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1909
Europa im Kopf  —   1. Kapitel: Preußen

#1.11 Verschlungene Pfade

Aufwachen ist nichts, was mir gefällt. Ich genieße meine fast immer komplizierten und meist furchtbaren Träume – natürlich erst hinterher, wenn ich mich dafür bewundere, so kompliziert geträumt zu haben, und mich beruhige, dass das wahre Leben ja nicht ganz so furchtbar ist wie meine Träume. Ich war ein verschrecktes Kind, das, wenn überhaupt, nur mit Lampenlicht schlafen konnte und die Helligkeit des Morgens ängstlich herbeisehnte. Die Tür zum Schlafzimmer meiner Eltern musste offen bleiben. Jetzt verschließe ich Türen und Fenster fest, habe Ohropax in den Gehörgängen und eine Binde vor den Augen, damit ich nicht daran erinnert werde, dass es jenseits meines Herzens eine Welt gibt. Nennt man das ‚Fortschritt‘? Eine Entwicklung ist es in jedem Fall. Nun wache ich sowieso dauernd auf, aber, wenn mich kein irritierender Ton oder Gedanke stört, nur ganz kurz.

Foto oben: baranq/Fotolia | Foto unten links: Paolese/Fotolia | Foto unten rechts: Wikimedia Commons/gemeinfrei

Das Schlimmste am Aufwachen nach halb neun ist die Vorstellung, sich aus dem Bett erheben zu sollen, um Tag zu spielen; das Schönste, Erhabenste ist das Wissen, keinen Anteil an der erbärmlichsten Einrichtung des Menschseins haben zu müssen: dem Frühstück. Pietistisch bin ich ja wirklich nicht, aber ich würde mich vor mir und Gott schämen, wenn ich, nachdem ich im Anschluss an die abendlichen Schleckereien nichts als das Zähneputzen geleistet habe, am Morgen schon wieder losliefe, um mir den Bauch vollzuschlagen. Da drängeln sie sich ans Buffet und holen sich Müsli und Kompott und Lachs und Rührei und Schinken und Wurst und Emmentaler und Tilsiter. Nicht mitanzusehen! Wenn man schon was im Magen hätte, könnte man kotzen. In Hotels, in denen das ungegessene Frühstück nicht vom Zimmerpreis abzuziehen ist, möchte ich vor Wut immer die Fläschchen im Bad mitnehmen, aber weil mein eigenes Haarwaschmittel meine Glatze doch besser pflegt, tue ich diese Regung als kindisch ab.

Foto oben: textag/Fotolia | Foto unten: Angelo D’Amico/Shutterstock

Dann kommt Rafał und legt raus, was ich mir als Verhüllung meines Leibes ausgedacht habe. Ich habe so vieles Wichtige vergessen, aber meine Garderobe habe ich von Schlips bis Schuh gespeichert. Rafał auch, und er hat darüber hinaus den Vorteil, ein- und ausgepackt zu haben und deshalb zu wissen, wo im fremden Schrank welches Polohemd und welcher Kniestrumpf schlummern. Höchstens, wenn es darum geht, in welcher Tasche welche Nagelschere aufbewahrt wird, ist er kurzfristig aus dem Konzept zu bringen.

Foto links: katalinks/Shutterstock | Foto rechts: Roman Samborskyi/Shutterstock

Mein Gallenschmerz war so stark, dass ich Arzt Roemmelt anrief. Novalgin-Tropfen hatte ich schon geschluckt, ohne Erfolg. Er ließ mich hier und da drücken und mit Rafałs Hilfe auf einem Bein stehen, dann ferndiagnostizierte er: Das ist nicht die Galle, das kommt vom Rücken. Rafał glaubte das auch, weil ich gestern mehr gelaufen war als sonst und reichte mir ein Voltaren-Zäpfchen. Er ist mit Recht stolz darauf, für jedes Wetter und jedes Weh das Passende vorrätig zu haben. Ich blieb misstrauisch und dachte, wenn das die ganze Reise über so weiter geht, geh ich ein. Meine Hamburger Physio-Therapeutin Anna Engelhardt hatte gesagt: „Mein Freund hatte auch Gallensteine. Wenn die Koliken zu stark werden, muss man ins Krankenhaus. Besonders nach Alkohol und fettem Essen. Irgendwann macht der Chirurg einen kleinen Schnitt und holt die Galle raus.“ Ich frage mich, ob er das bei mir in Dresden, Prag oder der Autobahnklinik tun würde, mochte aber meinen Begleitern den Tag nicht mit Gewinsel vergällen.

Foto oben: Magic mine/Shutterstock | Foto unten: Mira Rahneva/Shutterstock

Um halb zehn wollten wir aufbrechen nach Potsdam. Martin war nicht da. Beim dritten Anruf meldete er sich krächzend: „Ich komm in zehn Minuten nach.“ Wenn ich am Morgen etwas vorhabe, bin ich vor Schreck schon zwei Stunden früher wach. Martin nicht. Er verschläft auch mit drei Weckern. Um zehn soll er in Hamburg im Studio anfangen, meist ruft er Viertel nach zehn an und sagt: „Stau auf der Autobahn.“ Das kann man glauben oder es sein lassen. Silke meint, wenn er dann eintrifft, durch ihr Bürofenster am Grad der Verschwiemelung seiner Augen die Menge an Wodka ablesen zu können, die er sich am Vorabend gegönnt hat. Jetzt, vor dem Hoteleingang, war sie mehr empört als überrascht. Mit Giuseppes Solidarität war es auch vorbei. Er fuhr ab jetzt nur noch mit uns und Air-Condition.

Foto: SV Production/Shutterstock

Um ja nicht in Zeitnot zu geraten, hatte ich die Abfahrt vom ‚Dude‘ sehr zeitig anberaumt. An der Anlegestelle ‚Lange Brücke‘ wollten wir Carsten treffen. Er würde direkt aus Hamburg kommen und ist mit Rafał verheiratet. Um elf Uhr sollte der Dampfer zur von Silke gebuchten ‚Schlösserfahrt‘ ablegen. Als wir so von Baustelle zu Baustelle den Berliner Westen durchstreiften und die Navi-Dame auf Umkehr-Anweisungen zu einer gesperrten Autobahnauffahrt bestand, wurde uns die desorientierte Navi-Zicke zum Verhängnis. Nie zuvor habe ich so lange von Berlin nach Potsdam gebraucht, nie so verschlungene Pfade bestaunt. Viertel vor elf überquerten wir tatsächlich die Havel, und da sagte das Miststück: „Sie haben Ihr Ziel erreicht.“ Es stimmte, da unten sah man viele Schiffe liegen, und lang war die Brücke auch, aber was dachte die sich denn, wo man den Wagen lassen und wie man dort runterkommen sollte? Ein paar Minuten und Verkehrsregelübertretungen weiter hatten wir den Dreh gefunden, einen unermesslich großen Parkplatz anzusteuern. Rafał besann sich meiner Gebrechlichkeit und lenkte unseren Wagen gleich zum Behindertenparkplatz ganz vorne. Ich legte die Kopie meines amtlichen Ausweises ins Frontfenster und hoffte, dass die Potsdamer Polizei nicht wusste, dass ich mit meinen 60 Prozent keinen Anspruch auf diese Vergünstigung und deshalb auch nicht den entsprechenden Schein habe. Dass Versehrten wie mir nicht mal so eine kleine Erleichterung in ihrem schweren Los zuteilwird, wäre damals Grund genug gewesen, sich vor dem Innenministerium anzuketten und Schäuble im Rollstuhl herauszufordern. Noch frustrierender war, dass sowohl Martin als auch Carsten als schlaue Igel vor uns doofen Hasen eingetroffen waren. Diese Schmach hatte uns die Navi-Tante eingebrockt.

Foto oben: Wikimedia Commons/gemeinfrei | Foto unten: ThomBal/Shutterstock

23 Kommentare zu “#1.11 Verschlungene Pfade

  1. Hahaha, Hotelbuffets sind mitunter anstrengend, aber ich genieße meine Frühstück trotzdem. So zögert sich zumindest der vermeintliche Ernst des Lebens noch eine Stunde hinaus.

  2. Ist es nicht wirklich erstaunlich, wie oft man dank Navigationshilfe seinen Weg verliert? Sollte uns vielleicht zu denken geben.

    1. Verschlungene Pfade, wie man sie ohne Navi auch hätte. Meistens dann allerdings wesentlich unspannender als die eigenen Irrwege.

  3. Ah wie gerne würde ich mal verschlafen! Mir geht’s eher wie Ihnen Herr Rinke: Ohropax und trotzdem alle paar Stunden und bei jeder Störung wach.

    1. Ohrstöpsel müssen bei mir auch sein, verschlossene Türen gehen hingegen gar nicht. Da wird’s mir klaustrophobisch.

    1. Ich versuche halt, all meine Verdrüsse als Wehleidigkeit in ihre Schranken zu verweisen. Wenn ich dereinst dann doch an was Merkwürdigem sterben sollte, wird die Nachwelt merken: ich war ja gar kein Hypochonder!

      1. Jeder Mensch weiß, daß er sterben muß, nur der Hypochonder denkt täglich darüber nach, woran.

  4. Menschen, die Wert auf die Verhüllung ihres Leibes legen oder besser gesagt, die Wert darauf legen, wie genau diese Verhüllung aussehen soll, imponieren mir. Ich hab’s oft versucht, aber modisch bin ich einfach nicht.

      1. Für Menschen, die keinen Stil haben, ist das leichter gesagt als getan. Da hilft leider auch kein gutes Zureden.

  5. Ahh Unpünktlichkeit! Fünf Anstandsminuten lasse ich gelten, danach bin ich weg. Für’s Warten reicht meine Geduld nicht. Dass haben schon einige Freunde lernen müssen.

    1. Das ist gut! Ärgerlich nur, wenn man die Person, die nicht kommt, liebt oder braucht. Denn hat sie den Schlüssel zu meiner Wohnung oder zu meinem Herzen, dann wird das Warten zur Folter.

      1. Oh wie wahre Worte! Auf die eine Liebe wartet mancher sein ganzes Leben. Selbst wenn’s vergeblich ist.

  6. Vor’m Innenministerium würde ich mich aktuell auch wieder ganz gerne anketten. Bis dieser Seeclown endlich verschwunden ist.

      1. Nur leider würden Neuwahlen die AfD nur noch mehr stärken. Gefährliche Zeiten für uns alle.

      2. Und passend im aktuellen Deutschlandtrend: AfD auf Platz zwei. Was ein Albtraum.

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