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Europa im Kopf  —   1. Kapitel: Preußen

#1.14 Die ganze Zeit

Viertel nach neun klopfte Rafał an die ‚Dude‘-Tür: „Alles gut?“, fragt er jeden Morgen, und jedes Mal möchte ich antworten: „Nein. Sieh dir die Welt doch an! Nichts ist gut!“, und jeden Morgen antworte ich: „Ja“.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Der Tag war organisatorisch einfach. Gerade das ließ die Nutznießer meiner Planung leicht erschrocken nachfragen: „Den ganzen Tag?“ – „Ja.“ Ich kann also hoffen, dass ich die Beschreibung des Ablaufs vom Mittwoch, dem 04.08.2015 schneller hinbekommen werde als die eben beendete Einleitung zum Tag. Allerdings ist weder für mich noch für sonst jemanden, der mit Inbrunst schreibt, Ereignislosigkeit ein Anlass, sich kurzzufassen. Gerade habe ich Rüdiger Safranskis neues Buch ‚Zeit‘ durchgelesen. Zeit besteht darin, dass immer etwas geschieht und alles die Folge von etwas Vorangegangenem ist, schlussfolgere ich. Ohne Geschehen gibt es keine Zeit. Wenn das All in Millionen Jahren verschwunden sein wird, wird es keine Zeit mehr geben. Vorbei. Wie spannend man das findet, was bis dahin auf dem Mars und in Syrien, womöglich sogar bereits zu unseren Lebzeiten, passiert, das hängt in hohem Maße von den eigenen Erwartungen ab, sage ich mir. Tagelang nichts anderes wahrzunehmen als das Tropfen eines Wasserhahns, führt in den Irrsinn, wussten schon die chinesischen Folterer. Wohin würden wohl sieben Stunden auf einem Dampfer der ‚Stern- und Kreisschifffahrt‘ führen? Oberflächlich betrachtet wieder zurück zur Anlegestelle Treptow, doch wer wäre bis dahin verrückt oder erleuchtet worden?

Foto links: rggnkmp/Shutterstock | Foto rechts: Ann1bel/Shutterstock

Zunächst mal war der Parkplatz noch weiter vom Steg entfernt als gestern in Potsdam, was mir, wenn ich nicht zusammenbreche, guttun würde, redete ich mir ein. Dass ich selbst so gar keinen Fortschritt empfinde und mich das Gehen am nächsten Tag nie weniger anstrengt als am Vortag, ist jedoch so entmutigend, dass ich jedes Lob dafür, wie schön ich ein kurzes Stück gemeistert habe, mit demselben Behagen einstreiche wie ein Kleinkind, dem man schmeichelt, dass es einen besonders schönen Haufen in den Topf gesetzt habe. Sogar Martin schonte meine Nerven durch pünktliches Erscheinen, und dann begann die große Tour ‚Ost – West‘.

Foto: canadastock/Shutterstock

Wir fuhren ein Stück die Spree entlang, entgegengesetzt zum Zentrum, kurz an duftigem Grün vorbei, dann durch welkes Gelände. Als wir rechts in den Kanal einbogen, gab es eine Steigerung: Die Gegend wurde noch öder, und die Sonne verschwand hinter den Wolken. Eine dafür bezahlte Frau wies uns über Lautsprecher auf jeden Fabrikschornstein und jede Autobahnbrücke hin; irgendwie liebte man sie dafür, denn dank ihrer Hilfe merkte man überhaupt nur, dass die Zeit nicht ganz stehenblieb, was sie dann in der Schleuse doch tat, weil die Frau von ihrem Platz wegging, ins Schiffsinnere. Das tat sie im Verlauf des Tages immer wieder. Silke und Rafał, die zunächst die Dame wegen ihres Harndrangs bedauert hatten, kamen überein, dass sie sich dort unten eher besäuft, was ich an ihrer Stelle und in ihrer Lage wohl auch gemacht hätte.

Foto: Concept Photo/Shutterstock

Inzwischen hatten wir ein Teilziel erreicht: Dort, wo der Teltowkanal in den Griebnitzsee mündet, liegt der Bahnhof; da stiegen, wenn man mit dem Zug nach Berlin fuhr (also nicht zu Konzert-Aufnahmen, sondern zu Roland), die DDR-Beamten aus und hinterließen neben schlechter Stimmung einen Stempel im Pass: ‚Transit, Ausreise Griebnitzsee‘. Ein paar Minuten später war man am Bahnhof Wannsee, also im Westen, und kam sich befreit vor, obwohl man umzingelt war von DDR. Am Griebnitzsee lag auch in den 1930er-Jahren das Segelboot meines Vaters und seiner drei älteren Brüder, für mich unerreichbares Gebiet – bis 1990.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Den Griebnitzsee entlang liebliche, hügelige Landschaft mit Jugendstilvillen in abschüssigen Gärten, altmodische Märchen zu beiden Seiten und in der Mitte unser Schiff. Wir steuerten wie gestern Schloss Babelsberg an, aber heute nicht von Potsdam aus, sondern völlig anders. Die ganze Berliner Seenpalette ist herrlich unübersichtlich, aber im Allgemeinen kann man sich darauf verlassen, dass das alles nur Havelausbuchtungen und Verbindungskanäle sind. Geografischer: Wir kamen nicht wie gestern von Süden, sondern von Osten, aber darauf achtete wohl keiner – außer mir. Dann wieder unter der Glienicker Brücke hindurch auf den Wannsee – inzwischen keine Überraschung mehr für mich und inzwischen nicht mehr die einzige Badebucht der Westberliner.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

‚Pack die Badehose ein‘ war ein Schlager, der mehr trotzig als fröhlich wirkte. In meiner Kindheit gab es wenig Auswahl, wohin man mit Schwimmzeug im Gepäck fahren konnte, was man aß, was man las. Heute liegen in der Wahl des Restaurants, des Anbieters, des Fernsehprogramms schon die wichtigsten Entscheidungen des Tages. Als Rolands Ostzonen-Cousine 1974 für eine Beerdigung nach Westberlin durfte, fragte sie verständnislos am Tauentzien vor ‚Leiser‘: „Wieso ist hier denn schon wieder ein Schuhgeschäft, da war doch eben eins?“ Eine Verwandte meiner ehemaligen Kollegin Jutta Kolbe kam aus Magdeburg und wollte unbedingt die Schlemmer-Etage im KaDeWe sehen. „Dort brach sie nach wenigen Minuten schreiend zusammen und musste mit dem Krankenwagen abtransportiert werden“, erzählte Frau Kolbe. „Variatio delectat“, behauptet der Auctor ad Herennium. – Nicht immer. Manchmal überfordert sie einfach.

Ein kurzer Halt am Wannseeufer. Viele Menschen stiegen aus, einige ein. Die Sonne brannte in meinen uneingecremten Nacken. Er sei schon knallrot, sagte Silke, mahnend wie immer, aber das war mir egal. Was ich selber nicht sehe, fuchst mich nicht besonders. So bin ich zu einem dankbaren Betrachter von Kulissen geworden. Kahle Bühnen dagegen stören mich wie Krimis, die bei armen Leuten spielen. Und eine Woche später löste sich meine Haut in Fetzen.

Fotos (2): Privatarchiv H. R. | Foto unten links: Aleksandar Todorovic/Shutterstock

Am Schildhorn fuhren wir vorbei nach Spandau und dann bei sinkender Sonne die Spree entlang nach Charlottenburg. Dass Berlin an der Spree liegen sollte, war mir ein Rätsel, als ich noch im Grunewald lebte: Ich sah sie nie. Nun nähert man sich leicht ergriffen dem Regierungsviertel auf dem Wasser, neue, flott gemeinte und alte, herausgeputzte Gebäude säumen das Ufer, Liegestühle mit Blick auf die Museumsinsel, der Schlossrohbau, die Nikolaikirche gegen den tiefblauen Abendhimmel, die wieder turmgeschmückte Oberbaumbrücke, und man denkt: „Ja, Berlin wird nie so schön sein wie Paris und nie so großartig wie London, aber es kann die würdige, vielleicht sogar liebenswürdige Hauptstadt eines politisch und kulturell wichtigen europäischen Landes werden, ja.“ Jedenfalls ich denke das. Europa im Kopf.

Foto: canadastock/Shutterstock

Den Abend hatte ich mir bodenständig ausgemalt: ‚Max und Moritz‘ im tiefsten Kreuzberg, aber nicht weit entfernt vom ‚Dude‘ war ursprünglich ein Vorschlag von Michael gewesen, als ich Leonard Bernsteins Manager und etliche ihm verbundene junge Männer in den Neunzigerjahren zünftiger hatte ausführen wollen, als sie das in seinen Kreisen sonst gewohnt waren. Es war tatsächlich urig gewesen und hatte Eisbein und Bollenfleisch gegeben – so etwas hatten die ‚Adlon‘-Gäste aus New York noch nie gegessen.

Uns Hamburgern wurde der Ehrentisch auf einem Podest zugewiesen, wir sahen von dort aus die Theke mit all den vielen Flaschen für all die vielen Bedürfnisse, und wir sahen auch die Straße, draußen vor der offenen Tür, auf der in der Sommerhitze die Null-Bock-Looser mit den Echt-Geil-Typen sitzend oder schlendernd zur Kreuzberger Mischung verschmolzen. Auffallend, wie baumlos das grüne Berlin hier pulsiert. Die ‚Max und Moritz‘-Speisekarte ist natürlich gespickt mit Witwe Boltes, Tobias Knopps und weiteren Wilhelm-Busch-Figuren, was aber nicht genügend davon ablenkt, dass man – einen Busch-Vers erfindend – ohne Lust auf den Genuss trotzdem was bestellen muss. Die servierenden Frauen hatten unterschiedliche Vorstellungen davon, wie Gäste zu behandeln seien, was ja neben der Zubereitung der Speisen den Reiz eines Lokalbesuchs ausmacht: ‚Variatio delectat.‘

Foto links: gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto rechts: Iakov Filimonov/Shutterstock

Ein wenig schämte ich mich vor meinen Lieben. Schon als wir die Wirtschaft betraten, lärmte am Fenster eine amerikanische Gruppe, hoffentlich Studenten, und dann erschienen auch noch Asiaten und setzten sich zwischen uns und den schlanken Schankwirt. War Michaels Tipp aus der Wendezeit womöglich nicht ganz so geheim geblieben, wie es die mir Anvertrauten hätten erwarten dürfen? Jeder, der hier märkischen Boden betritt, will ein Selfie vor dem Brandenburger Tor und etwas entdecken, was noch nie jemand vor ihm gesehen hat. Da saßen wir auf unserem Präsentierteller, leerten jeder nach Kräften seinen Essteller und seinen Trinkkelch, und es war ungewiss, ob wir es waren, die hinabsahen in ein pittoreskes Schaufenster, oder ob wir das Schaufenster waren.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Die Nacht war neu, die Stadt war groß. Die heißen Männer liefen los: Mittwoch ist der kleine Samstag.

22 Kommentare zu “#1.14 Die ganze Zeit

  1. Beim „Hallo wie geht‘s?“ komme ich mir auch immer blöd vor. Es interessiert doch wirklich niemanden…

  2. Ach wie nett, da lernt man durch Rinke auch gleich noch über die Berliner Gaststätten an denen man immer vorbei läuft und in den man nie speist. Vielen Dank.

  3. Sieben Stunden Bootstour … Sie machen‘s Ihren Mitreisenden wirklich nicht einfach. Aber wer will schon einfach.

  4. Die weiter oben erwähnte Dame macht diese Schiffstouren ja mitunter mehrmals täglich. Da würde ich auch ab und an nach unten verschwinden.

  5. Hahaha beim dritten Leiser-Schuhgeschäft in Folge würde ich auch Schreikrämpfe kriegen. Im KaDeWe zu schlemmen lass ich mir hingegen eher gefallen. Naja, wenn ich halt schonmal in Berlin bin 😉

    1. Berlin mit all seiner Hässlichkeit und all seinem Chaos hat zugleich eine unverwechselbare Atmosphäre. Arm aber sexy ist albern, aber ich verstehe wo das Zitat herkommt.

  6. Krimis die bei armen Leuten spielen, hahahaha! Das ist wohl eine recht spezielle Phobie. Nicht uninteresant 😉

    1. Habgier, Neid und Eifersucht gibt es allerdings in allen gesellschaftlichen Schichten. Da hat dann auch der Krimi in der Gosse seine Berechtigung.

      1. ist ja wahr! Aber wenn der Plot schon so doof ist wie meistens, dann will ich nicht auch noch visuell von Gelsenkirchner-Barock-Möbeln belästigt werden.

  7. Molle und Korn? Die ‚Berlin based agency and production company for high quality social videos that reach a wide audience‘, welche Google mir da ausspuckt ist das wohl eher nicht…

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