Seit der Einschulung war Detlev Fuhrmann mein bester Freund. Er war verwegen und schlug alle zusammen, die mich auch nur schief anguckten. Außerdem fiel er vom Steg in den See, und es war hilfreich für ihn, dass ich besser schreien als prügeln konnte. Seine Mutter hieß Hella und hatte, dazu passend, ein Lampengeschäft am Kurfürstendamm. Zu Hause hatten Fuhrmanns Fernsehen, das fand ich ganz toll, und das war auch einer der Gründe, warum so ein Gerät bei uns nicht ins Haus kam, bevor ich sechzehn war: Meine Mutter war sehr erziehungswillig, aber ein wenig konfliktscheu.

Fotos (3): Privatarchiv H. R.

Detlev und ich wollten auf einem aus Zweigen gebauten Floß auf die Mitte des Sees rudern, weil Gott mir gesagt hatte, dass er uns dort zu sich nehmen würde, aber als es so weit war, sagte Gott zu Detlev, nein, ich solle stattdessen ein paar Pferdeäpfel vom Dunghaufen essen. Ich tat das nur ungern und vergeblich, denn Gott hat mich immer noch nicht zu sich genommen, mir damals allerdings Magenkrämpfe und Schlimmeres erspart. Als ich schon in Hamburg wohnte, hob Detlev im Grunewald etwas auf; er war immer so draufgängerisch und abenteuerlustig, ganz anders als ich. Der eigentümliche Gegenstand war eine versehentlich abgeworfene Kriegsbombe gewesen. Gott nahm Detlev zu sich, als der zwölf war.

Foto oben: Public Domain/Wikimedia Commons | Foto unten links: Doug McLean/Shutterstock | Foto unten rechts: DutchScenery/Shutterstock

Wir parkten mit meinem schönen, großen, neuen Auto vor dem Grundstück, auf dem einst unsere zurechtgeflickte Villa gestanden hatte. Martin war weder da noch kam er unaufgefordert. Ähnlich blieb es auf der ganzen Reise. Im Handy-Zeitalter ist das aber nicht mehr so problematisch wie früher. Rafał half ihm auf die Fährte, und dann stand auch er mit uns vor dem, was nicht mehr das Zuhause meiner Kindheit war.

Nachdem wir von Berlin weggezogen waren, hatten noch mehrere Parteien das ramponierte Märchenschloss meiner Kindheit bewohnt, vor allem meine Großmutter und Herr Schönhorst. Herr Schönhorst war ein weiterer Prokurist meines Vaters. Seine Frau war vor den Berliner Bomben nach Prag geflohen, was ihr schlecht bekam; denn als Prag aufhörte, deutsch zu sein, warfen die Tschechen Frau Schönhorst aus dem Fenster, was nicht so glimpflich abging wie der berühmte Prager Fenstersturz 327 Jahre zuvor: Frau Schönhorst war tot. Das machte den Weg frei für die ‚Butterkelle‘, wie mein Vater sie nannte. Sonst hieß sie Elfriede Zunft und betrog im Milchgeschäft. Sie nahm das Einwickelpapier doppelt, so dass sie beim Wiegen immer ein bisserl für Herrn Schönhorst abzweigen konnte. Dafür bekam sie erst Herrn Schönhorst und dann, als wir nach Hamburg zogen, unsere herrschaftliche Wohnung. 1973 verkauften die Geiger-Erben das Grundstück, der verwunschene Garten mit Erdbeerbeeten, Tagetes-Rabatten und Weißdornsträuchern wurde umgepflügt, und es entstand eine Anlage mit Wohnungen bis an den See.

Fotos (2): Privatarchiv H. R.

Ich klingelte beherzt an der tiefstgelegenen Tür und erklärte der etwas derangiert wirkenden Frau im Eingang, dass ich hier gewohnt habe und nun meine Kindheit verfilme. Sie war etwas verdutzt. Martin ließ die Drohne steigen. Gleich kam ein Mann, dem ich beflissen erzählte, wie hier alles früher ausgesehen habe. Ich war sehr besorgt, dass der Anwohner Martin die Drohne verbieten würde. Er hörte mir aber ganz geduldig zu, bis ich merkte, dass er kaum Deutsch verstand und hier nur der Packer des offenbar gleich stattfindenden Umzugs war.

Foto: Trueffelpix/Shutterstock

Natürlich kam ich mir sofort etwas blöd vor, aber dann fuhren wir weiter zum Hasensprung. Seine Brücke verbindet den Koenigssee mit dem Dianasee, und die zwei Hasen auf den beiden Geländern sind nicht nur Teil meines Schulweges gewesen, sondern meiner ganzen Kindheit. Hier bin ich im Winter den Hang zum See hin heruntergerodelt, hier habe ich im Herbst im welken Laub getobt. Die Sommer waren so lang, und ich war so jung. Überall auf der Welt gibt es Villengegenden mit Baumbestand. Aber so traumverloren stille Straßen, so tröstliche Trauerweiden am Wasser, so verschnörkelte Herrschaftshäuser in lauschigen Gärten, solch geheimnisklares Rauschen zwischen den Dächern gibt es nur hier. Nur hier sind die Zweige der Bäume so kunstvoll miteinander verknüpft, dass sie alle zusammen ein dichtes Netz bilden, durch das Tausende von Lichtern perlen, auf die flachen Wellen, auf die breiten Sträucher, nur hier duften die Blumenbeete und klingen die Vögel wie schon immer, und immer weiter. Nur hier, nur hier. Nie mehr rochen die Studentenblumen so streng, schmeckten die Johannesbeeren so sauer, waren die Jahre so süß. Nie mehr.

Gegenüber meinem Kindheitsgarten gibt es eine kleine Grünfläche, einen Mini-Park, am See, von dem aus Martin unsere Drohne über meine Kindheit, oder was davon geblieben war, gleiten lassen konnte, und ich wirklich gemessen dort umherschritt, wo ich als kleiner Junge den Tag durchtrippelt hatte.

Die Schule in der Delbrückstraße, die katholische Kirche ihr gegenüber und die beiden Sphinxen an der Bismarckallee hatten wir schon ausgiebig für ‚Halbzeit ’83‘ gefilmt, nun fehlte bloß noch mein ‚Kindergarten‘, heute heißt so etwas abkürzlerisch ‚Kita‘. Er lag, und liegt immer noch, stadteinwärts an der Koenigsallee, und ich fürchte mich schon vor dem Anblick der Aufnahmen, für die ich alter Mann vor dem langgestreckten Backsteinhaus posiere. Drolligerweise ist das Gebäude weiterhin Kinderhort, aber außerdem auch Alten-Tagesstätte. Passt doch!

Damals ging ich nicht gern dorthin, musste aber. Ich war ja nun mal ein Einzelkind geblieben und das sollte irgendwie ausgeglichen werden. „Berliner Kindl“ nannten mich meine Eltern. Das schmeichelte mir. Eine Entdeckung, die ich erst viel später machte, fand ich dagegen ehrenrührig: ,Schmargendorf‘ steht auf meinem Geburtsschein von 1946, und auf meinem Abiturzeugnis von 1965 stand es genauso: ‚Schmargendorf‘. Nichts als ,Schmargendorf‘.

Ich war entrüstet und unternahm wie meistens – nichts: nichts gegen die zum Teil unnachvollziehbaren Zensuren – gegen die überraschend erfreulichen sowieso nicht – und nichts gegen die Verknappung meiner Geburtsstadt auf den Sitz des Bezirksamtes. Dabei habe ich mich aus einer Reihe von Gründen niemals unter dem Begriff ,Deutscher‘ abgehakt, wohl aber als Berliner gefühlt. Wer im Länderspiel gewann, war mir egal, aber wie in Berlin abgerissen, gebaut und gelebt wurde: Es war mir wichtig. Das zerstörte, geteilte, umzingelte, trotzige, kämpferische, komische, überkandidelte, geschmacklose Berlin galt mir als gespenstisches Abbild und als leuchtendes Ideal – Ost wie West. Beides stand für beides: hell und dunkel – klar und verschwommen. Früh erfuhr ich: Mein Vater war irgendwo in der sächsischen Provinz geboren, meine Mutter in noch abgelegenerer Gegend („im Polnischen“), ich jedoch hatte aus rätselhaften, aber sehr spannenden Gründen als Erstes ein Licht erblickt, das in Berlin angeknipst worden war.

Foto: Privatarchiv H. R.

22 Kommentare zu “#1.5 Einzelkind

  1. Da wird aber doch kurz der Pedant in mir wach: Kita und Kindergarten sind ja doch nicht ganz dasselbe. Die Kita ist eher eine spezielle Unterform, nämlich ein Kindergarten mit Ganztagsbetreuung.

  2. Dass man früher ohne Fernsehen aufgewachsen ist, ist heutzutage wirklich fast unvorstellbar. Mittlerweile hat spätestens jeder Grundschüler ein Handy in der Tasche. Irgendwie kein wirklicher Fortschritt.

      1. Durch’s Internet werden die Kinder allerdings (wie wir alle) weitaus mehr Information und damit auch potentiellen Gefahren ausgesetzt. Als ich Kind war konnte man keine Enthauptungen im Netz sehen. Und auch keine Pornos. Etc…

      2. Man kann Handy allerdings auch mit einer Kindersicherung ausstatten um den Zugriff auf bestimmte Webinhalte, In-App-Käufe zu unterbinden usw. Völlig schützen kann man seine Kinder natürlich nie.

  3. Ein echtes Berliner Kindl. Erfahren wir trotz ihrer Liebe für Berlin und den ganzen Reisen denn auch einmal mehr über ihr Hamburger Leben? Oder habe ich den Teil als später Blogeinsteiger einfach verpasst?

    1. Späte Blogeinsteiger können ja alles „nach“lesen. Der Hamburger Alltag kommt in den Reisebeschreibungen höchstens mal als Gegensatz vor. Es gibt aber genügend HH-Material, das ich, wenn die Reisen weggegessen sind, einschleusen kann.

      1. Na das stimmt auch wieder. Wer sagt denn überhaupt, dass immer alles brandaktuell sein muss?! Ich clicke mich bei Gelegenheit mal durch den Lesesaal…

    1. Oh wie toll! Zumindest wenn die auch tatsächlich zusammen arbeiten. Solche Begegnungen sind doch für beide Seiten nur bereichernd.

    1. Wer sich gern in Gefahr begibt, kommt darin um, schrieb Jesus ben Sirach. Das Gern wird oft weggelassen, ist aber wichtig. Wer sich gar nicht in Gefahr begibt, stirbt häufig später, hat aber weniger zu erzählen.

      1. Da ist dann die Frage ob man einfach alt geworden ist oder tatsächlich gelebt hat.

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