbacchio con rosmarino‘ und ‚Monte bianco‘, ein unerhörter Traum aus Kastanienpüree, Sahne und Rum. Im viel zitierten Jahr 1968 beeindruckte Irene und mich allmittags ein polnischer Intellektueller, der uns am Nebentisch von den Deutschen vorschwärmte. Damals fanden junge Deutsche ihre Vergangenheit ganz besonders schmählich, aber der Pole tröstete mich zwischen Kalb und Lamm, dass es im heroischen Gesamtbild auf den Ausrutscher mit den paar Juden vor mehr als zwanzig Jahren doch wirklich nicht ankäme. Als Sohn einer polnischen Halbjüdin und eines Vaters, der die Gefährdete bis Kriegsende versteckt hatte, sah ich ohnehin wenig Anlass, mich meiner eigenen Eltern zu schämen und pflichtete meiner Mutter bei, die einen jugendlichen Protestmarsch durch Rom kommentierte: „Das würde den deutschen Studenten nie einfallen!“ Es ging darum, dass die sowjetische Führung Panzer auf Prag gehetzt hatte und italienische Linke dagegen durch die Straßen zogen.

Mit Pali war ich bei ‚Otello‛ gewesen, mit Harald selbstverständlich, sogar mit der Pianistin Martha Argerich; für die Noflo war es unser römisches Stammlokal. Mir fällt nichts auf der Welt ein, das unser Zusammengehörigkeitsgefühl, unsere Jugend, unsere Zukunftshoffnungen schlüssiger symbolisieren könnte als dieser Innenhof, hinter dessen trennenden, bindenden Gitterstäben wir dicht gedrängt saßen und uns berauschten: an unserem Hunger, an unserem Wollen, an uns selbst. Und an zwei Karaffen Frascati.

Meine Erwartungen waren nicht allzu hochgesteckt, als ich neben Silke, Giuseppe und Rafał um die Ecke zum ‚Otello‛ humpelte. Meine Mutter und ich, wir hatten es ja 1984 fast als ein Wunder betrachtet, dass die meisten der Kellner noch dieselben gewesen waren und die Qualität der Gerichte immer noch genauso gut wie in unserer Erinnerung. Da konnten wir dann entzückt zwischen all den Menschen sitzen und uns vormachen, dass Touristen diesen Innenhof gar nicht finden und dass uns, versteckt, das Altern erspart bleiben würde.

1987 war es damit vorbei. Irene und ich gingen am ersten Abend hin, waren enttäuscht, gaben dem Lokal nach so vielen Jahren der Treue noch eine zweite Chance und resignierten dann im Wissen um den Niedergang alles Irdischen, einschließlich ‚Monte bianco‘.

Ein ‚TripAdvisor‘ machte Mut: ‚Etwas versteckt im Hinterhof gelegen. Das sehr freundliche Personal, leckere Küche und urige Atmosphäre im Lokal. 50er Jahre Stil – als hätte sich Jahrzehntelang nichts verändert.‘; ein anderer weniger: ‚old professional waiters gone, management changing everything good I have enjoyed here for three decades. How sad!‘ Mit verhaltener Neugier durchmaß ich den gepflasterten Gang zum Innenhof, Silke wird auch gespannt gewesen sein, für Rafał und Giuseppe neben uns war der Schauplatz neu, und über unsere Erlebnisse vor Ort berichtet hatten wir auch nicht ausführlich: Solche Erzählungen langweilen immer, besser, man erlebt selbst, obwohl ich das in diesem Fall dem Leser nicht uneingeschränkt empfehlen mag.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Kurz nach acht. Die Obst-Gemüse-Dekoration war noch ziemlich dieselbe und den tröpfelnden Springbrunnen gab es auch noch. Aber auf den nackten, unbesuchten Tischen lagen abwaschbare Sets, die Servietten waren aus Papier. Dies erfüllte bereits die Kriterien, um früher von Harald und mir als ‚Touristen-Abkoche‘ eingestuft zu werden. Doch nun galt es, nicht zu verzagen, sondern Silkes Geburtstag unbeschwert zu feiern. Das machten uns die ungewohnten, schlecht geschulten Kellner nicht leichter. Wenigstens drangen noch ein paar weitere Gäste zu uns durch. Leere bekommt dem Ansehen eines Lokals schlechter als wässrige Suppe. Das Essen war keine Katastrophe, zumal empathiebegabte Menschen mich zurechtweisen würden, dass ausschließlich eine Katastrophe sein kann, nichts zu essen zu haben. Die Katastrophe bestand in der Nostalgie ausschließenden Unerheblichkeit. Dass ich um diesen Termin und diesen Ort herum die gesamte Reise geplant hatte, verschwieg ich lieber, aber Silke war es ja ohnehin klar. Na ja: Belanglosigkeit ist besser als ein Scherbenhaufen, wenn auch das Urteil ‚So schlecht war es gar nicht‘ als Höhepunkt nicht wirklich geeignet ist, schon gar nicht, wenn man vom ‚Alhambra‘ kommt.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Wir liefen durch die laue Oregano-Luft der Pizzerien an vollen Tischen vorbei zum trägen Hotel-Fahrstuhl. Fünfter Stock, unsere Terrasse. Die Dunkelheit stand ihr besser als der Tag, ihrer Aussicht erst recht. Es war noch Rotwein da – nicht mehr lange. Dann gingen Silke, Giuseppe und ich ins Bett und Rafał seiner Wege.

Foto: givaga/Shutterstock

10 Kommentare zu “Eintracht bei Otello | #64

  1. Die Zukunft unserer Kinder ist allerdings in großem Maße abhängig von unserer Gegenwart. Die Einstellung, dass uns das dann nichts mehr angeht, lässt sich demnach auch nur vertreten, in sofern man kinderlos geblieben ist. Ein Glas perlender Champagner kann die Lektüre der Tageszeitung und der neuesten Abscheulichkeiten über Erdogan, Putin, Trump und den IS natürlich erheblich erträglicher machen. Keine Frage. Ich bin trotzdem immer für’s Einmischen. Noch mag ich die Hoffnung nicht aufgeben.

    1. Die Einsicht, dass die Welt schrecklich ist, kann man irgendwie verkraften. Ob man allerdings Erdogan, Putin, Trump oder ISIS überlebt hängt sehr stark davon ab, wie privilegiert man ist. Als Weißer unter Trump überlebt man leichter wie als Afroamerikaner. Ist man transsexuell oder Muslim wird es auch nicht einfacher. Offen schwul zu leben, hilft nicht unbedingt, wenn man in die Hände von ISIS gerät. Steht man Putin’s Politik offensiv gegenüber, überlebt man möglicherweise, allerdings vielleicht auch nur irgendwo in einem Arbeitslager weggesperrt. Dass Sie in Ihrem Leben genug durchlebt und genug ertragen haben kann ich verstehen. Als Ratschlag finde ich Ihre Einstellung allerdings riskant. Stefan Pfleiderer hat recht: man muss sich einmischen. Mehr denn je.

    2. Ich mische mich ja ein. Aber jeder von uns hat doch diese „Rutscht mir alle den Bucker-runter“-Phasen. Auf einer römischen Terrasse mit einem halbvollen Glas kommt das schon mal vor, und darüber schreibe kein Manifest, sondern gebe Stimmungen wider. Aber auch Überzeugungen, und dann mische ich mich ein.

    3. „Rutscht-mir-den-Buckel-runter“-Phasen braucht definitiv jeder. Sonst hält man es in unserer Welt gar nicht aus. Ich finde man muss ausserdem wissen, wann es sich lohnt sich einzumischen und wann es von Wert sein kann die Dinge einfach laufen zu lassen. Nicht jedes Problem braucht die gleiche Reaktion.

  2. Herr Rinke, um das Essen mit Martha Argerich beneide ich Sie mal wieder. Sie ist bis heute eine meiner liebsten Pianistinnen. Und sofern man das aus der Ferne sagen kann, eine interessante Person obendrein. Aber das können Sie ja dann wahrscheinlich besser beurteilen. Die Dokumentation „Argerich – Bloody Daughter“ fand ich übrigens einen sehr spannenden Einblick in das Leben und die Arbeit solch einer großen Künstlerin.

    1. Ja, Frau Buchmann, sie ist toll. Natürlich kostete sie auch Nerven, am meisten ihre eigenen. Zusammen zu sein mit ihr war aber nie anstrengend. Ich konnte sein, wie ich war. Das gilt längst nicht für alle Künster. Außerdem spielt sie natürlich auch sehr gut Klavier …

  3. Manchmal ist ein Scherbenhaufen gar unterhaltsamer als Belanglosigkeit. Jedenfalls geht es mir so. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Reise nach Indonesien auf der so ziemlich alles schief lief was schief laufen konnte: verpasste Termine, dreckige Inseln, brennende Taxis, die Reisegefährten auf halbem Weg verlieren, schlechtes Essen und eine daraus hervorgehende Lebensmittelvergiftung, Sonnenstiche, donnernder Platzregen auf dem Ausflugsboot… und trotzdem eine meiner schönsten Erinnerungen und Geschichten. Mit den „richtigen“ Freunden und einer ebensolchen Einstellung kann so ein Scherbenhaufen auch wahnsinnig Spaß machen.

  4. Meist ist es so: Was schön ist zu erleben, ist langweilig in der Beschreibung. Was interessant ist zu beschreiben, war unangenehm, erleben zu müssen. Und was Sie da aus Indonesien anführen, klingt für mich schlimmer als eine Nacht im Zelt mit Trump und Erdoğan.

  5. Ich habe bislang eher die Erfahrung gemacht, dass die unsagbar schönen und einzigartigen Momente vergangener Jahre sich leider nicht wiederbringen lassen, kehrt man später an den Ort des Geschehens zurück. Und kehrt man nicht zufällig, sondern eben in jener Absicht zurück, kann es sogar im Desaster enden. Besonders, wenn die Liebe – damals – im Spiel war. Den Zauber solcher Momente erlebt man nur als glücklich Betroffener (durch die bekannte „rosa Brille“), weil wir eben nur sehen, was wir sehen wollen. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass Erlebtes immer ein Spiegelbild unserer jeweiligen Emotionen ist. Sie entscheiden, ob wir z. B. den Regenguss als Mistwetter oder als romantischen Schauer betrachten.

    1. Wenn man nicht nur schwärmerisch alte Erinnerungen aufwärmen will, ist zweierlei interessant:
      Wie hat sich der Ort verändert und wie habe ich mich verändert? Verkehrschaos und Sorgenfalten oder Fußgängerzonen und ein nachsichtiges Lächeln? Man lernt am scheibar Bekannten manchmal genauso viel wie am Neuen.

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