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Europa im Kopf  —   1. Kapitel: Preußen

#1.2 Polizistenmord oder Freispruch

Als wir die Reise am Sonntag, dem 2. August 2015, erwartungsfroh antraten, schien zum ersten Mal seit Langem plötzlich wieder die Sonne. Überrascht waren wir trotzdem nicht: Wir hatten den Wetterbericht gelesen.

Foto: DG-photo/Shutterstock

Es war schön, zum ersten Mal in meinem neunundsechzigjährigen Leben im selbst gekauften, neuen Auto zu fahren, auch wenn das Schicksal mir inzwischen den Beifahrersitz zugewiesen hat.

Foto: Gargantiopa/Shutterstock

Den Führerschein machte ich mit zwanzig – erst! Da hatte sich mein früherer Klassenkamerad Hartwig Hensel schon an dem seither von uns Hartwig-Hensel-Gedenk-Eiche genannten Chausseebaum zu Tode entschleunigt. Ich war in allem ein Spätentwickler, wenn auch der Jahrgangsjüngste beim Abitur gewesen.

Foto links: H. R. Privatarchiv | Foto rechts oben: Tatiana Natasha/Sutterstock | Foto rechts unten: Dr. Norbert Lange/Sutterstock

Spät am Abend des 19. Juni geboren, spät Radfahren, Schwimmen, Klavierspielen gelernt. Und doch ein- bis freihändig geradelt, im Mittelmeer von Bucht zu Bucht geschwommen, Chopin in die Tasten geklimpert – alles gelernt, nie mühelos. Als ich also, im Schriftlichen fehlerfrei, im Praktischen grenzwertig, die Führerscheinprüfung bestanden hatte, war meine Mutter stolz. Sie erzählte uneitel, dass während ihrer eigenen Fahrprüfung der zuständige Beamte auf dem Kurfürstendamm gemahnt hatte: „Gnädige Frau, die Fußgänger überholen uns.“ Aber es war 1948, wenig Verkehr und ‚Irena‘ hübsch. Das half. Sehr viel schneller ist sie seither selten gefahren und am liebsten zu ‚Aldi‘, weil dort die Ware günstig und das Einparken leicht war. Guntram dagegen war ein genauso schnittiger Fahrer, wie ich es später wurde. Schon mit Mitte zwanzig konnte er sich von seinem Gehalt bei den Kokswerken ein Adler Trumpf Cabriolet leisten.

Foto links: H. R./Privatarchiv | Foto rechts oben: Bundesarchiv, Bild 204-003 / CC-BY-SA 3.0/ Wikimedia Commons | Foto rechts unten: H. R./Privatarchiv

Foto: H. R./Privatarchiv

Etwas Gleichwertiges war für mich als Musikstudent 1966 unbezahlbar. Aber der Sohn eines seiner Prokuristen, Herr Biella, verdiente als Vertreter so gut, dass er seinen mausgrauen, kastigen Opel Kadett nicht mehr brauchte: Den bekam ich. Gleich am ersten Abend lud ich meine Nachbarin Kathrin zu einer Spritztour ein, die am ‚Hochrad‘, der Verlängerung unserer Straße, in einem Auto endete, das unvorsichtigerweise in meinen Weg geparkt stand. Kathrin bewunderte mich: Ich hätte sie so souverän vom Boden aufgesammelt, sagte sie, dass sie gar nicht hysterisch geworden sei. Guntram zahlte widerstrebend die Reparatur, aber ich habe dem Kadett das nie verziehen, obwohl ich gnädiger davongekommen war als Hartwig Hensel.

Fotos (2): H. R./Privatarchiv | Foto unten: Robotriot, GNU Free Documentation License/Wikimedia Commons

Meine Mutter fuhr ab und zu mit ihrem perlgrauen VW Käfer, aber sehr viel lieber mit Guntrams Chauffeur, Herrn Kalleve. Von dem hatte ich vor meinen Fahrstunden schon Unterricht im Käfer bekommen – auf dem Parkplatz des Volksparkstadions, das mir bereits vom jährlichen ‚Sportfest‘ her verhasst war: Auf diesen trostlosen Veranstaltungen, von denen ich das Wetter noch bleierner in Erinnerung habe als meinen Kadett, wurde ich gedemütigt wie nie wieder in meinem Leben, und mein Wissen, dass ich inzwischen gebildeter bin als alle, die damals weiter sprangen, schneller rannten und die Kugel beherzter stießen als ich, tröstet erst nachträglich ein wenig.

Foto oben: immstudio/Shutterstock | Foto unten links: Von Soonthorn Wongsaita/Shutterstock | Foto unten rechts: gemeinfrei/Wikimedia Commons

Es kamen in einem Polizeiauto zwei Polizisten auf den Parkplatz und wollten gern meinen Führerschein sehen. Ich hatte aber keinen, ich hatte bloß Herrn Kalleve. Das reiche nicht, behaupteten die beiden, die noch nicht wussten, dass bald schon Ulrike Meinhof die Schießerlaubnis auf sie erteilen würde, weil sie, biologisch eigenwillig, nicht nur Bullen, sondern auch Schweine seien. Dies sei öffentliches Gelände und ich ein Straftäter, erfuhr ich. Natürlich tat mir mein Vater leid: Es würde sicher eine Anzeige geben, und er müsste zahlen, weil ich ja kein Geld hatte und er so ungern welches ausgab. Musste er aber gar nicht. Mein Vergehen kam vors Gericht. In den Wochen vor der Verhandlung lag ich nachts im Bett und wunderte mich darüber, dass ich, falls es unbemerkt geblieben wäre, die beiden Schweinsbullen ohne zu zögern und ohne an ihre unmündigen Bullenkinder zu denken, abgeknallt hätte, wenn ich imstande gewesen wäre, eine Walther oder Beretta zu entsichern.

Foto: wellphoto/Shutterstock

Foto links:Ulrike Meinhof/gemeinfrei/Wikimedia Commons | Foto rechts oben: sbojanovic/Fotolia | Foto rechts unten: Amber Kipp/Unsplash

Von dieser religionsrelevanten Erfahrung bis zu meinem wirklichen Kirchenaustritt vergingen noch einige Jahre, in denen mir dann auch noch bewusster wurde, dass ich der Alleinseligmachenden nicht bloß moralisch, sondern auch sexuell nicht zumutbar bin. Zum Prozess erschien ich mit Blazer und Mutter. Beides ließ mich, das war mein Kalkül, wohlerzogener erscheinen als etwas später Fritz Teufel. Von meinem Vater habe ich gelernt, dass man oft besser davonkommt, wenn man die Staatsmacht nicht herausfordert, sondern so tut, als hielte man sie für menschlich. Schon klar, wenn alle so dächten, hätte es weder die Französische Revolution gegeben noch den Fall der Mauer, aber mein Vater hat auf diese Weise den Zweiten Weltkrieg überlebt und ich bekam – auf Vorschlag des Staatsanwalts! – einen Freispruch. Da ich mir sicher war, dass ich mit der Gefängniskost schlecht zurechtgekommen wäre, war ich meinem Blazer und meiner Mutter sehr dankbar.

Foto links: H. R./ Privatarchiv | Foto oben rechts: Inspiring/Shutterstock | Foto unten rechts: H. R./ Privatarchiv

Selbst der Polizei muss ich Abbitte leisten: Als ich sechs Jahre später völlig besoffen – man glaubt es nicht – wieder am Volksparkstadion angehalten wurde, legte ich vor den Ordnungshütern sofort ein Geständnis ab: „Danke, dass Sie angehalten haben – ich habe mich völlig verfahren.“ Eigentlich war ich nämlich auf dem Weg von Eimsbüttel nach Othmarschen, aber das sagte ich lieber doch nicht. Sie wollten mich Blasen sehen, denn neben dem türkischen Gewürzgarten vermuteten sie noch mehr in meiner Fahne. Jetzt hätte Andreas Baader losgeschossen, ich atmete nur am Röhrchen vorbei. „Sie wollen gar nicht blasen“, vermutete der Aufgewecktere der beiden Schutzmänner. „Ich habe nicht genug Luft“, entschuldigte ich mich. „Sie lassen das Auto besser stehen“, wurde ich nachsichtig belehrt. „Aber wie soll ich denn hier wegkommen?“, fragte ich in die Dunkelheit. „Aber nur bis zum nächsten Taxistand!“ „Ja“, versprach ich vorsatzlos. Es war kurz vor Weihnachten, ich trug den ausladenden Waschbärpelz meiner Mutter in ihrem schlichten VW und war froh, das Steuer wieder in der Hand zu haben, als mich nach zehn Meter Fahrt die Streife mit Kelle raus schon wieder anhielt. Missmutig kurbelte ich das Seitenfenster herunter. „Herr Rinke“, sagte der Beifahrer, der sich meinen Führerschein schmeichelhaft genau angesehen zu haben schien: „Im Straßenverkehr ist es nachts üblich, das Licht anzuschalten.“ Ich kam heil nach Hause und brachte am nächsten Morgen meinen Freund und Kollegen Pali zum Flug nach New York, wo er 1972 die Festtage verbringen wollte. Zwischendurch ließ er mich zweimal anhalten, um sich am Rinnstein zu übergeben. Ich hatte großes Verständnis dafür, dass er vor seiner ersten Amerika-Reise so aufgeregt war, aber er behauptete später immer, mein Fusel-Knoblauch-Gestank sei unerträglich gewesen, was die Freundlichkeit der Polizisten in den Bereich Notwehr herabwürdigte.

Foto links: Von Sean Locke Photography/Shutterstock | Foto rechts: Richard Frazier/Shutterstock

Im Frühjahr 1976, ich hatte mich gerade für Roland und gegen den Katholizismus entschieden, da gab auch Irenes ‚Käfer‘ den Geist auf. Roland tröstete mich auf dem Weg vom Schrottplatz nach Hause. Mein Glaube war dahin und nun auch meine studentische Unbekümmertheit, die mich auf den vielen Reisen nach Süden so viel besser abgefedert hatte als die Sitze des Volkswagens. Der Tankwart, dessen Zapfsäulen erstaunlicherweise unter meinem Büro standen, hatte sich einen neueren Gebrauchtwagen zugelegt und verkaufte mir seinen alten: das einzige Mal, dass ich ein rotes Auto besaß, wenn auch wieder einen VW und irgendwie ramponierter als Irenes. Ein ziemlich hässliches Rot, aber ich habe mein Selbstbewusstsein nie aus meinen Fortbewegungsmitteln gespeist, außer bei Erste-Klasse-Flügen.

Foto links: H. R./Privatarchiv | Foto rechts oben: Aerodim/Shutterstock | Foto rechts unten: 1Roman Makedonsky/Shutterstock

Als ich selbst im November 1977 zum ersten Mal nach New York flog, fuhr Roland eines Abends den Karren in den Dreck. Nähere Umstände wurden mir verschwiegen, und ich fragte auch nicht lange, weil ich in Amerika ja ebenso wenig um acht im Hotelbett gewesen war. Ein neues Gefährt musste her, wozu Guntrams Hilfe nötig war und gewährt wurde. Allerdings ohne Übertreibung, und so lief es auf einen VW Derby hinaus, dessen glanzlose Spießigkeit mir in meinem Umfeld wahlweise als Geiz oder Snobismus ausgelegt wurde. Ich lächelte dann einfach bloß, was immer das Beste ist, wenn man nichts zu sagen weiß und niemand gestorben ist.

Foto: Dreamer4787/Shutterstock

24 Kommentare zu “#1.2 Polizistenmord oder Freispruch

  1. „Weil dort die Ware günstig und das Einparken leicht war“ hahahaha! Treffender hat noch niemand Aldi angepriesen.

      1. Hat nicht gerade ein englischer Aldi-Whisky irgendeinen Preis gewonnen? Hab ich das sogar hier gelesen?

      2. „Die Welt“:
        Das Londoner Tasting des Whiskymagazins „The Spirit Business“, das sich selbst als „weltweit renommiertester Wettbewerb in Blindverkostung“ empfiehlt, zeichnete jetzt einen Aldi-Whisky mit einer der begehrten Goldmedaillen aus.

  2. Ach Gott! Ich kann mich nich gut an die Bundesjugendspiele erinnern. Das war tatsächlich immer eher demütigend als pädagogisch annähernd sinnvoll.

      1. ich habe nur gute erinnerungen an die wettkämpfe, auch wenn ich nicht immer erfolgreichste war. der trostpreis hat mir gereicht solang ich mein bestes gegeben hatte und meine eigenen ziele erreicht waren.

        durch den porsche meines vaters konnte ich meine mindere sportlichkeit aber gut kaschieren, was sich bei meiner paarungsanbahnung mehr als nützlich herausstellte. mit einem vw käfer hätte ich sicher weniger erfolge gehabt.

  3. Uiuiui, ich bin zugegebener Maßen schon unzählige Male nach ein paar Gläsern zuviel Wein Auto gefahren, allerdings nie in dem Ausmaß, dass ich anhalten musste um mich zu übergeben.

      1. Ah ja, das hatte ich überlesen. Danke für die Richtigstellung. Als Beifahrer hatte ich dann entsprechend auch schon öfter mal das Gefühl mich übergeben zu müssen, haha!

  4. „Sie wollen gar nicht blasen“ … Ich dachte schon, die Geschichte nimmt eine ganz andere Wendung, LOL

  5. Einen Herrn Kalleve in meinem Leben zu haben, gehört definitiv zu meinen Zielen. Oder zumindest zu meinen Träumen.

      1. Seltsam, dass Baader – als Kopf der Bewegung – nicht interektuell, sondern rattenfängerisch hochbegabt war, wie Hitler. Begeistern tut man nicht mit dem Kopf, sondern mt dem Herzen, auch wenn man keins hat.

  6. Die Gechichte von Irene’s Führerscheinprüfung ist doch sehr charmant. Trotzdem fragt man sich manchmal nach welchen Regularien die Prüfer entscheiden wer den Schein bekommt und wer nicht. Ganz objektiv scheint das manchmal nicht zuzugehen…

    1. Objektiv geht nie etwas zu, zumindest nicht solange Menschen involviert sind. So ist das leider oder Gott sei Dank, Ansichtssache.

      1. Naja Menschen denken und entscheiden natürlich immer subjektiv, aber so etwas wie Fakten gibt es hoffentlich immer noch. An’s postfaktische Zeitalter mag ich nicht glauben.

      2. Es gibt Fakten, die Frage ist ob man den Fakten Glauben schenkt. Bzw. ob man überhaupt noch auseinanderhalten kann, was denn eigentlich Fakten sind. Und ob man „falsche“ Fakten als Realität verkauft bekommt. Gruselig.

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